Es gibt einige verlässliche Sommerlochdebatten, die stetig wiederkehren. Dazu gehört auch die Befürchtung einer "Noteninflation", wie sie vom Lehrerverband kürzlich wieder aufgestellt wurde. Zentral geht es dabei (natürlich) um das Abitur, dem die "Entwertung" durch immer bessere Abschlüsse drohe. Der Lehrerverband hat auch die entsprechenden Zahlen im Gepäck: in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Eins-Komma-Abschlüsse gestiegen. Diese Zahlen anzuzweifeln ist wenig sinnvoll; die Beliebtheit der normierten Abschlussprüfungen ergibt sich ja gerade aus ihrer scheinbaren Objektivität, Überprüfbarkeit, Vergleichbarkeit und Verlässlichkeit. Auch die Kultusministerien leugnen die Zunahme an Einser-Abschlüssen nicht; naturgemäß sehen sie die Ursache in besserer Förderung der Schüler*innen. Ich möchte gleich zu Beginn deutlich machen, dass mich diese Debatte nervt und ich sie für falsch halte. Ich hatte in Reaktion auf die Meldung einen polemischen Tweet abgesetzt:

Wenn ich morgen Zeugnisse ausgebe, soll ich dann meiner Schülerin mit dem Preis für den Schnitt von 0,9 sagen, dass sie den wegen der Noteninflation nicht verdient hat? Will mich nur absichern.

— Stefan Sasse 🇪🇺 (@StefanSasse) July 29, 2025

Ich hatte nicht erwartet, dass er große Reaktionen auslösen würde, aber Axel Flasbarth hat interessiert nachgefragt:

Wirklich nur aus Interesse: Wie gewährleisten Sie denn, dass Ihre Benotung einer "großen" Normalverteilung genügt, sodass es keine Inflation gibt?

— Axel Flasbarth (@AxelFlasbarth) July 29, 2025

Ich habe im weiteren Tweetverlauf versucht, eine rudimentäre Antwort zu geben, aber das ganze Thema ist deutlich komplexer, als dass ich es in einem kurzen Twitterthread abspielen könnte. Das liegt unter anderem daran, dass die Kritiker*innen hier mit einer Reihe von Prämissen arbeiten, die zwar weithin geteilt werden, aber nicht unumstritten noch zwingend sind. Diese Annahmen sind:

  • Die Notengebung (besonders die Abiturergebnisse) ist grundsätzlich objektiv und eine Wiederspiegelung der Fähigkeiten der Schüler*innen
  • Noten müssen eine Normalverteilung ergeben
  • Der Zweck des Gymnasium und Abiturs ist die Vorbereitung auf ein akademisches Universitätsstudium
  • Fachlich schwierige Fragestellungen sind zuverlässige Indikatoren für das Niveau eines Tests
  • Gymnasien sollten eine Elitenauswahl bilden und dadurch homogenere Lerngruppen bilden

Nimmt man diese Prämissen an, so ist die Kritik des Lehrerverbands (und darin federführend der Philologen, die nur eine von zwei Lehrergewerkschaften sind, und die deutlich konservativere von beiden) nicht unzutreffend. Die Faktoren bedingen sich hier gegenseitig.

Aber bleiben wir zuerst bei der Faktenlage. Gibt es eine Steigerung der Abiturdurchschnitte? Die Antwort ist ein klares "ja", wenngleich die Beschreibung steigender Schnitte als aktueller Trend falsch ist: seit zwei Jahren sinken die Schnitte und sind mittlerweile wieder auf dem Vorpandemieniveau angekommen (die Pandemie hatte eine deutliche Steigerung mit sich gebracht). Ob der Trend weitergehen oder sich stabilisieren wird, ist aktuell nicht absehbar. Zudem sind diese Ergebnisse, dem deutschen Bildungsföderalismus sei dank, sehr ungleich verteilt sind. Dabei sind gar nicht die üblichen Verdächtigen aufzufinden. Baden-Württemberg und Bayern etwa finden sich mit 11-12% Abiturnoten besser als 1,5 im Mittelfeld des Trends - genauso wie Berlin, das für Schreckensnachrichten aller Art sonst ja gerne herhält. Stattdessen sind es Thüringen und Sachsen, die die Inflation mit 14-16% anführen. Demgegenüber finden sich am Boden dieser Verteilung Niedersachsen und Schleswig-Holstein mit 8-9%. Das sind sehr deutliche Unterschiede, die auch eine eigene Erklärung fordern.

Die mangelnde Vergleichbarkeit über Bundesländer hinweg lässt sich gut mit dem Beispiel Mathematik erklären, wo Mecklenburg-Vorpommern seit vielen Jahren deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegende Schnitte aufweist. Inzwischen hat sich dieser Trend weitgehend eingeebnet – dank “verständlicher formulierter” Aufgaben. Was war geschehen? In den meisten Bundesländern können Schüler*innen in einem Wahlteil ein Spezialgebiet bearbeiten, auf das sie sich natürlich auch speziell vorbereiten konnten. Zudem waren ihre Aufgaben "verständlicher" formuliert - was auch immer das heißt, ich bin kein Mathematiker, aber auf jeden Fall "anders". Allein dieses Beispiel zeigt also schon, wie vorsichtig man beim Vergleich sein muss.

Auch sollte man aufpassen, nicht bessere Ergebnisse mit gesunkenem Anspruch zu verwechseln. Die Verteidigung der Kultusministerien, es habe bessere Förderung stattgefunden, ist empirisch schwierig nachweisbar, aber nicht komplett unplausibel. Dahinter verbirgt sich letztlich eine stärkere Ausrichtung des Unterrichts auf die Prüfungen. Ich habe eine gewisse Sympathie für diese Erklärung, weil mein Unterricht - ohne Input des Kultusministeriums, möchte ich anmerken - in den letzten Jahren eine wesentliche Neuausrichtung auf das Abitur erfahren hat. Damit meine ich nicht, dass ich davor den Prüfungsstoff oder die Prüfungsmodalitäten nicht unterrichtet hätten, sondern dass die Vorbereitung auf die Prüfung wesentlich mehr Unterrichtszeit einnimmt als früher. Und weil es nichts umsonst gibt, geht das zulasten von anderen Elementen, etwa "Orchideenthemen" des Bildungsplans, Projektarbeiten abseits der Abiturtauglichkeit und so weiter. Das ist auch keine Bewegung, die ich von oben aufoktroyiere, sondern entspricht gleichzeitig einem geänderten und fordernderen Anforderungsprofil der Schüler*innen und Eltern, die ebenfalls merklich mehr Gewicht auf die Prüfungsvorbereitung legen. Eine Empirie dafür gibt es zumindest: den massiv gestiegenen Markt für Nachhilfe.

Man kann das nun gut oder schlecht bewerten, aber es ist ein Fakt. Gleichzeitig übrigens verwehre ich mich der Ansicht, das Abitur sei irgendwie leichter geworden. Ich bin mittlerweile seit deutlich über einem Jahrzehnt Lehrer, und in den zwei großen Aufgabenreformen, die ich seither mitgemacht habe, sind zumindest meine Fächer anspruchsvoller geworden - jedenfalls, was die Aufgabenstellung angeht. Inwiefern sich das in den Bewertungen niederschlägt, ist daraus noch überhaupt nicht abzusehen. Und das führt uns zur ersten Prämisse.

Die Notengebung (besonders die Abiturergebnisse) ist grundsätzlich objektiv und eine Wiederspiegelung der Fähigkeiten der Schüler*innen

Noten sind alles, aber nicht objektiv. Unterschiedliche Lehrkräfte benoten dieselben Arbeiten unterschiedlich. Wir haben nicht umsonst Zweit- und Drittkorrekturen, um diese Ergebnisse herauszumitteln. Dazu kommen Tagesverfassung, Temperament und philosophische Unterschiede. Genauso wie die Frage, ob der eigene Gerichtstermin vor oder nach dem Mittagessen liegt, mit über die Haftstrafe entscheidet, genauso hängt die Abiturnote oft genug daran, in welcher Stimmung die jeweils Prüfungen gerade sind. Ich hatte schon genug mündliche Prüfungen, deren Ergebnisse - inklusive der Frage nach dem Bestehen des Abiturs - maßgeblich von den Mitprüfenden abhing. Absolvent*innen, die in der einen Prüfungskonstellation durchfielen, wären in der anderen mit exakt demselben Ergebnis durchgekommen. Deswegen sollte man sehr vorsichtig sein, die Noten als objektive Werte zu betrachten - und das sind die hyperkontrollierten Prüfungsumgebungen für das Abitur. In den normalen Leistungsfeststellungen - Klausuren, Referate, mündliche Noten, etc. - gilt das noch in vielfachem Maße.

Zudem messen Noten auch immer nur das, was die jeweilige Prüfung misst. Wer also ein "gutes" Geschichte-Abi schreibt (sagen wir, 12 Punkte), der hat bewiesen, dass er am Tag der Prüfung die jeweiligen Anforderungen besser als erwartet meistern konnte. Nicht mehr, nicht weniger. Was diese Anforderungen genau über die Geschichtskenntnisse und -fähigkeiten aussagen, ob die Person viel mehr zu einem anderen Thema hätte sagen oder an einem anderen Tag eine bessere Performance abgeliefert hätte, werden wir nie erfahren. Prüfungen dieser Art sind eine reine und überaus künstliche Momentaufnahme. Es gibt allerlei gute Argumente für Prüfungssituationen, von Resilienz über Konzentration und vieles mehr. Aber man muss sich immer klar machen, dass sie nur eine Momentaufnahme sind, die nicht zutreffend sein muss. Noten sind also mit Vorsicht zu genießen.

Noten müssen eine Normalverteilung ergeben

Unter einer Normalverteilung versteht man die glockenartige Verteilung auf einem Graphen, also wenige sehr gute und sehr schlechte und viele mittlere Leistungen. Es scheint intuitiv eingängig, dass die Noten im Mittel (nicht in jeder Leistungsfeststellung jeder Klasse, aber im Mittel) auf diese Normalverteilung hinlaufen. Dahingehend war ja auch Axels Frage, und auf dieser Unwucht durch eine fehlende Normalverteilung beruht ja auch die Kritik an der "Noteninflation".

Das ist aber ein Problem, weil es Verbesserungen wie Verschlechterungen eigentlich nicht zulässt. Idealerweise lernen die Schüler*innen ja durch den Unterricht dazu (wie die Kultusministerien ja als Erklärung mit ausgegeben haben). Wenn aber am Ende zwingend eine Normalverteilung stehen muss und ich durch ein Anpassen des Bewertungsrasters dem nachzukommen habe (wenn alle besser werden, kann ich ja einfach die benötigten Punkte für eine gute Leistung anheben, bis Normalverteilung hergestellt ist), dann ist am Ende für die Schüler*innen als Kollektiv eine Verbesserung sinnlos. Sie sind ein wenig wie Akkordarbeitende: wenn sie sich anstrengen, wird der Maßstab erhöht, so dass ihre höhere Leistung das neue Normal wird.

Umgekehrt (auch wenn das natürlich niemand explizit fordert) müsste ich den Notenschnitt anheben, wenn ein Underperformen stattfindet, was ja auch nicht im Sinne des Erfinders sein kann. Auch hier gilt: der Maßstab ist kein Wert an sich. Wenn die Normalverteilung nicht gegeben ist, dann wäre viel eher die Frage zu stellen, warum das so ist - ergebnisoffen, ohne die wertenden Prämissen und Begriffe rund um die "Noteninflation".

Der Zweck des Gymnasium und Abiturs ist die Vorbereitung auf ein akademisches Universitätsstudium

Frühertm war der Zweck eines Abiturs die Erlangung der allgemeinen Hochschulreife, sprich: die Vorbereitung auf ein Universitätsstudium. Entsprechend war der Stoff gestaltet, und entsprechend eng die Verzahnung zwischen den Universitäten und den Schulen an dieser Stelle. Diese Prämisse ist etwa an der Forderung des Philologenverbands, das Abitur und die Oberstufe stärker auf die Anforderungen der Universität auszurichten, gut erkennbar. Und wenn man diese Prämisse akzeptiert, so kann man ziemlich sicher sagen: ja, das Abitur bereitet nicht mehr so gut wie früher auf das Universitätsstudium vor. Die Universitäten müssen immer häufiger Wissens- und Kompetenzlücken (relativ zu früheren Kenntnisständen) anpassen.

Das aber hat mehrere Ursachen, die gerne unter den Tisch fallen gelassen werden, wenn diese Kritik im Kontext eines "Qualitätsverfalls" betrachtet wird. Denn die Schulen haben zwar durchaus Fachwissen aus den Bildungsplänen gestrichen, das frühertm noch darin enthalten war und das die Universitäten dort immer noch gerne sehen werden. Gleichwohl sind aber Unmengen neuer Anforderungen hinzugekommen, die in einer insgesamt begrenzten (aber gegenüber frühertm ebenfalls erhöhten!) Unterrichtszeit abgebildet werden müssen.

Ein Klassiker dafür sind die Präsentationskompetenzen. Zu meiner eigenen Schulzeit begann der Trend, Präsentationen aller Art in den Unterricht zu integrieren. Die GFS ("gleichwertige Feststellung von Schülerleistungen") sind dafür das am besten greifbare, aber bei weitem nicht einzige Format. Als ich das Studium begann, waren Fähigkeiten im Umgang mit Powerpoint und basale Präsentationskompetenzen noch dünn gesät. Inzwischen ist das völliger Standard. An den Schulen lernen die Kinder in eigenen Fächern den Umgang mit der Office Suite, und in vielen Fächern sind Präsentationstechniken in jedem Schulcurriculum integriert. Daran hängt auch ein Rattenschwanz von Recherche- und Strukturierungskompetenzen, die in der Zeit des Faktenbüffelns alle noch nicht gefragt waren. Hier hat sich also weniger ein Verfall als eine Verschiebung ereignet, mit der alle Akteure umgehen müssen.

Dazu kommt, dass immer mehr Gymnasiast*innen für sich gar kein Universitätsstudium anstreben, sondern stattdessen in das Duale Studium, ein Hochschulstudium oder in Ausbildungen gehen. Und dazu kommt der Trend, nach dem Abitur ein soziales Jahr, eine größere Reise oder andere Selbstfindungsphasen durchzumachen, die die Abiturnote als Indikator für Universitätserfolg immer weniger relevant machen.

Fachlich schwierige Fragestellungen sind zuverlässige Indikatoren für das Niveau eines Tests

Ich habe im Kontext der mecklenburg-vorpommerischen Matheprüfungen bereits anklingen lassen, dass die Fragestellungen selbst für das Ergebnis von großer Bedeutung sind. Sieht man auf Tests und Klausuren von frühertm, stellt man gerne einmal fest, dass diese viel schwieriger waren als heutige. Das kann aber stark täuschen, denn die Vorbereitung auf Tests spielt eine entscheidende Rolle und lässt sich am Test selbst oft nicht erkennen. Was meine ich damit? Je mehr ich die Auswahl möglicher Fragegegenstände limitiere, desto schwieriger kann ich die eigentlichen Fragen machen. Ein Beispiel: ich habe in den letzten Jahren meine Geschichteklausuren radikal umgestellt. Anstatt wie früher eine Bandbreite von Themen aus dem letzten Halbjahr abzufragen ("Nenne drei Elemente der Gleichschaltung", "Erkläre anhand eines selbstgewählten Beispiels die NS-Ideologie", "Charakterisiere die Kriegführung des Zweiten Weltkriegs", "Interpretiere die Karikatur von Hindenburg", "Vergleiche die beiden Quellen aus der Revolution von 1918/19"), gebe ich den Schüler*innen den Stoff genau zweier Doppelstunden (etwa: Gleichschaltung und NS-Ideologie) vor und bringe genau eine Quelle als Aufgabe, die sich auf eines der beiden Themen bezieht. Die anfängliche Begeisterung darüber, wie "leicht" das ist und wie "wenig man lernen muss" weicht sehr schnell der Ernüchterung, dass ich natürlich an die folgende Quelleninterpretation ganz andere Maßstäbe anlegen kann als wenn es nur ein Quellenschnippsel und eine von zehn Aufgaben ist. Auch hier also ist Vorsicht geboten, bevor mal vorschnell Schlüsse zieht.

Gymnasien sollten eine Elitenauswahl bilden und dadurch homogenere Lerngruppen bilden

Frühertm war das Gymnasium unzweifelhaft eine Elitenschmiede. Gingen zu Beginn der bundesrepublikanischen Geschichte noch ein niedriger einstelliger Prozentwert aller Jungen und nur sehr wenige Mädchen überhaupt auf das Gymnasium, die alle den oberen Gesellschaftsschichten entprangen, sind es heute über 30%, mit steigender Tendenz. Über den zweiten Bildungsweg kommen weitere 10-15% an eine Abitur Wie Jan-Martin Wiarda schrieb, wird das Gymnasium mehr und mehr zur Gesamtschule. Je mehr Schüler*innen aber das Gymnasium besuchen, desto heterogener wird die Schüler*innenschaft - und desto heterogener die Bedingungen im Klassenzimmer, die die ohnehin bereits nicht bestehende Objektivität bei Noten vollends zur Farce werden lassen.

In diesen Kontext gehört, so vermute ich, auch die Klage um die abnehmende Fähigkeit der Schüler*innen (im Aggregat), komplexe Texte zu verstehen. Dass die Schüler*innen dazu nicht gut in der Lage sind, ist zweifellos korrekt - meine elften Klassen etwa scheitern regelmäßig daran, den Inhalt von SpiegelOnline-Artikeln korrekt zu erfassen; feuilletonistische Kolumnen sind völlig außer Reichweite. Bis zum Abitur dürfte grob die Hälfte dazu in der Lage sein. Gut, ich bin am beruflichen Gymnasium, da ist die Auswahl nochmal etwas anders als am klassischen allgemeinbildenden Gymnasium. Aber: Grundsätzlich ist das angesichts des allgemeinen Trends zu weniger Lesen, der völlig außerhalb der Schulen liegt, und der erwähnten Heterogenität keine Überraschung. Wenn immer mehr Kinder aus bildungsfernen Haushalten (auch, was eine große Leistung der Integration darstellt, aus migrantischen Milieus) das Gymnasium besuchen, nehmen solche Fähigkeiten im Aggregat zwangsläufig ab. Das kann aber paradoxerweise auch als Erfolg der Bildungspolitik gewertet werden, weil lauter Leute, die vor drei Jahrzehnten niemals ein Gymnasium von innen gesehen hätten, nun mit solchen Dingen konfrontiert werden - und manchmal an ihnen wachsen, manchmal aber auch daran scheitern.

Ein letzter Faktor ist der zunehmende Trend, das Gymnasium nach Klasse 11/12 (G8/G9) mit der Fachhochschulreife zu verlassen, weil man ohnehin nicht an einer Universität studieren will. In den letzten Jahren hat diese Option massiv an Bedeutung gewonnen (und macht den Schulen wegen des Schüler*innenschwunds in der Mitte der Oberstufe massiv Probleme) und wird natürlich eher von den schlechteren Schüler*innen gewählt, deren Ergebnisse dann in den Abiturnoten nicht mehr auftauchen. Wenn aber viele 3,X-Abitur gar nicht erst entstehen, weil die Leute vorher mit der Fachhochschulreife gehen, wird auch das einen notenhebenden Effekt haben. Erneut, die Noteninflation ist multikausal.

Fazit

Damit möchte ich aber den Bogen zu Axels Frage zurückschlagen. Ich hoffe, hinreichend deutlich gemacht zu haben, warum ich Normalverteilungen und Schnitte grundsätzlich skeptisch sehe und nicht zur Richtschnur meines Handels mache. Aber: meine Schnitte sind über die letzten Jahre nicht atemberaubend besser geworden. Meine Abiturnoten sind ziemlich im Rahmen der baden-württembergischen Landesschnitte (üblicherweise im 7-Punkte-Bereich, also 3,X), während meine Zeugnisnoten (also die Fachnoten) etwas überdurchschnittlich sind (üblicherweise im hohen 8er- oder niedrigen 9er-Bereich, also 2,5-3,0, selten einmal im 10er-Bereich, also 2,2-2,5). Da die Zeugnisnoten zwei Drittel der Abinote ausmachen, ist das natürlich nicht irrelevant.

Ich denke auch, dass die "Noteninflation" vor allem in den Fachnoten und nicht den Abiturprüfungen zu suchen ist. Ich denke, es gibt hier zwei Tendenzen: einerseits eine zu besseren Noten durch eine veränderte Mentalität der Lehrkräfte, andererseits aber auch tatsächlich gestiegene Konzentration der Schüler*innen auf die Prüfungsmodalitäten und Prüfungsleistungen.

Manche der beschriebenen Dynamiken und Effekte kann man bedauern und kritisieren, zweifelsohne. Aber eine "Noteninflation" zu postulieren und einige unausgesprochene Prämissen mit viel Chauvinismus über eine nostalgisch verklärte eigenen Schulzeit zu verrühren, ist wenig Erkenntnis fördernd.

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