Unsere Lebenszufriedenheit und unsere Pläne für die Zukunft werden von einem entscheidenden Faktor bestimmt: Unseren Erinnerungen. Die sind oft verzerrt, können aber auch bewusst beeinflusst werden.

Auf eine fundamentale Art und Weise besteht unser Leben aus den Erlebnissen und Momenten, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten.

Diesen wichtigen Punkt macht Oliver Burkeman in seinem Buch “4000 Wochen”:

“[Y]our experience of being alive consists of nothing other than the sum of everything to which you pay attention. At the end of your life, looking back, whatever compelled your attention from moment to moment is simply what your life will have been.” (Oliver Burkeman in “4000 Weeks”, Teil I / Kapitel 5)

Aber diese Darstellung übersieht einen entscheidenden Aspekt: Schon kurz nach einem Erlebnis beginnt unser Gehirn, das Erlebte zu reduzieren, zu verzerren und in eine Geschichte, ein Narrativ einzubetten.

Was langfristig bleibt - und woraus unser Leben schlussendlich besteht - ist nicht die Gesamtheit aller Momente, die wir bewusst erlebt haben. Es sind die Erinnerungen, die wir abrufen können.

Vergangene Ereignisse, an die wir uns nicht erinnern können, prägen uns womöglich auf einer unterbewussten Ebene. Aber in Hinblick auf unsere Lebenszufriedenheit und unsere Pläne für die Zukunft sind unsere Erinnerungen der entscheidende Faktor.

Unser Gehirn ist dabei ein enger Flaschenhals: Unsere Erinnerungen sind regelmäßig enorm verzerrt, unvollständig oder geradezu irreführend.

Aber diesen Umstand kann man sich zunutze machen, um die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben zu erhöhen.


Das erlebende und das erinnernde Ich

Mein letzter routinemäßiger Zahnarzt-Besuch hielt eine unerfreuliche Überraschung bereit: Zwischen einem Weisheits- und einem Backenzahn musste gebohrt werden.

Nun gut, hilft ja nichts: Betäubungsspritzen rein, Augen zu und durch.

Würde man mich mitten in der laufenden Behandlung fragen, wie angenehm oder unangenehm die Erfahrung sei, würde ich sagen:

“Eff ‘ehk so. Könnke beffa fain.”

Dann würde die Zahnärztin vielleicht kurz die Instrumente aus meinem Mund nehmen und ich könnte vernünftig antworten, dass die Bohrerei wirklich nicht zu meinen Lieblings-Erlebnissen gehört.

Diese Moment-Aufnahmen während einer Reihe von Erlebnissen werden laut der Forschung von Daniel Kahneman und Kollegen vom “experiencing self” (etwa: “das erlebende Ich”) registriert. Dieses erlebende Ich ist es, das Burkeman in dem Zitat oben meinte: In diesem Modus leben wir in der Gegenwart, richten unsere Aufmerksamkeit auf einzelne Erlebnisse und fühlen alles, was an Emotionen denkbar ist.

Glücklicherweise ist meine jetzige Erinnerung an die gesamte Behandlung aber alles andere als dramatisch - und das ist durchaus relevant, denn ich soll ja auch weiterhin ein bis zwei Mal im Jahr zum Zahnarzt gehen.

Die Entscheidung, ob ich das tun werde, trifft laut Kahnemann das sogenannte “remembering self” (etwa: “das erinnernde Ich”). Das ist der Modus, in dem wir uns an frühere Erlebnisse erinnern und ein Narrativ über unser Leben zusammenstellen. Auf dieser Grundlage treffen wir auch Entscheidungen für die Zukunft.

Wäre mein Zahnarzt-Termin eine einzige Folter gewesen und ich wäre völlig verstört und mit Schmerzen aus der Praxis gekommen, hätte mein erinnerndes Ich wahrscheinlich beschlossen, dort so bald nicht wieder aufzutauchen.

Doch glücklicherweise hatte ich quasi keine Schmerzen, habe mit der Zahnärztin und ihrer Assistentin blöde Witze gemacht und konnte mich im Anschluss an den Termin prächtig über die Taubheit meiner Gesichtshälfte amüsieren.

Die Gipfel-Ende-Regel

Entscheidend dafür, wie wir uns an eine Episode in unserem Leben erinnern, sind laut Kahneman und seinen Mitforschern zwei sogenannte “snapshots” [1], die sie in der sogenannten "peak-end rule" festgehalten haben:

Unser erinnerndes Ich merkt sich insbesondere den Höhe- bzw. Tiefpunkt und/oder das Ende einer Erlebnis-Kette. [2]

Deswegen sind Frauen überhaupt bereit, mehr als ein Kind zur Welt zu bringen: Weil das wundervolle Ende - zugleich auch der Höhepunkt des Geschehens - die Qualen der vorherigen Prozedur (zusammen mit einem kräftigen Hormon-Cocktail) weitgehend überlagert.

Deswegen ruiniert eine hässliche, schmerzhafte Trennung die (Erinnerung an die) beendete Beziehung, selbst wenn die Jahre zuvor voller wunderbarer Momente waren.

Deswegen werde ich im kommenden Jahr wieder zur selben Zahnärztin gehen.

Erinnerungen formen - Zufriedenheit steigern

Beide Forschungsergebnisse von Kahneman - sowohl die Unterscheidung zwischen erlebendem und erinnerndem Ich als auch die Gipfel-Ende-Regel - kann man nutzen, um die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben zu erhöhen.

Das aktuelle Großprojekt meiner Frau und mir - die Renovierung des Hauses, das wir gekauft haben - ist für mein erlebendes Ich eine einzige Ansammlung unerfreulicher Tätigkeiten: Große Geldsumme zusammen suchen und überweisen, anstrengende Arbeiten erledigen, ständig neu hinzukommende Teilprojekte einplanen, den Familienalltag in einer Baustellen-Umgebung einigermaßen erträglich gestalten.

Aber ich weiß, dass mein erinnerndes Ich in einigen Jahren völlig entspannt auf diese Zeit zurückblicken wird, solange es auf einige positive Höhepunkte sowie ein angenehmes Ende zurückgreifen kann.

Also schreibe ich in mein Tagebuch insbesondere die positiven Erfahrungen - Erfolge, produktive Tage, spaßige Momente - und garniere die Eintragungen mit Fotos. Auf diese Weise fließen insbesondere diese angenehmen Erlebnisse in meine Erinnerungen ein und beeinflussen das spätere Gesamt-Narrativ. [3]

Und auf jeden Fall werden wir nach Abschluss der größten Renovierungen eine ordentliche Party schmeißen und diese Phase dadurch sehr positiv ausklingen lassen.

Mit dem Wissen um diese Erinnerungs-Verzerrungen kann man also ein Stück weit beeinflussen, wie man auf das eigene Leben zurückblickt:

  • Unerfreuliche Urlaube oder Verwandten-Besuche lassen sich mit einem positiven Abschluss-Erlebnis “aufhübschen” (Burger King-Eskalation auf der Rückfahrt!)
  • Das regelmäßige Festhalten und erneute Betrachten von Momenten, Menschen und Dingen, für die man dankbar ist, prägen die spätere Erzählung zu dieser Lebensphase.

Unser Gehirn prägt unseren Blick uns auf unser Leben. Aber wir können mitbestimmen, auf welcher Grundlage es das tut.


[1] siehe Forschung zum “snapshot model of remembered utility” von Barbara Fredrickson und Daniel Kahneman

[2] Für die besonders Wissbegierigen: Einige der relevanten psychologischen Effekte dahinter heißen representativeness heuristic, duration neglect und extension neglect.

[3] Natürlich blende ich unerfreuliche Momente oder lehrreiche Fehler nicht aus. Auch die behandle ich in meinem Bullet Journal. Aber sie bekommen weit weniger Platz und Aufmerksamkeit als die positiven Erlebnisse.


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