Opernkritik Die belanglose Neuinszenierung des „Ring des Nibelungen bei den Bayreuther Festspielen ist ein Fanal für die Krise der bürgerlichen Musikkultur.

Schon als diese Neuinszenierung von Wagners „Ring des Nibelungen“ von Valentin Schwarz im Vorfeld als „Netflix-Ring“ durch die Medien ging, überfiel einen eine ungute Vorahnung. Denn diese Neigung, aktuellen Trends hinterher zu hecheln, ist ein Symptom für das monumentale Missverständnis, das die klassische Musikkultur in den letzten Jahren vermehrt heimgesucht hat. Dass nämlich in der Senkung der Schwellen, im Anbiedern an den populären Mainstream der Schlüssel läge, um der klassischen Musik wieder mehr Relevanz zu verleihen.

Das ist ein fataler Irrtum. Ästhetisch relevant ist nur das eigene und originäre, alle Nachahmung hat den faden Geschmack des Sekundären und Gewerblichen. Richard Wagners eigene Karriere, die als großer Nachahmer von Rossini, Bellini, Meyerbeer, Auber und Weber begann, ist selbst geprägt von dieser, unter zahlreichen Niederlagen und Kämpfen gewonnen, Erkenntnis. Erst mit dem „Ring des Nibelungen“ ist Wagner vollkommen zu sich selbst gekommen, und die Schmiedeszene in „Siegfried“ ist nichts anderes als eine Allegorie auf eben diese Einsicht, dass Kunst erst dann beginnt, wenn ihr Schöpfer zu diesem Punkt der Verschmelzung und totalen Amalgamierung gelangt.

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Dabei wäre man fast dankbar gewesen, wenn man in Bayreuth zumindest solide Netflix Qualität erreicht hätte. Doch was in dieser Inszenierung der „Götterdämmerung“ zu sehen war, war zum größten Teil Boulevard Theater-Charge, garniert mit den üblichen spannungsfördernden TV-Serien Ingredienzien wie Sex und Gewalt, Drogen und Inzest, sowie, für das Moralisten-Feuilleton, ein wenig Gesellschaftskritik.

All die Einfälle und Zitate waren am Ende zusammengeschustertes Flickwerk, die in den besten Fällen atmosphärisch assoziativ, doch in den meisten Fällen einfach windschief waren. Die Idee etwa, dass die Kinder, oder allgemeiner, die Nachkommenschaft, der besagte „Ring“ sind, funktionierte an manchen Stellen durchaus, und ist natürlich angesichts der aktuellen Krisen eine populäre Botschaft, doch hat am Ende herzlich wenig mit Wagners Werk zu tun. Ähnliches gilt für das personifizierte Pferd Grane, das als Symbol für die geschundene Natur als geköpfter Kopf mit Brünnhilde in den Untergang gleitet.

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Es ist ja immer wieder erstaunlich, dass der monströse Egomane Richard Wagner einerseits das Lieblingshassobjekt der Kulturmoralisten ist, und ihm trotzdem immer wieder kapitalismuskritische und ökologiefreundliche Absichten unterstellt werden. Doch ist das vollkommen abwegig. Was an Wagners Werken,  - und insbesondere am „Ring des Nibelungen“,  von dem Wagner selbst sagte, dass er darin sein Innerstes preisgegeben habe - interessant ist, sind vor allem die narzisstischen menschlichen Abgründe, die insofern universell sind, da jeder Mensch, wenn auch noch so domestiziert und sozialisiert, sie in sich trägt.

Wer behauptet, er habe noch nie eine andere Frau oder einen anderen Mann als die oder den eigenen begehrt, oder nie davon geträumt wie es wäre reich, mächtig und berühmt zu sein, der lügt. Der „Ring des Nibelungen“ spielt eben jene verschiedenen Konstellationen von Macht und Sex vor dem Hintergrund von Wagners eigener Lebenserfahrung durch. Und dabei identifiziert sich Wagner keineswegs nur mit den heldischen Figuren, sondern ebenso mit den abgründigen. Ja erst in der Ambivalenz und Interferenz aller dieser Figuren entfalten sich die universellen allegorischen Psychogramme.

Das klassische Beispiel in der „Götterdämmerung“ ist die Siegfried-Gunther Konstellation. Dass Siegfried die Gestalt Gunthers annimmt ist ein typisches mythologisches Verfahren allegorischer Rekalibrierung. Siegfried, der die Halle der Gibichungen betritt, ist der Richard Wagner, der unter die Patronage Ludwigs II. fällt, und damit plötzlich reich und unabhängig wird, und damit auch gesellschaftlich in einen neuen Orbit gerät. Davon berauscht vergisst er alle alten Loyalitäten (auch die sozialistischen, statt sein Geld für gute Zwecke zu spenden, kaufte Wagner sich eine pompös ausgestatte Villa). War der Siegfried in „Siegfried“ der idealistische Künstler, der gegen den verkrusteten Drachen des künstlerischen Mainstream kämpft, ist der Siegfried, der in Gunthers Gestalt zu Brünnhilde zurückkehrt, der reich gewordene Großbürger, der plötzlich mit seiner künstlerisch bohemehaften Vergangenheit fremdelt.

In der Konstellation Siegried, Gunther und Hagen spiegelt sich das Spektrum maskuliner Macht-Impulse. Was analog in Stolzing, Sachs und Beckmesser in bürgerlich domestizierter Form Ausdruck findet, ist hier machtgetrieben auf die Spitze getrieben. Das künstlerische Genie (oder verallgemeinert, der selbstbestimmte Selfmade-Mann), das nur in Freiheit gedeihen kann, und für den sowohl die Ehe als auch die Festanstellung ein Gefängnis ist. Der Mann in Macht und Verantwortung, der seinen Status und Wohlstand genießt, jedoch durch gesellschaftliche Normen gefesselt, und dadurch ängstlich um seinen Ruf bedacht ist. Und der personifizierte Ehrgeiz, denn ohne Skrupellosigkeit und Ellenbogen kommt keiner an die Fleischtöpfe von Macht und Bedeutung.

Analog werden in den weiblichen Figuren gegensätzliche Arten des Eros exemplifiziert. Sexueller Eros in Gutrune, die eine Helena Figur ist, in der sich Macht und Luxus mit Attraktivität zu einem ultimativen Objekt vitalistischer Begierde verdichten. Und narzisstischer Eros des Selbstähnlichen bei Brünnhilde, die als Walküre (der germanischen Entsprechung der antiken Amazonen) im maskulinen Spektrum verortet ist, und sich in einer durch gemeinsamen Ehrgeiz getriebenen Lebenspartnerschaft verwirklicht (mit „Zu neuen Taten teurer Helde“ treibt sie Siegfried förmlich aus dem Haus).

Brünnhilde, die die eigentlich die Hauptfigur der „Götterdämmerung“ ist, und die Handlung der Oper eröffnet und beschließt, ist nicht weniger ein narzisstisches Monster wie Siegfried und in ihrer rasenden Destruktivität, mit der sie zunächst dessen Tod fordert und dann die ganze Welt in Brand steckt, scheinen mythische Figuren wie Medea, Phädra und Dido durch.

Der „Ring des Nibelungen“ ist Wagners große Welt-Parabel auf die Mechanismen der Macht, und die „Götterdämmerung“ ist die Exemplifikation der dunklen und dekadenten Spätphase, in die jede Machtkonstellation, seien es Weltreiche oder Geschäftsgebilde, irgendwann abgleiten, bevor sie ihrem Untergang entgegen gehen. Wozu es etliche Beispiele vom römischen Kaiserreich bis zu Hitlers Nazideutschland gibt.

Der Ring ist das Symbol von Macht in einem durchaus spezifischen Sinn, als Fixpunkt eines durchaus volatilem Weltgeist, in dem sich die zeitgeistigen Paradigmen einer Epoche bündeln. Ökonomische und institutionelle Macht (für die Alberich und Wotan stehen) sind nur die Mittel dazu. Worum es eigentlich geht ist Größe und Bedeutung, narzisstische Erfüllung. Was man auch an den Alberichs unserer Tage beobachten kann, denen es wie Bill Gates, Elon Musk oder Jeff Bezos, nicht mehr eigentlich darum geht, Geld zu verdienen, sondern sich in idealistischen oder transformativen Akten zu verwirklichen.

Musikalisch ist die „Götterdämmerung“, nach „Tristan und Isolde“ und „Meistersinger“ entstanden, ohne Zweifel die interessanteste Oper des Ring. Hatte Richard Wagner im Tristan alle Nuancen des vitalistischen Eros von der Ekstase bis hin zur Pein ausgekostet, und im den Meistersingern die Gefühlslagen des bürgerlich gemütvollen erkundet, steigt er in der „Götterdämmerung“ hinab ins Inferno der niederen Instinkte. Hass, Neid, Brutalität, die tief im animalischen Gedächtnis des Menschen verankerte Lust an Zerstörung und Vernichtung, all das wird von Wagner phänomenalem mimetischen Genie in seinen Schattierungen in Musik gegossen, wobei der Tritonus, jener „diabolus in musica“, eine zentrale Rolle spielt.

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Die Schwäche der meisten heutigen Wagner-Inszenierungen, und so auch dieser, ist, dass man sich den Ambivalenzen und Abgründen nicht mehr aussetzen will, sondern, um sich moralisch zu positionieren, immer wieder Figuren desavouiert und sie damit praktisch aus dem Spiel nimmt. Oder umgekehrt andere Figuren idealisiert und ihnen ihre Abgründigkeit nimmt. Doch nur wenn man alle Figuren gleichermaßen in ihrem Appeal und ihren Abgründen ernst nimmt, stimmt das allegorische Equilibrium.

Wenn man schon Vergleiche mit populären TV-Serien anstellt, wäre Brünnhilde eigentlich eine Cersei Lannister (aus „Game of Thrones“) oder Claire Underwood (aus „House of Cards“). Und man könnte eigentlich alle Unstimmigkeiten der Inszenierung leicht verschmerzen, wenn nur die Darstellerin der Brünnhilde eine entsprechende Ausstrahlung hätte. Doch Iréne Theorin singt zwar ordentlich, doch mit ihrem großtantenhaftem Charme ist sie leider Lichtjahre von dieser Figur entfernt.

Ähnliches gilt für Clay Hilley, der sich sängerisch durchaus ansehnlich schlägt, doch leider ebenso wenig autoritäre Ausstrahlung hat. Denn Siegfried hat wiederum durchaus gewisse Ähnlichkeit mit Tony Soprano, der auch zwischen Gewaltexzessen und sexuellen Eskapaden auf der einen Seite und seiner Verantwortung als Mafiaboss und Familienvater psychologisch aus dem Gleichgewicht gerät. Dabei ist auch Tony Soprano kein Adonis, doch verströmt eben die Aura eines Machtmenschen, die auch ein Siegfried braucht, den man ernst nehmen soll.

Michael Kupfer-Radecky und Elisabeth Teige als Gunther und Gutrune waren leider chargenhaft verpfuscht, doch auch vokal nur durchschnittlich. Der einzige, der eine echte glaubwürdige Ausstrahlung vermittelte, war Albert Dohmen als Hagen, auch wenn er nicht alles Potential ausschöpfte, das in der Hagen Rolle liegt. Die minimalistisch ausgestatte Szene mit Alberich sowie seine Szene mit Siegfried im dritten Akt, machten theatralisch am meisten Eindruck.

Die Leitung von Cornelius Meister war alles in allem solide. Er hatte das Orchester durchaus im Griff. Doch ist die Tonträger Konkurrenz bei Wagner hart, und für einen Spitzenplatz reicht das lange nicht.

Der Ring ist musikalisch besonders heikel, da durch die ausgiebige Verschränkung der zahlreichen Leitmotive die Wahl des richtigen Tempos immer eine Gratwanderung ist. Oft war das Tempo zu schnell, so dass Motive nur noch gehaspelt werden konnten. Auch fehlte es oft an der allerletzten rhythmischen Festigkeit und der Fähigkeit, den Orchesterklang atmen zu lassen.

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Man kann nicht leugnen, dass die bürgerliche Kultur, die im 19. und 20. Jahrhundert Ring-hafte Bedeutung und Ausstrahlung hatte, dabei ist, diesen Einfluss zu verlieren. Was am Ende das Schicksal aller Kulturen ist.

Den Platz von Wagners „Ring des Nibelungen“ hat in gewisser Weise Tolkiens „Herr der Ringe“ eingenommen und für den größten Teil der Welt ist die kommende Amazon TV-Serie „Rings of Power“, die teuerste TV-Serie aller Zeiten und Prestige Projekt von Jeff Bezos, das größte aktuelle Kulturereignis. Bezeichnender Weise handelt es sich dabei bereits selbst um ein kommerzielles Nachahmer-Projekt, das an die Erfolge der Peter Jackson Filme und der „Game of Thrones“ TV-Serie anzuknüpfen versucht, womit es vollkommen den aktuellen Paradigmen des Marken- und Franchise-Denken des modernen Medienkapitalismus entspricht.

Es ist daher auch verständlich, dass man in der Oper gleichsam wie Gunther neidisch auf die aktuelle Serienkultur als Ring-hafte Verkörperung von Relevanz und Bedeutung blickt. Doch wird man darin ebenso wenig wie Gunther sein Heil finden. Nur im Selbstbewusstsein Siegfrieds liegt der Schlüssel zur künstlerischen Erlösung.