Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Mediales Versagen. Die öffentlich-rechtlichen Medien betreiben das Geschäft der Sahra Wagenknecht
Der Artikel beschreibt eine kritische Analyse des Auftritts von Sahra Wagenknecht in der Sendung von Caren Miosga am 8. September 2024. Obwohl Wagenknecht in die Defensive gedrängt wurde, beherrschte sie das Gespräch durch dominante Zwischenrufe und propagandistische Aussagen. Sie griff Themen wie die Ängste der Bevölkerung auf, blieb jedoch vage und unspezifisch in ihren Aussagen. Der Artikel bemängelt, dass ihre Gesprächspartner es versäumten, ihre Aussagen zu hinterfragen oder sie zu konkreten Antworten zu drängen, besonders in Bezug auf Verhandlungen mit Putin und ihre Ansichten zur Ukraine. Wagenknecht wird vorgeworfen, dass sie auf subtile Weise kommunistische Rhetorik verwendet und die politischen Missstände dramatisiert, ohne konkrete Lösungen anzubieten. Der Artikel kritisiert die Medien und die Politik, die ihrer Rhetorik nicht entschieden genug entgegentreten und somit ihren Einfluss aufrechterhalten. (Thomas Schmid, Welt)
Ich finde den Artike vor allem deswegen bemerkenswert, weil ich diese Art von Argumentation vor allem aus der anderen Richtung kenne: genau dieses Verhalten macht die AfD stark. Ersetze BSW und Wagenknecht durch AfD und Höcke, und du kannst das problemlos in der taz veröffentlichen. Das heißt im Übrigen nicht, dass das falsch wäre. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ohne Lafontaine und Wagenknecht in den Talkshows die LINKE in den 2000er Jahren die 5%-Hürde geknackt hätte. Das waren die exakt selben Mechanismen. Im Übrigen stimmt es auch nicht, dass das widerspruchsfrei passiert. Die Leute in den Talkshows widersprechen Höcke und sie widersprechen Wagenknecht. Ich erinnere mich auch an die Talkshows der 2000er, in denen die Hosts offensichtlich als Parteigänger*innen massiv gegen LINKE-Politiker*innen argumentierten. Ob denen das geschadet hat? I don't know. Aber wir kennen das Prozedere. Es ist letztlich die Verteidigung des Konsens' gegen diejenigen, die ihn angreifen. Und wenn man ansieht, was von der Agenda2010 in ihrer Form von 2003-2007 noch übrig ist, kennen wir auch die Richtung, in die dieses "Mitregieren von der Seitenlinie" geht.
2) Mario Draghi calls for €800bn EU investment boost
Mario Draghi fordert in einem Bericht für die EU eine neue industrielle Strategie, die jährliche Investitionen um 800 Milliarden Euro erhöht, um Europa wettbewerbsfähiger gegenüber den USA und China zu machen. Draghi schlägt eine Lockerung der Wettbewerbsregeln vor, um Marktkonsolidierungen zu ermöglichen, sowie eine stärkere Integration der Kapitalmärkte und gemeinsame Beschaffungsstrategien im Verteidigungsbereich. Er fordert außerdem neue Finanzierungsmodelle, darunter „gemeinsame EU-Mittel“ und die Einführung von EU-weiten Steuern für wichtige Projekte wie Energieinfrastruktur. Obwohl Draghi keine „Do-or-Die“-Strategie vorschlägt, warnt er, dass ohne diese Maßnahmen Europas Wettbewerbsfähigkeit und Lebensstandard sinken könnten. Seine Vorschläge stoßen jedoch auf Widerstand, insbesondere bei sparsameren EU-Mitgliedsstaaten wie den Niederlanden und Deutschland, die gegen eine Erhöhung gemeinsamer Schulden sind. Ursula von der Leyen deutete an, dass gemeinsame Finanzierungen notwendig sein könnten, schloss jedoch eine klare Unterstützung für EU-weite Schulden aus. Draghi betont die Dringlichkeit der Maßnahmen, um Europas wirtschaftlichen und sozialen Rückstand aufzuholen. (Paola Tamma/Henry Foy, Financial Times)
Draghis Ansatz ist ebenso richtig wie eine Totgeburt. Christian Lindner hat kaum drei Stunden nach Veröffentlichung des Reports in ebenso drastischer wie einseitiger Weise alles zurückgewiesen und die üblich überheblich-moralistische Tour gefahren, die deutsche Politiker*innen da immer zur Schau stellen. Aber auch Frankreich ist aktuell kaum bereit, da etwas zu tun. Von daher wird auf dem Feld nichts passieren, egal, wie sinnvoll es wäre. Dass mehr Investitionen notwendig wären (siehe dazu dieser Beitrag in der ZEIT) und die Wettbewerbssituation immer schlechter wird, ist leider immer noch etwas, das kaum durchgedrungen ist. Auf der anderen Seite ist auch nachvollziehbar, dass die EU-weite Strategie mit der inhärenten Aufgabe von Souveränität einerseits und der Verteilungsanfrage andererseits ein mehr als problematisches Thema darstellt. - Siehe dazu auch dieser Artikel.
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani äußert sich besorgt über den Zustand des deutschen Bildungssystems, das unter vielfältigen Herausforderungen leidet. Zu den Problemen gehören sinkende Schülerleistungen, Lehrkräftemangel und komplexe gesellschaftliche Veränderungen wie superdiverse Schülerschaften und veränderte Familienstrukturen. Zudem konfrontiert die rasante Digitalisierung Kinder frühzeitig mit problematischen Inhalten. El-Mafaalani sieht ein zentrales Problem darin, dass Bildungseinrichtungen zunehmend Aufgaben übernehmen, die früher von Familien bewältigt wurden. Trotz steigender Investitionen in Bildung ist das System seiner Ansicht nach strukturell überlastet. Er fordert mehr multiprofessionelle Teams, bessere Zusammenarbeit und eine Reform der Lehrkräftefortbildung. Ein Fokus müsse auf frühkindlicher Bildung und Grundschule liegen, da hier die entscheidenden Weichen für den weiteren Bildungsweg gestellt werden. Digitale Tools könnten laut El-Mafaalani helfen, ungleiche Bildungsbedingungen zu überwinden, aber es fehle noch an den nötigen Strukturen, um diese effektiv einzusetzen. (Michael Klitzsch, Campus)
Und ich dachte immer, meine Artikelüberschriften wären sperrig. Aber Spaß beiseite. Den zentralen Punkt, den El-Mafaalani hier macht, finde ich den der massiv gestiegenen Zuständigkeiten des Bildungssektors. Ich will jetzt nicht in das Horn blasen, dass früher alles besser gewesen wäre. Die massive Ungleichheit des deutschen Bildungssystems beruht ja gerade darauf, dass das Elternhaus so viel entscheidet. Je mehr in den Elternhäusern passiert - passieren muss -, desto größer ist auch die Ungleichheit. Mein Bauchgefühl wäre, dass die Übertragung von Aufgaben in Richtung Bildungsystem ist (Stichwort Ganztag) grundsätzlich der richtige Weg ist, aber die Durchführung nur halbgar ist. Zum einen fehlen Expertise und Ressourcen dafür, zum anderen aber auch der institutionelle Aufbau: das System leugnet weiterhin seine eigene Natur. Quasi die Bildungsvariante von "Wir sind kein Einwanderungsland".
4) Habecks zweite erste Chance.
Der Artikel beschreibt die strategische Ausrichtung der Grünen unter Robert Habeck mit dem Ziel, so stark zu werden, dass keine Regierung auf Bundesebene ohne sie gebildet werden kann. Dreierkoalitionen, insbesondere mit der FDP, haben an Attraktivität verloren. Die Grünen stehen aktuell in Umfragen bei etwa 11-13 % und sind somit die stabilste der Ampelparteien. Die Union und AfD hingegen konnten zulegen, während FDP und SPD stark verloren haben. Trotz negativer Reaktionen auf bestimmte grüne Themen wie das Heizungsgesetz bleibt der Klimaschutz ein zentrales Anliegen vieler Wähler. Habeck hat zudem das Potenzial, im gesellschaftlichen Kulturkampf progressive Wähler zu mobilisieren. In einem möglichen Szenario, in dem die SPD unter Merz in eine Große Koalition geht, könnten die Grünen als starke zweite Kraft auftreten und als Korrektiv wirken. Habecks Fähigkeit, Emotionen anzusprechen und urbane Wähler zu erreichen, wird als Vorteil gewertet. Vor allem in Westdeutschland und städtischen Regionen könnten die Grünen punkten, was ihnen eine strategische Position im Hinblick auf die Bundestagswahl 2025 verschafft.(Frank Stauss)
Ich denke auch, dass einerseits das Potenzial der Grünen etwas unterbewertet wird und andererseits ihre aktuelle Position zu schlecht geredet. Ja, die haben bei den Wahlen verloren, aber bei weitem nicht in dem Ausmaß wie FDP und SPD. Zwar ist "weniger verloren als die anderen" nicht eben eine super Sache, aber der Tenor ist in der Wahlberichterstattung gerne mit starkem Fokus auf den grünen Verlusten. Die allerdings sind real, und das sollte man nie vergessen. Gleichzeitig hat Stauss Recht, dass da grundsätzlich Luft nach oben ist und es einige Faktoren gibt, die für die Partei sprechen. Allerdings: man sollte auch nie die Fähigkeit der Partei unterschätzen, sich selbst in den Fuß zu schießen. Das Potenzial dafür ist beachtlich (siehe Fundstück 5)). Allerdings bleiben die Aussichten schlecht. Ich sehe die CDU nicht mit ihnen koalieren, wenn es für Schwarz-Rot reicht, und dass es das nicht tut, aber Schwarz-Grün, halte ich für eine Außenseiterperspektive. Ein letztes Wort: Stauss hat völlig Recht, dass das Potenzial für einen weiteren Backlash riesig ist. Der muss nicht automatisch kommen, aber kein Thema hält sich ewig. Und das Pendel wird irgendwann zurückschwingen. Ob das für die Grünen rechtzeitig kommt oder wie 2019 zu einem super ungünstigen Augenblick, bleibt abzuwarten.
Der Artikel thematisiert die zunehmende Angst, die insbesondere junge Wähler vor den Grünen haben, und wie dies zu hohen Wahlergebnissen für die AfD geführt hat. Der Soziologe Vincent August erklärt, dass diese Angst durch gezieltes „Framing“ geschürt wurde – eine Strategie, bei der die Gegenseite als Bedrohung dargestellt wird. August weist darauf hin, dass Klimaschutz und die Grünen durch gezielte Kampagnen diskreditiert werden, die an alte Ängste und Vorurteile anknüpfen, wie Planwirtschaft oder Sozialismus. Der Widerstand gegen Klimaschutzmaßnahmen, den August als „Gegeneskalation“ bezeichnet, sei für viele Parteien politisch einfacher und kostengünstiger als tatsächliche Klimaschutzmaßnahmen. Es wird kritisiert, dass selbst große Institutionen wie Gewerkschaften oft die Klimaschutzbemühungen behindern, während sie sich oberflächlich dafür aussprechen. Insgesamt betont der Artikel, wie leicht es sei, Ressentiments gegen Veränderungen zu schüren, bis hin zur Angst vor politischen Akteuren wie den Grünen. (Ulrike Winkelmann, taz)
Auch hier denke ich, dass die grundsätzliche Analyse richtig ist: es gibt eine Kampagne gegen die Grünen, die Springerpresse betreibt diese massiv (unter anderem), die "Gegeneskalation" passiert. Nur, das alles hat auch deswegen so viel Wirkung, weil die Grünen a) die Anlässe dafür geben und b) keinerlei wirksame Gegenmaßnahmen ergreifen. Die Kommunikation der Partei ist ein Desaster, die Wahl ihrer politischen Initiativen (Stichwort Heizungsgesetz) schlecht, die Strategie taugt nicht. Dazu kommt, dass sie angesichts des aktuellen Themas - Migration - völlig blank dastehen und die Parteiführung von ihrer Basis an tauglichen Reaktionen gehindert wird. Alles nicht besonders gut für die Aussichten der Partei.
Resterampe
b) Ruanda-Erfahrung.
c) Wichtiger Thread zur Integrationsdebatte.
d) Deregulierung und Steuerhinterziehung. Keine Entscheidung ohne Opportunitätskosten.
e) lol
f) Trumps Alter.
g) Thread zu VW.
h) Gute Nachricht aus Deutschland. Und noch mehr.
i) Kosten des Migrationsaktionismus' in den USA.
k) Die Palästina-Crowd ist einfach nur bekloppt.
m) Diese Waffenvernarrtheit ist einfach nur pervers.
n) Aus dem Kontext gerissener Merz.
p) Ganz interessantes Interview.
r) Taylor Swift endorset Kamala Harris. Isch quasi over. :P
s) "Wenn die Parteien machen würden was ich will dann hätten sie total viel Wahlerfolg", FDP-Edition.
t) Daueralarm macht Menschen mürbe.
u) Zu VW.
w) Verstörend.
Fertiggestellt am 11.09.2024
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