Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Grüne wollen Heizungsumbau massiv fördern
Der Befreiungsschlag hat sieben Absätze und acht Spiegelstriche, er passt auf zwei Seiten. Die Grünen-Fraktion hat ihn am Donnerstag zu Papier gebracht. Das Dokument liegt der Süddeutschen Zeitung vor. Es soll die Grünen endlich wieder aus der Defensive bringen, und das bei jenem Thema, das ihnen derzeit am stärksten zusetzt: den Heizungen. [...] Die Grünen-Fraktion will darüber weit hinausgehen. Haushalte, die weniger als 20 000 Euro zu versteuerndes Einkommen haben, sollen nach ihrer Vorstellung sogar zu 80 Prozent gefördert werden. Diese Förderung soll stufenweise sinken. Wer 60 000 Euro Einkommen hat, soll noch 40 Prozent Förderung bekommen. [...] "Man versucht etwas zu verändern", sagt Trittin, "und dann schlagen die Lobbygruppen zurück." (Markus Balser/Michael Bauchmüller, SZ)
Wenig überraschend wollen die Grünen Heizungssanierungen massiv nach Einkommen gestaffelt subventionieren. Es war völlig offensichtlich, dass sowas kommt, und ist ein weiterer Beweis für die trantütige Inkompetenz der politischen Kommunikation der Partei. Es ist wie Wahlkampf 2021. Wer auch immer da zuständig ist gehört gefeuert. Ich verstehe die Leute einfach nicht. Wollen die Wahlen verlieren? Wie kann man so inkompetent kommunizieren? So was verpackt man als Sandwich. Wir modernisieren die deutschen Heizungen! Das kommt als Verbot! Aber mit Förderung! Man wirft nicht das eklige zuerst raus, schiebt dann halbherzig irgendwelche Sachen über klimapolitische Notwendigkeiten nach, lässt die Diskussion wochenlang über Horrorszenarien von Leuten, die ihr Haus verlieren laufen und kommt DANN mit einem Subventionsplan. Die Grünen verdienen echt jede Wahlniederlage. Da fragt man sich eher, wie die es schaffen, immer noch 16% zu haben als warum sie "nur" 16% haben. Mannomann. - Für weitere Diskussion zum Thema siehe Fundstück 5.
2) The Spitzenkandidaten dilemmas: A successful failure?
Conversely, while the European Council had no alternative candidate immediately after the EP announced Juncker in 2014, it managed to create intra-institutional agreement in 2019 and presented von der Leyen to a still divided EP. In both cases, the first mover had a decisive strategic advantage by presenting a candidate and framing the competition according to the privileged logic of legitimation, which put decisive pressure on the competing institution. Thus, it was difficult for the European Council in 2014 to rebut the claim, especially in German public opinion, that an elected candidate should not be legitimate, just as it was difficult for the EP in 2019 to rebut the argument that there was a more suitable candidate than the one it did not unilaterally support. [...] As long as competing interpretations of the Treaty of Lisbon persist, intra-institutional coherence and strategic timing will be most important to win the institutional conflict between the EP and the European Council. In this situation, the Spitzenkandidaten system faces a dilemma (Müller 2020): the more successful the Spitzenkandidaten are in politicising the elections and the more they succeed in shifting electoral attention to genuine EU politics, the more important it becomes for a winning candidate to get into office, and thus the more urgent it becomes for competing parties to abandon their political claims in order to act as a coherent institutional actor after the elections. (Eva Heidbecker, Der Europäische Föderalist)
Ich finde diese Spitzenkandidatursdiskussion wegen der institutionellen Dimension so faszinierend. Was man hier, wie Heidbecker ja schreibt, schön sehen kann ist der Institutionenkonflikt im Herzen der EU. So was haben wir ja hierzulande praktisch nicht. Innerhalb der EU hat das Thema eine besondere Bedeutung, weil das institutionelle Machtgefüge weniger definiert und fluide ist. Die Demokratisierungsdebatte ist ja ein Dauerbrenner, wenn es um die EU geht. Ob nun das Spitzenkandidaturverfahren dafür geeignet ist, sei mal dahingestellt, aber die Versuche des Parlaments - oder zumindest Teilen davon - eine Verschiebung der institutionellen Gewichte herzustellen, finde ich spannend. Ich bin in dem Konflikt klar auf der Seite des Parlaments, aber ich sehe die Probleme des aktuellen Versuchs einerseits und der generellen Legitimationskrise angesichts fehlender gesamteuropäischer Wahlsysteme durchaus. Die Mitgliedsstaaten haben einfach wenig Interesse daran, dem Parlament mehr Macht zu geben, und das einige Moment von Schulz und Juncker fehlt inzwischen einfach komplett. Leider.
3) Die Leerstelle der Kriminalstatistik
Seit dem 1. Januar 2022 ordnet Faesers Ministerium Straftaten im Bereich der geschlechtsspezifischen Hasskriminalität in drei Kategorien ein: »Geschlechtsbezogene Diversität«, womit Straftaten gegen Tanspersonen, Homosexuelle oder nicht-binäre Personen gemeint sind, »Frauenfeindlichkeit« – und neuerdings auch »Männerfeindlichkeit«. Allerdings hat die Polizei im Jahr 2022 kaum Taten ausgemacht, die unter die neue Kategorie fallen könnten. Nach Auskunft des Bundesinnenministeriums werden in der Kategorie »vorurteilsgeleitete gegen Männer oder das männliche Geschlecht gerichtete Straftaten der Hasskriminalität« gezählt, wie aus der Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht. [...] Die Linke im Bundestag zweifelt daher grundsätzlich den Sinn der neuen Kategorie unter den politisch motivierten Straftaten an. »Männlichkeit ist kein Feindbild rechtsextremer Ideologie und Männerhass kein Motiv rechter Gewalt. Ebenso wenig wie es eine Heterofeindlichkeit von rechts geben kann, gibt es eine Männerfeindlichkeit von rechts«, sagt Petra Pau, die für die Linke im Bundestag sitzt. Bei »Männerfeindlichkeit« handele es sich um eine »Scheinkategorie unter dem Deckmantel empirischer Neutralität«, sagt Pau. Sie fordert, die neue Kategorie rasch wieder aus der Statistik zu streichen. (Mohamed Amjahid, Spiegel)
Besonders in progressiven Kreisen hat die neue Kategorie "Männerfeindlichkeit" großen Unmut und Proteste ausgelöst. Ich teile Udo Vetters Kritik an der Kritik: selbstverständlich kann es auch Männerfeindlichkeit geben. Dies kategorisch auszuschließen, scheint mir schon den Vorwurf ideologischer Scheuklappen zu provozieren. Andererseits haben die betroffenen Bundesländer auch nicht eben klare Fälle eingruppiert. "Down with the patriarchy" ist ja nicht männerfeindlich, sofern man nicht das Patriarchat als Naturzustand des Mannseins betrachtet (was ganz eigene Implikationen für das Gesellschaftsverständnis der betroffenen Organe hat). Es ist auch schwierig, männerfeindliche Straftaten zu finden, weil das schlicht kaum vorkommt, schon allein, weil Männer (noch) das privilegierte Geschlecht sind. Aber die Möglichkeit in Abrede zu stellen ist töricht.
Sieht man sich dazu Paus Argumentation an, so muss man die Augenbrauen bis an die Decke hochziehen. Das Problem, das sie sieht, ist, dass diese Straftat nicht von rechts begangen werden kann...? Okay, aber was ist mit links...? Darf die Polizei nur solche Vergehen aufzeichnen, die von Rechten begangen werden? Ich bin ehrlich verwirrt, was hier die Idee ist. Angesichts dessen, dass überhaupt nur neun Bundesländer solche Straftaten aufgezeichnet haben - der Rest hat bisher keine, nachvollziehbarerweise - sehe ich kein Problem, die Kategorie zu behalten. Die Landespolizeien sollten nur gut aufpassen, was sie entsprechend kategorisieren. Aber das ist bei politischen Straftaten, ungeachtet der Farbenlehre, ja immer ein Problem.
4) Geplante Drag-Lesung für Kinder sorgt für Kulturkampf in München
Dürfen eine Dragqueen und ein Dragking Kindern altersgerechte Bilderbücher zum Thema Rollenwechsel vorlesen? Darüber wird in München wegen einer entsprechenden Veranstaltung der Stadtbibliothek heftig debattiert. Politiker von CSU und Freien Wählern sind dagegen – die Grünen und Teile der SPD haben dagegen kein Problem damit. [...] Das breit aufgestellte Programm richtet sich an eine vielfältige Stadtgesellschaft, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. Daher habe man auch Lesungen zum Thema Diversität im Programm. Die Münchner Stadtbibliothek bedauert zudem, dass die Künstlernamen der Beteiligten sowie die Berichterstattung der "Bild"-Zeitung den Anschein erweckten, man würde ein Travestieprogramm anbieten. Das sei nie geplant gewesen. [...] Die Münchner Stadtbibliothek betont, dass nur altersgerechte Bilderbücher vorgelesen würden. Im Vordergrund stünden Themen wie Rollenwechsel und Verkleidung, die laut Stadtbibliothek Kinder in diesem Alter sehr beschäftigen. Es liege im Ermessen der Eltern, die Veranstaltung mit ihren Kindern zu besuchen.(Georg Wolf/Moritz Steinbacher, BR)
Das neueste Kapitel im bürgerlichen Kulturkampf ist eigentlich so albern, dass es keiner Erwähnung wert wäre, wenn es nicht in einen problematischeren größeren Kontext gehörte. Tatsächlich geht es um eine (1) Bibliothek in einer (1) Stadt, die eine (1) Veranstaltung macht - zu der man gehen kann oder halt auch nicht. Allein das zeigt, dass hier jemand einen Kulturkampf vom Zaun brechen will, komme, was wolle (ungefähr so wie die Fake-Aufregung über die Kategorie männerfeindlicher Straftaten aus Fundstück 3). Wer noch mehr Stimmen zur eigentlichen Debatte hören will, findet hier eine gute Zusammenstellung.
Aber die CSU ist gerade ohnehin sehr kulturkämpferisch unterwegs. So waren etwa Andreas Scheuer und Dorothee Bär auf Steuerzahlendenkosten auf einer Reise zu deSantis, um zu versichern, dass dessen Kulturkampf gegen "woke" ein grandioses Vorbild für die Christlich-Soziale Union darstellt. Alles, was fehlt ist, dass Scheuer deSantis beglaubigen würde, ein "lupenreiner Demokrat" zu sein. Ungefähr auf dem Level ist das Ganze zu lesen. Es bestätigt auch die These von den aktuellen Kulturkämpfen als US-Import, wie ihn Adrian Daub in seinem Buch beschreibt. Die oben zitierte Drag-Queen-Debatte kommt auch aus den USA, genau wie der Cancel-Culture-Unfug, die Political-Correctness-Debatte und so weiter.
Aber damit sind die CSU-Entgleisungen leider noch nicht am Ende. Hubert Aiwanger und andere Scharfmacher haben beschlossen, dass sie den Muttertag verteidigen müssen ("War on Christmas" ist die klare Vorlage), der scheinbar in Gefahr ist, weil eine (1) Kita in einem (1) Bundesland keine verpflichtenden Muttertagsgeschenke basteln lässt. Soweit, so banal. Nur hat der CDU-Abgeordnete Tilman Kuban die komplette Adresse der Kita rausgegeben, und das Erwartbare geschah: Morddrohungen, Vandalismus, eingeschmissene Scheiben, das ganze Programm. Effektiv hat Kuban einen Mob auf eine Kita gehetzt. Selbst das katholische Hausblatt katholisch.de ist entsetzt und distanziert sich mit scharfen Worten davon. Das Sahnehäubchen in deren Artikel ist, dass sie Kuban erklären, dass weder Mutter- noch Vatertag christliche Feiertage sind. Besser kann man den ausgehöhlten Konservatismus, der für manche gerade nur noch in Kulturkampfimporten zu bestehen scheint, eigentlich kaum illustrieren.
5) Warum Robert Habeck ein guter Politiker ist // Demos für Habeck
Tatsächlich treffen die Angriffe mit Habeck im Grundsatz den Falschen. Denn er ist ein guter Politiker – so wie Verteidigungsminister Boris Pistorius von der SPD ein guter Politiker ist oder Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther von der CDU. [...] Wir haben eine zweite Kategorie: die Vorsichtigen. Ihre prominentesten Vertreter sind Altkanzlerin Angela Merkel und deren Nachfolger Olaf Scholz. [...] Im Publikum denken viele, dass sie Habecks Job wegen der Verantwortung lieber nicht haben möchten. Unterdessen schauen sie auf ihn wie auf einen Artisten am Trapez, der mit Klimazielen, Versorgungssicherheit und niedrigen Preisen gleichzeitig jonglieren muss und dabei doch bitte schön noch eine gute Figur machen sollte. Einen Absturz möchten sie auf keinen Fall verpassen. (Markus Decker, RND)
Der Wirtschafts- und Klimaminister Habeck hat allerdings heute bei den Grünen – und das erinnert an Karl Schiller am Ende seiner verdienstvollen Ministerzeit bei seiner SPD – nicht genug öffentlichen Rückhalt. Während sich Gegner-Medien und -Parteivertreter täglich mit immer neuer und häufig sachlich falscher Kritik an Habecks Politik überschlagen, schweigen seine Grünen. Es gibt keine sozialökologische Öffentlichkeit, die den Kurs Habecks und auch dessen Zumutungen als Zukunftschancen interpretieren oder wenigstens erklären würden. Es ist auch nicht nachvollziehbar, warum die Grünen ihre Regierungsbeteiligung in zwölf der sechzehn Landesregierungen nicht dafür einsetzen, um Habecks Projekte machtpolitisch zugespitzt zu flankieren. Darüber mögen heute noch viele Grüne und Klimapolitik-Interessierte in ihrem anachronistischen, staatsfeindlichen Habitus lächeln, aber Habecks Politik ist eines Kanzlers würdig. Statt moralisierende Klimakleber schweigend zu unterstützen oder in internen Foren den „armen Robert“ zu bedauern, sollten sie in sozialen Netzwerken, in der Öffentlichkeit und auf der Straße für Habeck und seine Politik demonstrieren. Wer nur zusieht, wie die anderen die Stimmung drehen, der braucht sich nicht wundern, wenn die Zustimmungswerte in Bund und Ländern zurückgehen. Die Umfragen der letzten Wochen sind ein Menetekel für das Verspielen eines historischen Auftrages. (Udo Knapp, taz)
Ich hab das schon vor über einem Jahr gesagt, als alle voll des Lobs über Habeck und seinen tollen Kommunikationsstil waren: der Mann wird sich null ändern und bald für genau das kritisiert werden. Das sind einfach die Dynamiken und Mechanismen des Systems. Gerade ist es en vogue, Scholz' Stil zu kritisieren - für mich vor allem Überkompensieren des "Merkel-Katers" - und kantige Typen toll zu finden. Auch das wird sich wieder ändern, ohne dass "Brillanz" oder "Unfähigkeit" der beteiligten Personen irgendetwas damit zu tun haben. Ich habe bei Fundstück 1 schon über das Wärmepumpenkommunikationsdesaster gesprochen. Da kann man schön sehen, dass Habeck genauso "offen" und "kantig" argumentiert wie vor anderthalb Jahren. Nur war es halt damals cool und neu und irgendwie gegen den Rest der Grünen lesbar. Heute ist es das nicht, und jetzt wird er für das gleiche kritisiert, was vor einem Jahr gelobt wurde. Ich hab genau das vorhergesagt, wie ich nicht ohne Stolz bemerken will, und will auch nochmal klarstellen: das ist nicht grünenspezifisch. Jedem Politiker und jeder Politikerin geht es genauso.
Resterampe
a) Der Economist hat eine neue Schlagzeile à la "sick man of Europe" und fordert Steuererhöhungen (unter anderem).
b) Ich kann irgendwie keinen Vorschlag zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels an Grundschulen ernstnehmen.
c) Nachdem die CSU sich Anleihen bei deSantis holt, macht es ja nur Sinn, dass die texanische GOP sich bei Selbstsabotage an der CSU orientiert.
d) Teile Püttmanns Einschätzung hier wenig überraschend völlig.
e) Wenn jemand noch nostalgische Erinnerungen an "Schicksalsklinge" hat, ist das der Artikel dafür.
f) So sehr ich grundsätzlich die Idee, das eigene Geschlecht selbst bestimmen zu können, befürworte, so sehr teile ich doch die Bedenken über die aktuelle Ausgestaltung der Gesetzentwürfe.
g) Dieser in den Kommentaren jüngst empfohlene Artikel zur Berichterstattung der Ukrainekrise sei allen ans Herz gelegt.
h) Noten als falsche Anreizsysteme.
i) Das ist keine Selbstbedienungsmentalität, sondern die logische Folge, wenn die Gehälter durch das Parlament selbst festgelegt werden. Wenn man das endlich an einen vernünftigen Maßstab indexieren würde, wäre das kein Problem.
j) Guter Artikel zu Preiskontrollen.
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