Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Komm, wir machen es uns „nice“
Aber innerhalb dieser Grenzen stärkt man das kritische Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger, wenn man ihre Urteilskraft zum entscheidenden Maßstab erhebt, statt dem Impuls zu folgen, kontroverse Veranstaltungen abzusagen und bestehende Verträge zu missachten, um einem Konflikt aus dem Wege zu gehen. [...] Muss, was wir tun, sagen und schreiben, erfreulich oder immerhin achtsam sein? Soll ausgerechnet Kultur eine Welt abbilden, wie sie nicht ist, nicht war und niemals sein wird? Braucht man eine ideale kulturelle Darstellung einer unvollkommenen Welt auch dann, wenn man sich Kinderbücher, Comics oder Filme aus alter Zeit anschaut, die von Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten geprägt war? Genügt dann nicht eine Kontextualisierung, etwa von Mami und Papi beim Vorlesen, um ein Artefakt aus schlechten Zeiten auch heute zugänglich zu machen? Wir schärfen Autonomie und Entscheidungsfähigkeit, wenn wir uns etwas zumuten, wenn wir danach verlangen, uns unser Urteil bitte selbst zu bilden. In der parlamentarischen Demokratie und der offenen Gesellschaft gibt es keine höhere Instanz als den individuellen Willen der Bürgerinnen und Bürger. Ohne jede Qualifikationserfordernis, ohne Prüfung von Intelligenz und Charakter ist man aufgerufen, über die höchsten Institutionen des Landes zu entscheiden. Auf Stimmzetteln gibt es keine Warnhinweise, unter anderen stehen dort ganz schreckliche Menschen mit gruseligen Ideen zur Wahl, getarnt mit ultralieben Berufsbezeichnungen wie „Verwaltungsfachfrau“ oder „Diplom-Gastwirt“. [...] Der Sinn von Kultur liegt nicht darin, dich vor Schock und Anstrengung zu bewahren, oder dich vor dir selbst zu warnen, sondern im Gegenteil in der Vermittlung der Erkenntnis, dass es auf dich ankommt. (Nils Minkmar, SZ)
Dieser Beitrag kommt aus der Debatte um die Neuausgaben der Dahl-Bücher, und für mich ist sie symptomatisc für eine Verwirrung, die das Ganze so ermüdend macht. Denn ich unterschreibe jederzeit alles, was Minkmar hier sagt, für die Kultur. Nur: niemand erstellt Neuausgaben für Goethe, Hauptmann oder Juli Zeh, die irgendwelchen Sensibilitäten angepasst wären. Hemingway ist noch genauso lesbar wie Tolkien. Von "Pippi Langstrumpf" bis "Charlie und die Schokoladenfabrik" bezogen sich die Maßnahmen auf Kinderbücher. Nur sind diese eben durch Alter, Nostalgie und literarische Qualität in einen merkwürdigen Graubereich gesunken, in dem sie zwar immer noch als Kinderbücher gehandelt werden, gleichzeitig aber irgendwie auch schon zum kulturellen Erbe gehören.
Sie sind aber noch nicht alt genug, dass man die "Jugendbuchausgaben", wie sie für Klassiker von "Robinson Cruseo" über "Moby Dick" zu "Huckleberry Finn" (die liest ja keiner im Original mit seinen Kindern, verarbeitet hätte. Eigentlich ist das alles eine Nulldebatte: würde man einfach Kinderversionen von Dahls Werken mit großem Aufkleber auf dem Cover "kindgerechte Sprache" oder so was anbringen und dann eine Prachtausgabe in Leder mit Lesebändchen im Original zeitgleich für die Erwachsenen raushauen, hätte sich das Problem völlig. Aber es ist dieser merkwürdige Zwischenzustand, der unnötige Ambivalenzen schafft und diese Debatte so verquer werden lässt.
2) KI für die Kinder der Reichen
Obwohl das Problem der elterngemachten Hausaufgabe so alt wie die Schule selbst ist, löst erst die neue Software eine moralische Debatte aus. Die Lösung für die (fehlende) Elternhilfe ist die gleiche wie für ChatGPT: die Ganztagsschule. Damit ist nicht gemeint, dass die Schüler und Schülerinnen den ganzen Tag Unterricht haben. Eine Rhythmisierung, also ein Abwechseln des Unterrichts mit Phasen des selbstständigen Lernens und der sozialen Interaktion, ist der Kern einer guten Ganztagsschule. [...] In der Ganztagsschule haben alle die gleichen Ressourcen, die gleiche personelle Unterstützung und die gleiche Menge Zeit, das im Unterricht Gelernte zu üben, zu vertiefen und anzuwenden. Die Halbtagsschule hat diese Lernphasen an die Eltern abgegeben, was unter anderem zur klassenbedingten Bildungsungerechtigkeit in Deutschland beigetragen hat. Die Fähigkeiten, die man in der Schule lernt, werden nicht irrelevant, nur weil eine KI sie duplizieren kann. Addieren können, ein Gedicht verstehen und eine Fremdsprache beherrschen – all das sollten Kinder weiterhin in einer gut ausgestatteten Schule selbst lernen. (Ryan Plocher, ZEIT)
Die sozial nivellierende Funktion der Ganztagsschule halte ich für einen sehr relevanten Faktor an der Sache. Das Stöhnen von Eltern über die Belastung durch Hausaufgaben, Referate und Co, die ihre Kinder aus der Schule mitbringen, ist gemeinhin bekannt. Ich leide da auch selbst drunter. Und jede Bildungsstudie seit PISA im Jahr 2000 ergibt verlässlich, dass kaum ein Schulsystem so sozial segregierend ist wie das Deutsche. Wenig überraschend, bedenkt man diese Strukturen. Am Unterricht mitzukommen ist für Kinder nur unter zwei Bedingungen möglich: große intrinische Motivitation und Fähigkeit zur Selbstorganisation - das sind dann die Überflieger, die gerne auch als Paradebeispiel sozialer Aufstiegsgeschichten herangezogen werden, die aber eine verschwindende Minderheit sind - und solche, deren Eltern ihnen helfen, und sei es nur mit der Organisation. Das wird natürlich mit der Zeit besser (und die Fähigkeit der Eltern zu helfen nimmt proportional ab), aber bis dahin ist dank des zweiten deutschen Feauters, der Dreigliedrigkeit, der Drop eh gelutscht.
3) Was läuft schief im Mathi-Unterricht?
2019 untersuchten Forscher der PH Bern «unser Mathematikproblem», analysierten die Gründe fürs «Disengagement», die Rolle von Unterricht und Bewertungspraktiken. Fazit: Die Lehrer sollten stärker für die Bedeutung eines gut strukturierten, verständlichen Unterrichts sensibilisiert werden. Anwendungsnahe Projekte sollten «das Nützliche der Mathematik ungekünstelt» erfahrbar machen. Auch sei die Praxis des strengen Bewertens kritisch zu überdenken. Zudem täten Extra-Angebote für Schwächere not. Es überrascht, dass all dies nicht auf der Hand liegt. Die Erkenntnis, dass die Bewertungsmassstäbe sich in einer Schieflage befinden – und die Schüler unnötig demotivieren – ist nicht neu, gilt aber bis heute. René Fehlmann etwa, Dozent am Lehrstuhl Mathematikdidaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz und selbst Mathematiklehrer, teilt die Einschätzung. Wie auch die, dass sich viele der Fachlehrer (mehrheitlich Männer) noch zu sehr als selektierende, reine Mathematiker verstehen und zu wenig als Vermittler mit Bildungsauftrag. Und: Braucht es das abverlangte geballte mathematische Wissen überhaupt für die viel zitierte Studierfähigkeit? (Alexandra Kedves, Tagesanzeiger)
Dass der Mathematikunterricht ein grundsätzliches Problem hat, ist bereits seit Langem bekannt. Im deutschsprachigen Raum sind die Lernergebnisse im internationalen Vergleich notorisch schlecht, und im innerdeutschen Fächervergleich gehört Mathe routinemäßig zu den Fächern mit den schlechtesten Notenschnitten und der meisten erteilten Nachhilfe. In kein anders Fach investieren Schüler*innen und Eltern auch nur ansatzweise so viel Geld und Energie, und in keinem anderen Fach sind die Ergebnisse so miserabel. Das ist seit Jahrzehnten so, und es wird einfach als Fakt hingenommen.
Und da spielt Element Nummer zwei mit hinein: die Selektion. Viel zu häufig sehen sich Lehrkräfte vor allem als Selektierer, geht es vor allem darum, Matheunkenntnis zu attestieren und dann dem Lernunwillen ("Faulheit") oder Unverständnis ("Dummheit") der Schüler*innen zuzuschreiben. Dass bei einem so weit verbreiteten Problem aber der Kern systemisch sein muss, ist eine Erkenntnis, um die sich die Zunft beharrlich drückt.
Das Ganze wird dadurch nicht besser, dass eine Generation nach der anderen durch diesen Blödsinn geschleust wird und vor allem die Erfahrung weitergeht, "in Mathe auch schlecht gewesen" zu sein. Eine 5 in Mathe ist gesellschaftlich viel akzeptierter als eine 5 in Deutsch, eine 5 in Physik viel mehr als eine 5 in Religion. Das ist eine merkwürdige Mischung aus Hochachtung einerseits und Missachtung andererseits.
Die ständig vorgebrachte Praxisnähe dagegen siehe ich nicht als Alternative. Mathematik ist nicht praxisnah, und die Versuche, sie praxisnah zu gestalten, sind allesamt peinlich und durchsichtig. Mathe sollte sich da eine Scheibe von Latein abschneiden, die versuchen üblicherweise auch nicht, sich als irgendwie praxisrelevant zu geben. Ist auch nicht notwendig. Mathematik ist letztlich eine abstrakte Wissenschaft, und ich fand es als Schüler immer albern, wenn mir versucht wurde die Praxisnähe dadurch zu verklickern, dass ich ausrechnen kann, ob der Lkw unter die Brücke passt. Das ist von meinem Schüleralltag so weit entfernt, dass es ohnehin abstrakt ist. Da kann man sich gerne ehrlich machen.
4) Der Westen muss die Berechenbarkeit von Diktatoren ausnutzen
Wenn am Sonntag der chinesische Volkskongress für sieben Tage zusammenkommt und künftige Vorhaben abnickt, wird die Welt wieder rätseln. Würde es China tatsächlich wagen, in den kommenden Jahren Taiwan anzugreifen? Demonstrativ spielt Präsident Xi Jinping mit der Drohung. Im Westen wird ein Krieg aber von vielen weiter als unwahrscheinlich abgetan und gerne auf die Irrationalität einer solchen Invasion verwiesen. [...] Doch wird Xi Jinping dieses ideologische Projekt rationalen Überlegungen unterordnen? „Vor 20 Jahren konnte man noch sagen, dass die chinesische Führung sich vor allem um wirtschaftliches Wachstum kümmerte. Jetzt ist die Ideologie der zentralste Teil der Machtphilosophie der Kommunistischen Partei“, sagt China-Experte Benner. Im Jahr 2013 machte diese das offiziell. Das lange Festhalten an der Null-Covid-Politik oder dem Unterdrücken alternativer Machtzentren wie der Techindustrie sind eindrückliche Beispiele. „Sie zeigen, dass Peking bereit ist, ökonomische Kosten in Kauf zu nehmen, um ideologische und machtpolitische Ziele zu erreichen“, sagt Benner. Xi sehe es als seine historische Mission an, die Kontrolle über Taiwan zu erlangen – genauso wie Putin es als seine Mission betrachte, sich der Ukraine zu bemächtigen. Der Plan ist, wie der von Putin, offen kommuniziert. Für den Westen kann das eine wertvolle Erkenntnis sein. Sie gibt ihm die Möglichkeit, Xi davon abzuhalten. Allerdings reiche es nicht, Peking wirtschaftlich zu drohen. „Man kann in diesem Fall den Status quo nur perpetuieren, wenn man das militärische Kosten-Nutzen-Kalkül Pekings stark ändert“, so Benner. In der Ukraine könne Xi beobachten, was passiert, wenn man auf dem Schlachtfeld versagt. „Die wichtigste friedenspolitische Aufgabe ist es nun, in effektive Abschreckung Pekings zu investieren.“ (Gregor Schwung, Welt)
Ich fürchte, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist für den Westen und die Weltordnung generell wirklich nur eine Art Testlauf. Die wahre Herausforderung wird der Umgang mit China sein. Wenn Xi Jinping tatsächlich Taiwan überfallen sollte, haben wir ein ernsthaftes Problem. Und das scheint mit jedem Jahr wahrscheinlicher zu werden, weil Xi wie im Artikel beschrieben den Fokus Chinas von Wirtschaftswachstum zu Machtgewinn und Machtprojektion verschiebt. Dieser Wandel zu einem ideologisch getriebeneren Staat, den wir ja bei Putin über die Jahre ebenso betrachten konnten, kann eine gefährliche Eigendynamik entwickeln - und sorgt auch dafür, dass rationale Kosten-Nutzen-Kalküle eine bestenfalls untergeordnete Rolle spielen.
5) We have nothing to fear but (conservative) fear itself
If we're talking about Big Five personality traits like neuroticism among liberals, the equivalent Achilles' heel for conservatives is their generally low score on openness to experience. This can be understood more easily as fear of new experiences, and conservative media is absolutely built on this. In fact, this is a common misconception about outlets like Fox News. They aren't especially dedicated to radical politics. They're dedicated to promoting specific issues that engage the amygdala and spur outrage born of fear. It's no longer enough, for example, to think that high national debt is bad for economic reasons. Conservatives have been trained to be in desperate fear that the national debt will wreck the country. Likewise, they are afraid of immigrants. They are afraid of gay and trans folks. They are afraid their kids are being brainwashed in school. They are afraid liberals want to outlaw Christianity. Etc. They aren't just opposed to liberals, they're driven by intense fear of liberals. (Kevin Drum, Jabberwocky)
Oh mein Gott ist die These von "Neurotik" für das progressive Spektrum als größtes Problem zutreffend. Da hat Drum auch noch letzthin ein gutes Beispiel mit dieser "feeling unsafe"-Epidemie gehabt. Wie jede Bewegung ermächtigt der Erfolg immer die Radikalen. Die Linken wären die erste Bewegung jemals, die mit Erreichen einiger Ziele Erfolg erklären und sich zufrieden geben würde. Das passiert nie; irgendetwas ist immer noch nicht ausreichend, irgendetwas muss immer beseitigt werden. Und dann kommt es zum overreach und backlash. Beide Phänomene konnten wir in jüngster Zeit bereits mehrfach sehen. Hillary Clinton scheiterte auch am backlash gegen #BlackLivesMatter, und sowohl Trump 2020 als auch die Republicans bei den Midterms 2022 wurden Opfer ihres eigenen overreach und des folgenden backlash. - Inhaltlich stimme ich Drum ansonsten zu.
Resterampe
a) Zutreffende Polemik auf die CSU.
b) Warum Israel keine Verfassung hat. Und noch was vom Verfassungsblog dazu.
c) Die FAZ hat von Justus Bender eine ausführliche Reportage über die Ähnlichkeiten von AfD und Sara Wagenknecht. Ich bin mir aber wie der Autor selbst auch nicht sicher, was daraus genau folgen soll - außer dass eine Wagenknechtpartei das Potenzial hat, die LINKE endgültig aus den Parlamenten zu kegeln, worüber Bender paradoxerweise gar nicht schreibt.
d) Diese Leute sind echt unglaublich.
e) "Niedrigste Komplexitätshürde" trifft es.
f) Faszinierend, wie sich die öffentliche Meinung im Fall des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine durch die Regierungspolitik ändert.
g) Dieses Framing von wegen "Kriegswirtschaft" ist echt absurd.
h) Wer sich für den Wirecard-Skandal interessiert, findet hier einiges dazu.
i) Interessanter Überblick über Melonis aktuelle Politik. Ich empfehle auch nochmal unseren Podcast dazu.
j) Interessanter Thread zu den Einsparmöglichkeiten von CO2 und den Kosten.
k) Obamacare bleibt Erfolgsstory.
l) Spannende Debatte zur "Öl"-Protestaktion der LastGen.
n) Kevin Drum hat einen Realitätsschock für das "Millenials geht es super schlecht"-Meme. It's true as far as it goes, aber was er ignoriert ist der relative Verlust gegenüber der vorherigen Generation.
o) Der Verfassungsblog hat was zum chilenischen Verfassungsprozess, mag gewisse Leser hier interessieren :)
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