Nicht alle, aber auch nicht eben wenige Konservative und viele Rechte werfen anderen gern Spinnerei vor, leben ihrerseits aber erst recht in einer Traumwelt. Ihnen träumt, früher sei so ziemlich alles besser gewesen. Die Leute hätten sich nicht scheiden lassen, junge Menschen nicht zügellos rumgemacht, sonntags seien die Kirchen voll gewesen, die Frauen hätten noch nicht aufgemuckt, und wenn doch, dann durfte der Ehemann auch mal ungestraft Gewalt anwenden. (Überhaupt hat damals eine gesunde Watschen noch keinem geschadet.) Alle waren hetero und wenn mal einer von der Brücke sprang, weil er das dauernde Mobbing (das früher noch nicht so hieß, sondern 'Hänselei' oder so) nicht mehr ertrug, dann war er halt zu weich für diese Welt. Und eh selbst schuld. Musste ja nicht so aus der  Reihe tanzen.

"[Die Nachbarsfrau] bedankte sich am nächsten Morgen, dass wir sie vor dieser  fortgesetzten Vergewaltigung [durch ihren Ehemann] gerettet hatten. Ich fragte, ob sie zur Polizei gehe. Und sie sagte: »Christian, es ist  dir wohl noch nicht klar. Wenn das mein Freund gewesen wäre, hätte ich ihn angezeigt. Aber als Ehefrau habe ich die Beine breit zu machen.« So hart war das. Und es war politisch so gewünscht." (Christian Pfeiffer)

Dass Ehen früher länger hielten, weil Scheidung sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich für die meisten keine gangbare Alternative war,  dass es nicht Heterosexuelle und Nichtbinäre früher genauso oft gab, die meisten sich aber zeitlebens verstecken oder ein Doppelleben führen mussten, dass volle Kirchen nicht automatisch mehr Frömmigkeit bedeuten (der Sonntagsgottesdienst bzw. die Sonntagsmesse war für viele vor allem ein gesellschaftliches und geschäftliches Ereignis), dass junge Menschen auch früher fröhlich vor- und außerehelich rumgepimpert haben, eventuelle Folgen aber ausschließlich zu gesellschaftlicher Ächtung der Frau führten (eine unverheiratete Schwangere galt als 'gefallen') oder gleich tödlich endeten (viele junge Mütter brachten ihre Kinder heimlich zur Welt, setzten sie aus oder töteten sie sogar; oder kamen bei illegalen Abtreibungen ums Leben), dass die Frauenbewegung keine Erfindung linksextremer 68er ist, sondern schon zu Kaisers Zeiten entstanden ist --

-- das sind so Gedanken, die halt lästig sind. Sie finden es einfach zu geil, immer welche zu haben, über die sie sich moralisch erheben und die sie bestrafen können. Denn die Menschen sind bekanntlich selbst schuld und bedürfen strenger Erziehung. Es sei denn, sie sind reich. Dann wird das schon seine Richtigkeit haben. Wird der Liebe Gott sich wohl was bei gedacht haben.

Glauben Sie nicht,  das mit dem Bestrafen? Momentan wird wieder einmal über Sinn und Zweck von Sanktionen beim Vollzug des SGB II, vulgo: Hartz IV, diskutiert. Die Regierung will sie größtenteils aussetzen bzw. drastisch reduzieren (und damit nichts weiter tun, als das entsprechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 umsetzen). Das können Konservative und Rechte nun gar nicht verknusen. Einfach so gut 400 Schleifen plus Kaltmiete pro Monat einsacken, ganz ohne Strafandrohung und Männchenmachenmüssen? Wokommwadenndahin? Und  überhaupt, der volkswirtschaftliche Schaden! Derjenige durch Erschleichen von Sozialleistungen gem. § 263 Abs. 1 StGB betrug 2020 einer Untersuchung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zufolge, 49,4 Mio. EUR. Der volkswirtschaftliche Schaden durch Steuerhinterziehung wird in einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung von 2012 auf 100 Milliarden pro Jahr geschätzt.

Preisfrage:  Wenn es wirklich um volkswirtschaftlichen Schaden gönge, was sollte man dann eher bekämpfen? Selbst wenn das obige nur halbwegs stimmt? Bedenken Sie bei Ihrer Antwort bitte, dass Erschleichen von Sozialleistungen überwiegend von Armen und Steuerhinterziehung fast ausschließlich von Reichen und Wohlhabenden begangen wird.

Vieles wäre übrigens einfacher, wenn die, die von den guten alten Zeiten schwärmen, mal konkret sagten, welchen Zeitraum genau sie eigentlich  meinen. Ihre eigene Jugendzeit? Die Fünfziger? Sechziger? NS-Zeit? Roaring twenties? Kaiserzeit? Oder gleich wie bei den Alten Römern. Die müssen ja oft herhalten als Paradebeispiel für und gegen alles Mögliche ("Schon die Alten Römer..."). Erinnert man daran, dass das eine Sklavenhaltergesellschaft war, in der zeitweise Christen verfolgt wurden, dann ist das etwas anderes und man kann das so nicht sagen, denn es waren eben andere Zeiten.

Zurück in die  Gegenwart. In zwei Punkten haben Rückwärtsgewandte allerdings empirisch nachprüfbar recht: Es gibt heute mehr Migranten als früher und die Arbeitslosigkeit ist höher. Zumindest, wenn man mit 'früher' die Zeit von ca. 1960 bis 1974 meint. Nun ist aber das Problem, dass Massenmigration eine Folge exakt jenes Wirtschaftssystems ist, das sie selbst so vehement propagieren. Und dass es schon Mittel und Wege gäbe, Arbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren. Die aber halten sie für 'linke Spinnereien'.


Richtig gruselig wird es beim Blick gen Westen über den Großen Teich. In die USA, wo es immer noch ein Stück krasser geht. Auch dort leben ganze Milieus im Geiste in einer heilen, rein weißen Norman-Rockwell-Eiapopeiawelt-Kleinstadtwelt voller rechtschaffender frommer Arbeitsbienen mit Wumme im Schrank, aber ohne vorehelichen Sex, in der Schwarze nur als Domestiken und Sklaven vorkommen und die sie sich wieder herbeiverbieten wollen. Wenn es um ihre wichtigsten Fetische geht, Abtreibungsverbot, Schwulenhass und legale Knarren nämlich, ist ihnen kein noch so dämliches Gedankenkonstrukt zu peinlich.

Mit abenteuerlichsten Begründungen kippen sie das Abtreibungsrecht und schreien nach härtesten Strafen, weil sie 'für das Leben' (pro life) sind. Wenn aber ein Irrer, wie jetzt wieder in Texas, ganze Grundschulklassen per Schusswaffe wegmassakriert, dann helfen angeblich keine Waffengesetze, sondern nur thoughts and prayers. Abtreibungen? Verbieten! Unliebsame Bücher in Schulen und Bibliotheken? Verbieten! In Schulen werden böse Worte wie 'homosexuell' verwendet? Verbieten! Waffenkontrollgesetze? Geh, funktionieren nicht! Also bitte, als ob Verbote etwas bewirken würden.

Der sauber durchgebratene texanische Senator Ted Cruz, der es hinbekommt, sogar von Teilen seiner eigenen irregewordenen Partei gehasst zu werden, verstieg sich zu der Begründung, Amokläufe wie jetzt in Texas passierten, weil man Gott aus dem öffentlichen Raum entfernt habe. Soso, aha.

Leider  gibt es bei alldem zwei Probleme: Erstens wäre es arg gaga, aus der Tatsache, dass konservativ/rechte Nostalgie größtenteils auf Sehnsüchten und Projektionen beruht, den Schluss zu ziehen, wir lebten heute in der besten aller möglichen Welten. Tun wir natürlich nicht. Zweitens ist Antiamerikanismus immer problematisch. Allzuoft ist er vor allem wohlfeil. Bewohner eines Landes, dem man Demokratie erst mühsam beibomben musste und in dem Currywurst, Schnipo und Bolo als Delikatessen durchgehen, sollten Bewohnern anderer Länder eher keine großartigen Belehrungen über Mangel an demokratischer Kultur und Esskultur halten. Und weil all das in den US of A, worüber unsereins den Kopf schüttelt, normalerweise auch seinen Weg zu uns findet, mithin nur die Schrecken von morgen vorweggenommen werden.







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