Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Hinter den Kulissen schmiedet Habeck schon seinen K-Plan

Robert Habeck zeigt sich bei einer Veranstaltung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie nach einer überstandenen Coronainfektion in Berlin in Bestform. Der Vizekanzler und Wirtschaftsminister, der immer noch nicht offiziell als Kanzlerkandidat der Grünen feststeht, agiert wie ein Motivationscoach und betont die Notwendigkeit, die Innovationskraft Deutschlands zu stärken. Seine Rhetorik wirkt an diesem Tag überraschend liberal und erinnert eher an seinen politischen Widersacher, Christian Lindner von der FDP. Habeck sieht die Union, insbesondere unter der Führung von Friedrich Merz, als eine Chance, enttäuschte Wähler zu gewinnen. Er spricht von der „Merkel-Lücke“, die die CDU hinterlassen habe, und betont, dass die Grünen mit einer Politik der Mitte diese Unionswähler abholen könnten. Allerdings steht Habeck auch vor großen Herausforderungen, insbesondere nach den Fehlern seiner Partei, wie dem umstrittenen Heizungsgesetz, das viele potenzielle Wähler verärgert hat. Obwohl die Grünen in Umfragen schwächeln, setzen sie große Hoffnungen auf Habecks Charisma und seine Fähigkeit, das Land zu inspirieren. Gleichzeitig bereiten sich die Grünen auf den Wahlkampf vor, wobei Habecks Vertraute Schlüsselpositionen einnehmen sollen. Dennoch drohen Konflikte mit dem linken Flügel der Partei, der skeptisch gegenüber Habecks pragmatischer Politik steht. (Markus Becker/Marcel Rosenbach/Christoph Schult/Severin Weiland, Spiegel)

Potzblitz, er schmiedet Pläne, und noch dazu hinter den Kulissen! Was kommt als nächstes, Akten Bearbeiten im Büro? Aber Spaß beiseite, Habeck wäre vollkommen bekloppt würde er keine Pläne machen. Dieses dilettantische Unvorbereitet-Sein hat die Grünen schon 2021 viel gekostet. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit auf eine Habeck-Kanzlerschaft, höflich ausgedrückt, nicht unbedingt hoch. Aber der Anspruch ist formuliert, und wenn man das macht, sollte man es richtig machen. Und ein Regierungsprogramm fertig in der Schublade zu haben schadet auch nicht, denn der Herbst 2025 ist noch weit und man weiß nie, ob man nicht doch wird regieren müssen. Auch die Strategie ist stabil. Genauso wie Scholz' einzige Hoffnung ist, dass Merz oft genug über die eigenen Füße fällt, muss Habeck darauf hoffen, dass es ihm gelingt, die gerade etwas heimatlos gewordene moderne Mitte zu besetzen, wie es bereits kurz 2019 zu gelingen schien. Den Effekt des Charismas halte ich für sehr überschätzt (wir hatten das bereits diskutiert); ich fürchte dagegen weniger eine Rebellion der Parteibasis. Sowohl Grüne als auch SPD sind derzeit bemerkenswert geschlossen. Revolten der Parteibasis gegen einen zu wenig linientreuen Kurs plagen vor allem die FDP und in etwas geringerem Umfang die CDU, eine Umkehrung der klassischen Dynamik zwischen progressiven und bürgerlichen Parteien, die nicht aufhört, mich zu faszinieren.

2) „Man kann nur beten, dass Scholz recht hat. Sonst wird er an vielen Gräbern stehen müssen“ (Interview mit Sönke Neitzel)

Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte, stellt in einem Interview mit der Welt am Sonntag klar, dass Deutschland noch nie eine postheroische Gesellschaft war, auch wenn Teile der kulturellen und politischen Elite dies nahelegen. Er kritisiert die „Politik der Diagonalen“ von Kanzler Scholz, die zwischen Bundeswehr-Aufrüstung und der linken SPD balanciert, was zu unzureichenden Verteidigungsmaßnahmen führe. Trotz großer Investitionen in die Bundeswehr seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs reiche dies nicht aus, um Deutschland und seine Bündnispartner langfristig zu verteidigen. Neitzel betont, dass die Aussetzung der Wehrpflicht und die unzureichenden Investitionen in Verteidigung die militärische Handlungsfähigkeit Deutschlands stark beeinträchtigen. Er fordert mehr öffentliche Debatte und intellektuellen Mut seitens der militärischen Führung, um die Folgen politischer Entscheidungen klar darzustellen. Auch die europäische Integration im Verteidigungsbereich sei entscheidend, jedoch mangele es an visionären Führungspersönlichkeiten wie früher. Neitzel befürchtet, dass größere Katastrophen notwendig sein könnten, um echte Veränderungen herbeizuführen. (Thorsten Jungholt/Jacques Schuster, Welt)

Mir ist Neitzels Sprache etwas zu scharf, er geht in einigen Urteilen zu weit und ist etwas unreflektiert bezüglich der "guten alten Zeit". Abgesehen davon aber ist das Interview sehr spannend, weil es in die Tiefe geht und auch die Details der Problematik angeht. Ich bin unsicher, inwieweit die Wiedereinführung der Wehrpflicht (ggf. nach dem "schwedischen Modell", das gerade irgendwie als Allheilmittel angepriesen wird (mehr dazu siehe etwa hier)) die Personallücke der Bundeswehr zu lösen imstande ist. Was ich allerdings einen wichtigen und bisher völlig unterbeleuchteten Punkt finde, den ich auch nicht auf der Platte hat, ist die Kritik an der Mentalität der Offiziere und ihrer Verweigerung einer Diskursteilnahme. Denn tatsächlich gehört zum Leitbild der "Bürger*innen in Uniform" auch die öffentliche Meinungsäußerung. Institutionen profitieren massiv davon. Glaubt jemand, das Bildungssystem wäre weniger kaputt, wenn es nicht engagierte Lehrkräfte gäbe, die sich immer wieder zu Wort melden und eigenständig einen Reformdiskurs betreiben?Es wäre tatsächlich mehr als angebracht, würden die Soldat*innen etwas Ähnliches tun, und für die Herausbildung einer realistischeren Sicht auf Strategie und die Möglichkeiten und Grenzen des Einsatz des Militärs auch wohltuend.

3) Deutschland sucht den Chef

Der Artikel zieht Parallelen zwischen der Endphase der Kanzlerschaft Helmut Kohls und der möglichen Entwicklung unter Olaf Scholz. Während Kohls Regierungszeit als eine Ära endete, wird Scholz' Zeit eher als Episode betrachtet, die sich zunehmend in einer Farce erschöpft. Der Autor beschreibt Scholz als einen Kanzler, der den politischen Realitätssinn verloren hat und seine Partei in die Niederlage führt, während die Koalitionspartner widerwillig hinter ihm stehen. Die Union unter Friedrich Merz wird als strategisch schwach dargestellt. Obwohl Merz als Kanzlerkandidat gewählt wurde, fehlt es der CDU an konkreten Reformvorschlägen und einem kohärenten Plan, wie sie anders und besser regieren will. Besonders in der Migrationspolitik zeigt sich zwar Einigkeit, darüber hinaus bleibt die Partei jedoch orientierungslos. Merz' Umgang mit der Vergangenheit der CDU unter Angela Merkel sowie sein Festhalten an populistischen Positionen gegenüber den Grünen führen dazu, dass die Partei sich im strategischen Nirgendwo befindet. Hendrik Wüst, Ministerpräsident von NRW, wird als möglicher künftiger Führer der Union ins Spiel gebracht. Er demonstriert Geschlossenheit und Weitsicht, was ihm potenziell den Weg ebnen könnte, um Merz zu ersetzen, sollte dieser in den kommenden Monaten weitere Fehler machen. (Dieter Schnaas, Wirtschaftswoche)

Ich verstehe diese Kolumne nicht. Klar hat Wüst Ambitionen, aber Kanzlerkandidatur 2029? Die gibt es für ihn nur, wenn Merz 2025 nicht Kanzler wird. Wird er Kanzler, ist er der Kandidat 2029. Davon abgesehen ist Wüst jetzt, 2024, populär. Was wird 2029 sein? Keine Ahnung. Viel absurder aber finde ich dieses Dauergeraune von einer Kanzlerkandidatur Pistorius', noch dazu mit einem "strammen Kurs der Mitte" oder so Unfug. Niemand weiß, was Pistorius als Kanzlerkandidat tun würde. Pistorius ist populär, weil er NICHT Kanzlerkandidat ist. Er ist der eine Minister der Regierung, der gerade den Merkel-Effekt genießt: er ist Teil der Regierung, aber alle tun so, als ob nicht. Er steht quasi außerhalb. Und keiner kennt den Typen. Wenn in einer willkürlichen Umfrage auf der Straße 2 von 3 Leuten wissen, wer er ist, wäre ich ehrlich überrascht, und wenn irgendwer irgendwas benennen könnte, was ihn auszeichnet, noch viel mehr. Das ist eine Projektionsfläche. Ich habe dieses journalistische Spiel schon so oft erlebt. Wir hatten es zuletzt 2017 bei Martin Schulz, und wir wissen alle, wo das geendet hat.

4) On charisma and greyness under communism

Der Text reflektiert über die „Grautönigkeit“ der kommunistischen Führer nach der revolutionären Ära und beleuchtet sowohl die ästhetischen als auch ideologischen Gründe für ihren unauffälligen Führungsstil. Der Autor stellt infrage, warum manche langgediente Führer wie Tito oft als charismatisch bezeichnet werden, obwohl dies in westlichem Sinne eigentlich nicht zutrifft. Der Mangel an charismatischen Persönlichkeiten unter der zweiten Generation kommunistischer Führer wird sowohl auf bürokratische als auch ideologische Gründe zurückgeführt. Die kommunistischen Regime, die technokratische und unscheinbare Menschen bevorzugten, wählten oft Führer aus, die keine Individualität verkörperten. Doch über die Bürokratie hinaus erklärt der Autor, dass „Charisma“ in der kommunistischen Ideologie unerwünscht war. Diese Führer sahen sich nicht als individuelle Persönlichkeiten, sondern als Werkzeuge der Geschichte und des Kollektivs. Ihre Bedeutung lag darin, dass sie die Partei und die historische Entwicklung verkörperten, nicht darin, dass sie als Einzelpersonen hervortraten. Selbst wenn Persönlichkeitskulte um Figuren wie Stalin, Mao oder Tito aufgebaut wurden, war dies kein Ausdruck von Charisma im traditionellen Sinn, sondern eine Form der Instrumentalisierung ihrer Person durch die Geschichte. Individualismus, insbesondere in charismatischer oder auffälliger Form, galt in kommunistischen Systemen als verdächtig und wurde abgelehnt. Der Text geht weiter auf die Ästhetik der „Grautönigkeit“ ein, die viele Aspekte der kommunistischen Kultur prägte. Diese Schlichtheit war keine zufällige Folge, sondern eine bewusste Ausdrucksform kommunistischer Werte. Die graue Kleidung der Führer, die unscheinbare Architektur und die allgemeine Nüchternheit spiegelten ein Ideal der Gleichheit und Funktionalität wider. In dieser Ästhetik war das „Grau“ nicht als Makel gedacht, sondern als Tugend, die betonte, dass kein Einzelner über dem Kollektiv stehen sollte. Kurzum, die „Grautönigkeit“ der kommunistischen Führer war kein Defizit, sondern Ausdruck einer Ideologie, die Uniformität und die Unterdrückung des Individuellen zugunsten des kollektiven Fortschritts und der historischen Notwendigkeit schätzte. (Branko Milanovic, Global Inequality)

Ich finde Milanovics Betrachtungen des Kommunismus immer sehr lesenswert. Auch hier analysiert er mit großer Sachkenntnis. Die Funktionsweise der Diktatur kann nur verstanden werden, wenn man seine eigene Legitimationsbasis kennt und versteht. Das ist oftmals aber nicht der Fall. Da wird dann mit großem Unverständnis etwa auf die DDR geblickt, die aber nur dann begriffen werden kann, wenn die ideologischen Grundlagen des Systems (und damit ist nicht gemeint, den Fünf-Jahr-Plan scheiße zu finden) verstanden sind. Wie etwa kann ein solches Land sich ernsthaft als "demokratisch" begreifen, ohne rot zu werden? Erst wenn mir das klar ist, kann ich die Diktatur durchdringen. Verweigere ich diese Auseinandersetzung, bleibe ich immer bei dumpfer, mit Ablehnung gepaartem Unverständnis. Die Ablehnung ist gut, das Unverständnis weniger. Gleiches gilt dann auch für Architektur und Co. Erkenntnisgewinn ist immer etwas, nach dem man streben sollte, und die Auseinandersetzung über den Kommunismus würde davon profitieren, wenn man ihn mehr verstehen würde - und aus dieser Kenntnis heraus ablehnen.

5) The return of Ta-Nehisi Coates

In seinem neuen Buch „The Message“ kehrt Ta-Nehisi Coates zur Non-Fiction zurück und beschäftigt sich unter anderem mit der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete. Coates vergleicht das Erlebte mit dem Jim-Crow-Süden der USA, beschreibt die offensichtliche Ungleichheit zwischen jüdischen und palästinensischen Bürgern und kritisiert, dass der Westen diese Besatzung größtenteils verschweigt. Für ihn ist die israelische Besatzung ein moralisches Verbrechen, das nicht durch die Geschichte des Holocausts gerechtfertigt werden könne. Coates' Buch zieht Parallelen zwischen der Rassendiskriminierung in den USA und der Situation in Israel und Palästina, und er zeigt auf, wie die amerikanische Berichterstattung das Ausmaß der Ungerechtigkeit verschleiere. Während er Israel früher als "die einzige Demokratie im Nahen Osten" betrachtete, erschütterte ihn die Realität, die er während einer Reise im Jahr 2023 sah: Mauern, Checkpoints und ein Gefühl der permanenten Überwachung. Coates sieht seine Mission darin, dieses Unrecht offenzulegen, ähnlich wie er es bereits mit dem Thema der Reparationen für die Nachfahren von Sklaven in den USA tat. Diesmal jedoch könnte seine Kritik an der israelischen Politik seine Karriere gefährden, da er sich gegen das Establishment stellt, das ihn einst feierte. (Ryu Spaeth, New York Magazine)

Dieses Porträt von Coates liest sich sehr faszinierend. Relevant scheint mir aber vor allem, was Kevin Drum in seiner Reaktion "The miseducation of Ta-Nehisi Coates" aufzeichnet: Wie jemand mit Coates' Intelligenz so komplett überrascht von dem sein kann, was er in Israel gesehen hat, ist mir völlig unklar. Ich verstehe emotional ja den Impuls zu sagen "das ist nicht kompliziert, Apartheid und Schluss", aber es ist nun mal kompliziert. Der Vergleich mit der Sklaverei in den USA ist einfach komplett unhaltbar, denn die Sklaven waren weder vorher da noch hatten sie ihren eigenen semi-autonomen Staat noch haben sie ständig Raketen auf Charleston abgeschossen oder Selbstmordattentate in Raleigh durchgeführt. Deswegen ist auch die Verkürzung der Anwendung von post-kolonialer Theorie so wenig tragfähig, die gerade unter Linken leider sehr en vogue ist.

Resterampe

a) Mich fasziniert endlos, wie das ignoriert werden kann.

b) Stimme Habeck zu. Überraschend, ich weiß.

c) Wenn Jan Fleischhauer links von Scholz und Merz steht, weißt auch, was los ist.

d) Gehört halt auch zur Nukleartechnologie.

e) Als Nachtrag zu meinem Punkt mit den Zahlen zur Migration und den wirtschaftlichen Folgen.

f) Mal wieder ein Beispiel, wie sinnlos es ist zu versuchen, mit normaler Pressearbeit, Fakten etc. gegen die Rechtsextremen anzugehen.

g) Sehr gut zu Israel und Hisbollah.

h) Diese Argumentationslinie kann ich auch einfach nicht nachvollziehen.

i) Immer die gleichen Rezepte.

j) Diese kommunistischen Massenmörder. Die Zahlen echt immer wieder krass.

k) Echt abgedreht.

l) Guter Vergleich der GOP als failed state. Die Fähigkeit ist ja tatsächlich enorm wichtig.

m) Was Minkmar sagt.

n) So wichtig.

o) Joa. Habeck ist sicherlich nicht der alleinige Faktor hier, aber auch nicht unbeteiligt.

p) Die Vorschläge in diesem Artikel klingen ziemlich sinnvoll.

q) Republicans and their conspiracy theories.

r) Was sagt das Völkerrecht zu den Pager- und Walkie-Talkie-Explosionen?

s) Sehr wichtiger Beitrag zu Deutschlands außenpolitischer Situation.


Fertiggestellt am 24.09.2024

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