Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Breaking a Child’s Will

Der Artikel beleuchtet die Praxis der körperlichen Bestrafung in evangelikalen Haushalten in den USA und beschreibt sie als ein tief verwurzeltes, gewaltbasiertes Erziehungssystem. In vielen Fällen wird körperliche Gewalt als religiös gerechtfertigt dargestellt, wobei Eltern glauben, dass Gehorsam gegenüber Gott auch Gewalt gegenüber ihren Kindern erfordert. Die Geschichten von Überlebenden zeigen, dass diese Bestrafungen häufig systematisch und brutal waren, oft begleitet von religiöser Rechtfertigung und extremer Kontrolle. Die Autor*innen schildern das wiederkehrende Motiv des "Holzlöffels" als Symbol der Gewalt, das in den Erinnerungen vieler Betroffener präsent bleibt. Bekannte evangelikale Autoren wie James Dobson propagierten in ihren Büchern wie Dare to Discipline eine autoritäre Erziehung, die Gehorsam erzwingen und die individuelle Willensstärke brechen soll. Diese Doktrin hat über Jahrzehnte Einfluss auf evangelikale Gemeinschaften ausgeübt, und viele Erwachsene tragen heute noch psychische und physische Narben von der Misshandlung in ihrer Kindheit. Besonders problematisch ist die Vermischung von Gewalt und Liebe, die den Betroffenen oft lebenslange emotionale und psychologische Schäden zufügt. (Talia Lavin, The Cut)

Ich habe in meinem Grundsatzartikel zu Strafen bereits thematisiert, dass Strafen generell - und Körperstrafen sowieso - in der Erziehung wenig bis nichts verloren habe. Sie haben nur sehr selektiv wirkungsvolle Bereiche. Was hier beschrieben wird, ist aber einem komplett anderen Level. Zum einen sind diese Körperstrafen eine so krasse Verletzung jeglicher universeller Rechte (wir haben das diskutiert), ein solcher Verstoß gegen die Zivilisation, dass einem der Atem stockt. Dazu ist die Strafe auch vollkommen wirkungslos, wie David Roberts bereits 2018 hier geschrieben hat. Es ist aber auch auffällig, wie irrelevant das ist, weil es um Normen geht. Die Rechte des Kindes stehen in direktem Kontrast zu den Rechten der Eltern, die in diesem Fall absolut gesetzt werden. Verbrämt wird das Ganze noch damit, dass man die Opfer zu Mittätern macht, indem man behauptet, dass es in ihrem Interesse geschehe. Gegen solche reaktionären, gewalttätigen Vorstellungen hilft nur Gesetzeskraft. Und die fehlt in den USA völlig. Es ist wirklich ekelhaft, was diese Menschen tun.

2) Facing war in the Middle East and Ukraine, the US looks feeble. But is it just an act?

Der Artikel argumentiert, dass die US-Politik unter der Biden-Administration nicht nur reaktiv auf die globalen Krisen in China, der Ukraine und dem Nahen Osten reagiert, sondern eine revisionistische Strategie verfolgt, die das geopolitische Gleichgewicht bewusst verändern soll. Während die USA unter Trump explizit revisionistisch agierten, insbesondere mit „America First“ und Handelskonflikten mit China, setzt Biden ähnliche Prinzipien fort, indem er Allianzen neu definiert und strategische Interessen durch gezielte Eskalationen vorantreibt. Im Fokus stehen dabei China, wo der Technologiewettbewerb verschärft wird, die Ukraine, wo der Westen Ukraine als Stellvertreter im Krieg gegen Russland nutzt, und der Nahe Osten, wo die USA Israel weitgehend unterstützen, während Hamas und Hisbollah bekämpft werden. Die USA verfolgen eine Politik der Spannungseskalation, die weniger auf eine Rückkehr zum Status quo abzielt, sondern darauf, geopolitische Macht neu zu verteilen, was der Artikel als bewusste Fortsetzung neokonservativer Ambitionen der 1990er Jahre interpretiert. (Adam Tooze, The Guardian)

Es fällt mir schwer, mich auch nur an die Grundargumentation von Tooze zu machen, weil ich so viel "Israelkritik" dieser Tage so abstoßend finde. Aber grundsätzlich lässt sich das voneinander trennen. Es ist ja - wie Tooze selbst schreibt - problemlos möglich, dass Israel Opfer eines furchtbaren Terroranschlags ist UND dass sowohl Netanyahu als auch die USA die Gelegenheit zur Umsetzung von Politiken nutzen, die durchaus aggressiv und auf system change gerichtet sind. Ich habe keine Ahnung, wie viel da dran ist. Aus meiner Perspektive ohne Insiderinfos klingt Toozes Theorie genauso glaubwürdig wie die offizielle Variante des Reagierens auf Ereignisse. Dass da ein Stellvertreterkrieg stattfindet kann dagegen zumindest für die Hisbollah glaube ich als völlig gesichert angesehen werden, was sich ja auch an den Allianzen in der Region zeigt: wenn etwa Saudi-Arabien Raketen aus Houthi-Gebiet auf Israel abfängt, dann sicher nicht aus Liebe zum zionistischen Projekt. Das Ganze ist ungemein verworren und zersplittert, und das sollte allen, die sich dazu äußern, eine gewisse Demut einimpfen.

3) Political Journalism Is Becoming Increasingly Irrelevant

Der Artikel argumentiert, dass Kamala Harris' Wahlkampfstrategie, sich vermehrt auf unkonventionelle Medienplattformen wie Podcasts und Shows zu konzentrieren, eine durchdachte und effektive Taktik ist, um Wähler zu erreichen. Im Gegensatz zu traditionellen Medieninterviews, die oft konfrontativ und auf oberflächliche politische Prozesse fokussiert sind, bietet diese Strategie Harris die Möglichkeit, in entspannteren Formaten ihre Persönlichkeit, Werte und Lebenserfahrungen zu zeigen. Dies könnte insbesondere unentschlossene Wähler ansprechen, die weniger an detaillierten politischen Plänen interessiert sind, sondern mehr Wert auf Charakter und persönliche Geschichten legen. Der Autor argumentiert, dass die traditionelle Medienlandschaft an Einfluss verliert, während Harris durch Plattformen wie „Call Her Daddy“ und Howard Stern eine jüngere, weibliche Zielgruppe anspricht und ihre relatierbaren Familienwerte hervorhebt. Diese „Vibes-Kampagne“ wird als zeitgemäße und intelligente Medienstrategie dargestellt, um Wähler dort abzuholen, wo sie sind, anstatt auf altmodische Medienformate zu setzen. (Michael Cohen, Truths and Cons)

Ich denke, das ist keine grundsätzlich schlechte Entwicklung. Ich habe bereit darüber geschrieben, dass die Medien im Endeffekt kein großes Vertrauen durch Harris verdient haben. Dazu kommt der von Cohen genannte Effekt, dass auch die Qualität kein Argument für einen Zugang über die Medien ist. Wenn das Gerede davon, dass es um Policy gehe und man schön alles darstellen müsse wenigstens stimmte, wäre das ja eine Sache. Aber zahlreiche Medien, allen voran wie so oft die New York Times, hatten wochenlang geklagt, dass Harris keine Interviews gebe und dass ihre Policy-Plattform nicht detailliert genug sei. Als sie dann eines gab und Policy-Vorschläge machte, wurden diese nicht rezipiert und stellenweise sogar beklagt, sie gebe zu detaillierte Vorschläge! Angesichts einer solchen Medienlandschaft macht es tatsächlich mehr Sinn, auf andere Kommunikationswege umzusteigen. Die Republicans machen das ja mittlerweile seit über 30 Jahren.

4) Oweia, das war nix

Der Artikel kritisiert Friedrich Merz' Rede auf dem CSU-Parteitag als oberflächlich und wenig inhaltlich substanziell. Obwohl Merz freundlich empfangen wurde und seine Aussagen bei den Delegierten gut ankamen, fehle es ihm an konkreten Vorschlägen, insbesondere in der Wirtschaftspolitik. Merz stellt sich als Kandidat für einen „Kurswechsel“ dar, fordert beispielsweise mehr Kontrolle in der Migration und die Abschaffung des Bürgergeldes, bietet jedoch keine detaillierten Pläne an, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Besonders auffällig sei, dass Merz auf dem Feld der Wirtschaftspolitik, obwohl er hier über Expertise verfüge, nur vage Schlagworte präsentiere, ohne konkrete Lösungen für zentrale Fragen wie Strompreise, Strukturwandel oder den Umgang mit China zu liefern. Der Autor betont, dass Merz, um eine echte Chance auf das Kanzleramt zu haben, seinen Diskurs vertiefen und in den „Kanzlermodus“ wechseln müsse. Andernfalls könnte sich das Bild eines Politikers festigen, der große Reden hält, aber keinen klaren Plan hat. (Veit Medick, Stern)

Ich halte das für eine fundamentale Fehleinschätzung. Erstens ist eine Rede auf dem CSU-Parteitag nicht der Ort, an dem ein CDU-Parteivorsitzender seine Wahlkampfplattform ausformuliert. Und zweitens und viel bedeutender scheint mir hier dieselbe Mirage aufgebaut zu werden, die auch den Journalismus in den USA in eine völlig falsche Richtung treibt. Die Gefahr für Merz ist nicht zu wenig Substanz, sondern zu viel. Er wird keine Wählenden verlieren, weil diese sich brennend für die Details seiner künftigen Wirtschaftspolitik interessieren und stattdessen zu den Grünen wandern, bei denen ich ja zu 90% sicher bin, dass sie dumm genug sind, das alles auszubuchstabieren. Sondern er wird Wählende verlieren, wenn zu viel über seine Policy bekannt ist. Das hat einerseits den Grund, der für alle gilt, dass das alles in den Medien gerne zerlegt wird, die stets behaupten, dass es diese Diskussion brauche, um sich dann auf irgendein Minidetail zu konzentrieren und den Rest zu ignorieren. Andererseits hat es aber auch den Grund, dass Merz' Positionen nicht wirklich mehrheitsfähig sind. Er wird Kanzler, wenn er die große Alternative zur Ampel ist und möglichst vage bleibt. Je mehr Menschen ihre Hoffnungen und Wünsche auf ihn projizieren können, umso besser. Jede Klarheit außer "die Ampel ist scheiße" schadet da. Und die Konservativen waren nie so blöd wie die Linken, das zu vergessen. Die können Wahlkampf.

5) Es gibt gute Gründe für die 1000-Euro-Prämie – und noch bessere dagegen

Der Artikel analysiert die geplante 1000-Euro-Prämie der Ampel-Regierung für Langzeitarbeitslose, die mindestens ein Jahr in einem Job bleiben, und kritisiert sie als oberflächliche Lösung eines tiefer liegenden Problems. Obwohl die Idee auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, wird darauf hingewiesen, dass es strukturelle Mängel im Bürgergeldsystem gibt, die nicht durch eine einmalige Prämie behoben werden können. Der Artikel betont, dass viele Langzeitarbeitslose mit psychischen und sozialen Problemen zu kämpfen haben und Unterstützung benötigen, während andere mehr Druck statt Anreize brauchen. Insbesondere die wachsende Gruppe von Nicht-Deutschen, die Bürgergeld bezieht, habe oft Schwierigkeiten mit Qualifikationen und Sprachkenntnissen, was die Integration in den Arbeitsmarkt erschwere. Außerdem wird hervorgehoben, dass ein Großteil der Arbeitslosen, die einen Job finden, nach kurzer Zeit wieder auf Bürgergeld angewiesen ist. Die Prämie anerkennt letztlich das Problem, dass es sich für viele nicht lohnt, aus der Bürgergeld- und Teilzeitarbeit in eine sozialversicherungspflichtige Anstellung zu wechseln. Stattdessen seien tiefgreifende Reformen im System notwendig, um die Anreize zur Arbeit nachhaltig zu verbessern. (Jan Klauth, Welt)

Dieser Sturm im Wasserglas ist mittlerweile auch bereits wieder vorbei, aber ich finde die Debatte grundsätzlich instruktiv. Wie man in diesem lesenswerten Thread von Klaus Seipp sehen kann, ist eine marginal positive Wirkung der Prämie durchaus möglich. Aber darum geht es mir an der Stelle gar nicht. Ich finde den Vorschlag deswegen so bemerkenswert, weil er weitgehend unparteilich ist. Hätte ihn die FDP gemacht, hätte das genauso gepasst wie wenn er von der SPD, der CDU oder wie jetzt von den Grünen gekommen wäre. Die Begründung wäre jeweils eine andere gewesen - quasi das Framing -, aber grundsätzlich ist die Idee überall andockbar. Dasselbe gilt spiegelbildlich für die Reaktion, und das ist der für mich faszinierendste Punkt. Da der Vorschlag von Habeck kommt, wird er natürlich von den Bürgerlichen abgelehnt (wie man ja auch an der überraschend verhaltenen Kritik oben sehen kann). Aber ich bin ziemlich sicher, dass wenn Lindner ihn gemacht hätte eine ähnliche Ablehnung aus dem progressiven Spektrum käme, vermutlich mit irgendwelchen Argumenten von der verletzten Würde der Arbeitslosen. Maßnahmen wie diese sind ein gutes Beispiel für Dinge, die einfach unter dem Radar bleiben sollten. Man sollte es machen, schauen ob es tut (denn das weiß es eh niemand, man kann nur vermuten!) und es gegebenenfalls wieder abschaffen.

Resterampe

a) Spannendes Doppel-Interview in der ZEIT zur Abschreckung. Sauer überzeugt mich mehr.

b) Mal wieder ein Paradebeispiel für die dumme Abschiebepolitik. Dazu auch das.

c) Guter Punkt zum Steelmanning. Ich halte das auch für eine richtig dumme Idee.

d) Guter Thread zu Zöllen und außenpolitischen Interdependenzen. Verstehen wir in Deutschland auch nicht.

e) Da dräut eine Katastrophe. Und es gibt fast nichts, das wir tun können.

f) Korrekt.

g) Schrödingers Cancel Culture.


Fertiggestellt am 14.10.2024

Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?

Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: