Über Bildung und die Unmöglichkeit eines richtigen Denkens im falschen.

„Theorie der Halbbildung". So heißt ein Aufsatz, den einer der philosophischen Halbgötter, der längst legendäre Theodor W. Adorno, im Jahre 1959 vorgelegt hat, und zwar in einem Band mit dem Titel „Soziologie und moderne Gesellschaft", in dem die „Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages" nachzulesen sind, der im Mai 1959 in Bremen veranstaltet worden war. „Theorie der Halbbildung", das klingt wegen des ersten Wortes für diejenigen vielversprechend, die zum Beispiel Albert Einsteins Theorien des Kosmos und die Quantentheorie des Lichts studiert haben und von beiden physikalischen Ansätzen entzückt sind, aber man soll sich bei sozialwissenschaftlichen Texten nicht zu früh weder auf sprachliche noch auf eindringliche Qualität freuen. Schließlich heißt es etwa bei dem noch unter den Menschen weilenden Halbgott Jürgen Habermas vorsorglich, „Theorien sind Ordnungsschemata, die wir in einem syntaktisch verbindlichen Rahmen beliebig konstruieren", was dem eher bescheiden auftretenden Philosophen Karl Popper zufolge nichts weiter meint als, „Theorien sollten nicht ungrammatisch formuliert werden, ansonsten kannst du sagen, was du willst", wie es Habermas und andere Halbgötter ihrer Zunft dann auch fleißig tun.[1] Und so schreibt Adorno in seiner „Theorie der Halbbildung" einfach hin, was ihm so gerade einfällt, und das bedeutet unter anderem, dass der Soziologe zum Beispiel behauptet, so etwas wie „gesellschaftliche Bewegungsgesetze" zu kennen -- was nichts als den Newton Neid seiner Wissenschaft offenlegt --, und darüber hinaus beklagt Adorno eine „ungeformte Natur" und „deren Rohheit", was er als „das alte Unwahre" abtut, das er zu kennen vorgibt. Der Erfinder der Halbbildung kritisiert dann weiter nicht die halb, sondern „die ganz angepasste Gesellschaft" -- angepasst woran? --, die ihm aber „bloße darwinistische Naturgeschichte" zu sein und „das survival of the fittest" zu demonstrieren scheint, wobei Adorno peinlicherweise entgangen ist, dass das zitierte Überleben des Tüchtigsten gerade nicht von Charles Darwin stammt und vielmehr als eine tautologische sozialwissenschaftliche Aussage seiner Idee eines evolutionären Werden des Lebens aufgepfropft worden ist, wobei das angeführte Schlagwort die Kenner des Biologischen kalt lässt, die mehr auf Mechanismen der Selektion achten.

Vom Standpunkt eines Naturwissenschaftlers aus erweist sich Adorno auf diese Weise fast als ungebildet, was unter seinen Kollegen aber nicht weiter auffällt. Das heißt, man könnte ihm trotz seiner Wissenslücke eine Halbbildung zugestehen, wenn man sich auf „Die zwei Kulturen" einlässt, die erstmals im gleichen Jahr 1959 unterschieden worden sind, und zwar durch den britischen Physiker und Romancier Percy Snow, der damit die sich gegenseitig eher unverständlich begegnenden und lieber aus den Weg gehenden Bereiche der Kunst -- vor allem der Literatur -- und der Naturwissenschaften meint.[2] Snow beklagt sich in dem dazugehörigen Aufsatz über die snobistischen Intellektuellen in Cambridge, die zwar von Shakespeares Sonetten schwärmen, aber nichts vom Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik wissen wollen, die nicht einmal mit den einfachsten Begriffen der Naturwissenschaften wie denen der Kraft und der Masse zurechtkommen und für die eine „Industrieproduktion genauso geheimnisvoll wie Gesundbeten" ist, wie Snow sichtlich verärgert über den Hochmut der Ahnungslosen schreibt. Den deutschen Denker Adorno interessiert wie alle seine geisteswissenschaftlichen Kollegen ebenfalls nur eine Hälfte der Kultur, nämlich „jene Sphäre, auf welche der Begriff der Bildung primär zielt", wie er sich zu behaupten erdreistet, und das sind für ihn „Philosophie und Kunst", und damit Basta, wie ein ehemaliger Kanzler formulieren würde, der sicher viel von Adorno gehalten hat (auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass ihm jemals ausführlich dessen Schriften vor die Augen gekommen sind).

Menschen am Radio

Mit seiner „Theorie der Halbbildung" will der auch als Musikphilosoph bestaunte Adorno aber weniger die beiden genannten Kulturen gegeneinander ausspielen (von denen er sowieso nur eine anerkennt oder überhaupt kennt). Er will vielmehr die Menschen abfällig bedenken oder gar kränken, die sich bei dem bedienen, was der großbürgerliche und beamtete Denker als Massenmedien gerne gering schätzt und abwertet, und er meint damit in den 1950er Jahren das Radio und das Fernsehen, die das Volk „durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern beliefern", wie Adorno verächtlich schreibt. Im Anschluss daran zitiert er eine amerikanische Studie, die besagt, „dass von zwei Vergleichsgruppen, die sogenannte ernste Musik hörten und von denen die eine diese Musik durch lebendige Aufführungen, die andere nur vom Radio her kannte, die Radiogruppe flacher und verständnisloser reagierte als die erste."

Solche abschätzigen Bemerkungen sind deshalb ärgerlich, weil sich in den Jahren, von denen Adorno spricht, meine Eltern gar nicht in der Lage waren, sich Konzertkarten zu leisten, und ihnen die Musik Mozarts und Beethovens nur durch das Radio oder mit Hilfe einer Schallplatte zu Ohren kommen konnte. Deshalb empfinde ich es schlicht als unverschämt, wie der saturierte Professor Adorno da herumfeixt und fleißige Menschen von seinem höheren sozialen Status aus kaltschnäuzig abweist und verachtet. Er wettert gegen die Kulturindustrie, die seine persönliche Position und elitäre Einschätzung bedroht, und er spürt und bemerkt nicht, dass sie in den 1950er Jahren des Wiederaufbaus dank der damaligen Medien die einzige Hoffnung der kleinen Leute sein konnte, am Bildungsgeschehen teilzunehmen, und zu diesen hoffnungsfrohen Menschen zählten meine Eltern und eines ihrer Kinder, das sich schon bald über den akademischen Hochmut ärgerte, mit dem Adorno und seine Kollegen aus ihrem Gelehrtenhimmel auf ihn herabsahen, um unter sich bleiben und ihre Urteile fällen zu können.

Wenn ich damals groß genug gewesen und dem Philosophen der Halbbildung begegnet wäre, hätte ich ihn gerne gefragt, ob er erstens auch nur die geringste Ahnung von der Physik habe, mit der der Rundfunk funktioniert, und ob er zweitens etwas über die handlichen Transistoren sagen könne, die seit den 1950er Jahren als Radiogeräte mit gutem Empfang zu einem erschwinglichen Preis zu kaufen waren, und ob er drittens gelesen oder gehört habe, was Einstein 1930 zur Eröffnung einer Funkausstellung in Berlin gesagt hat.[3] Nachdem Einstein bei seinem Vortrag erst einmal von den großen Physikern geschwärmt hat, denen die Menschheit die Erkundung und Erzeugung von Licht- und Radiowellen zu verdanken hat -- Adorno kennt sicherlich keinen Gedanken der von Einstein genannten Forscher, zu denen unter anderem Michael Faraday, James C. Maxwell und Heinrich Hertz gehören --, nachdem also Einstein seine großen Kollegen aus dem 19. Jahrhundert aufgezählt und ihre Leistungen dem Publikum als Bildungsgut empfohlen hat, spricht er die von ihm begrüßten „An- und Abwesenden" direkt mit einer Mahnung an:

„Sollen sich alle schämen, die sich der Wunder von Wissenschaft und Technik bedienen und geistig nicht mehr davon verstehen als die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frisst."

Adorno müsste sich mit dieser Vorgabe ganz sicher schämen, und zwar erst recht in den 1950er Jahren, als die Radios durch technische Entwicklungen viel besser geworden waren und mittels höchst raffinierter Verstärkerschaltungen einen immer besseren und rauschärmeren Klang hervorbrachten und die Menschen entzückten. Die fabrizierten Wunderwerke hießen Transistoren und gaben den Empfängern ihren damals gebräuchlichen Namen. Ursprünglich -- und heute schließlich wieder -- meint Transistor ein elektronisches Bauelement, das um 1947 entwickelt worden war und mit Hilfe von Materialen funktioniert, die Halbleiter heißen, womit endlich der dritte Begriff aus der Überschrift auftaucht, der allein deshalb Aufmerksamkeit verdient, weil es heute in jedem der weltweit milliardenfach verbreiteten iPhones viele Milliarden (!) von Transistoren gibt, was den Gedanken nahe legen könnte, dass es sich lohnt, mehr von diesen wahrlich weltverändernden winzigen Wunderwerken zu wissen, wenn man nicht im Zustand der blöden Kuh verharren will, von der Einstein einst in Berlin gesprochen hat. Wer nichts von Halbleitern weiß, dem kann bestenfalls eine Halbbildung zugestanden werden, und wahrscheinlich nicht einmal das. Er oder sie sollten sich auf jeden Fall schämen, wie Einstein gesagt hat, vor allem, wenn er oder sie immer noch meint, lässig auf dieses wissenschaftliche Wissen verzichten zu können, um es nicht als Bildungsgut anerkennen zu müssen.

Halbleiter

Hier soll nun eine winzig kleine Hinführung zur möglichen Schambefreiung geboten werden: Seit dem 18. Jahrhundert versuchen Physiker elektrische Phänomene systematisch zu erkunden, was im 19. Jahrhundert zu einer Elektrifizierung der Haushalte führte. Als Giambattista Vico in der Epoche der Aufklärung seine „Scienzia nuova" vorstellte, also „Die neue Wissenschaft", haben Forscher erstmals zwischen Materialien unterscheiden können, die Strom entweder leiteten oder sein Fließen aufhielten. Ich habe diesbezüglich auf der Schule noch das Ohmsche Gesetz erläutert bekommen, das seit dem frühen 19. Jahrhundert den Zusammenhang zwischen einer Spannung und dem Stromfluss in einem Draht angeben kann und dafür die Größe des elektrischen Widertands eingeführt hat. Er galt als unveränderlich für eine bestimmte Materialsorte, und bei Leitern wie Kupferdrähten war der Widerstand sehr niedrig, während er bei Nichtleitern (Isolatoren) wie Keramik oder Glas extrem hoch lag. Zwar fiel irgendwann einigen Physikern auf, dass es zwischen den beiden genannten Polen noch etwas Drittes gab, das sie folglich Halbleiter nannten, aber sie legten diese Stoffe zunächst achtlos beiseite, ohne weiter oder genauer zu fragen, was denn dafür sorgte, dass anfangs ungewohnte Materialien wie Silizium, Bor, Selen oder Germanium ihre Leitfähigkeit änderten, wenn man etwa die Temperatur erhöhte oder ihnen Energie in einer anderen Form zuführte. Man suchte damals vor allem entweder möglichst gut leitfähiges oder zuverlässig isolierendes Material, da beide Stoffe für frühe technische Anwendungen gebraucht wurden, und was sollte man dabei mit Halbleitern anfangen, die den Betrieb nur zu stören schienen?

Das Interesse an diesen Stoffen nahm aber plötzlich zu, als der spätere Nobelpreisträger Karl Ferdinand Braun 1874 bei seinen Versuchen bemerkte, dass sich der Widerstand von Halbleitern mit der Intensität und Richtung des Stromes ändern kann, der durch sie fließt. Die bislang eher verpönten Stoffe konnten deshalb als Schalter verwendet werden und auch die Aufgabe von Gleichrichtern übernehmen, da sie sich in der Lage zeigten, aus einer Wechselspannung, wie sie heute an den Steckdosen abzugreifen ist, die Gleichspannung zu machen, mit denen man bevorzugt einige Haushaltsgeräte betreiben möchte. Insgesamt verbirgt sich hier eine lohnenswerte Geschichte der frühen Elektronik, die mit der Konstruktion von Dioden und ihren Plus- und Minuspolen begonnen hatte, die Strom nur in eine Richtung passieren ließen, und bald Trioden hervorbrachte, bei der einer Diode als drittes Bauelement zwischen die beiden Pole ein Gitter hinzugefügt wurde, an das man eine Spannung anlegen konnte, mit dessen Hilfe sich dann einlaufende elektrische Signale verstärken oder allgemein steuern ließen.[4] Vermutlich kommt das halbgebildeten Halbgöttern im Soziologenhimmel belanglos vor, aber die Geschichte geht immer weiter, weil Menschen neugierig sind, Wanderer bleiben und immer nach dem Besseren suchen, was bald nötig wurde.

Die eben erwähnten Bauelemente von Stromkreisen bestanden anfänglich aus evakuierten Glashüllen -- sogenannten Vakuumröhren --, in denen man im Fall der Triode zwischen das übliche Paar aus (negativer) Kathode und (positiver) Anode ein Gitter angebracht hatte. Die funktionierte zwar wunschgemäß, erwies sich aber als höchst anfällig und damit letztlich unbrauchbar. Es galt somit im 20. Jahrhundert, ein verlässlicheres Verstärker- oder Steuerelement zu finden, und nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Physiker gut genug mit Kristallen aus Halbleitern umgehen, um die empfindlichen Röhren durch robustere Bauelemente aus Festkörpern zu ersetzen. Das heißt, im Jahre 1947 konnte die wissenschaftliche Welt den ersten Transistor bewundern, der seinen Konstrukteuren John Bardeen, Walter Brattain und William Shockley 1956 den Nobelpreis für Physik eintrug, wobei der verwendete Kunstbegriff ein Kofferwort ist, das die englischen Ausdrücke „transfer" und „resistor" vereinigt. Die Bezeichnung „Transistor" lässt erkennen, dass in der dazugehörigen Konstruktion durch geeignete Kombination von Bauteilen ein elektrischer Widerstand übertragen und damit gesteuert werden kann. Die höchst raffinierte Vorgabe der heute milliardenfach in Milliarden elektronischen Geräten zuverlässig eingesetzten Transistoren besteht darin, dass sich Halbleiter unterschiedlich dotieren lassen, wie man sagt. Dies bedeutet konkret, dass man etwa in einen Kristall aus Silizium Phosphor- oder Boratome einbringen und den Halbleiter auf diese Weise punktuell variieren -- eben dotieren -- kann, wobei im ersten Fall an den entsprechenden Gitterplätzen ein Elektron zu viel vorhanden ist und im zweiten Fall eins zu wenig vorliegt, da Siliziumatome außen in ihrer Elektronenhülle vier Ladungsträger aufweisen, während es bei Phosphor fünf und bei Bor drei sind.

Wenn an einem Platz in einem Kristall vornehmlich aus Silizium ein (negativ) geladenes Elektron fehlt, spürt der Stoff das Loch als eine positive Ladung -- er ist p-dotiert, wie die Fachwelt sagt --, und wenn es in dem Festkörper ein Element mit einem Elektron zu viel gibt, liegt ein n-dotiertes Material vor, wie es heißt. Und wie so oft in der Wissenschaft -- auch wenn sich etwas beim ersten Hören und beim Anfertigen höchst schlicht anhört, kann es doch durch geeignete Kombination zu raffinierten Ergebnissen und eleganten Möglichkeiten führen, und so kam im Dezember 1947 der erste (noch klobig wirkende) Transistor zustande, dem damals kaum jemand angesehen hat, wieviel kleiner die Schaltung werden konnte, um zuletzt schließlich die Welt zu verändern.

Noch eine historische Anmerkung: Was eben über das Verständnis von Elektronen und Kristallen und die Konstruktion von Transistoren gesagt worden ist, wäre ohne die Quantenmechanik der Atome sowohl verborgen als auch unmöglich geblieben. Diese Quantentheorie der Materie ist von Physikern wie Max Planck, Albert Einstein, Niels Bohr, Werner Heisenberg und anderen erstmals in den 1920er Jahren entwickelt worden, und sie gar nicht genug bestaunt werden, auch wenn die Sozialphilosophen hierzu kein Wort zu sagen wissen und Habermas mit ihrer Hilfe lernen könnte, welche Ansprüche eine gute Theorie tatsächlich zu erfüllen in der Lage ist. Diese verbreitete (und von vielen Geistesarbeitern unbeeindruckt eingestandene) Ignoranz könnte als Ausgangspunkt für eine „Theorie der Unbildung" in den entsprechenden Kreisen dienen, unter der die öffentliche Debatte der Bedeutung von Wissenschaft allgemein leidet und die das Ziel, das man -- auch in Deutschland -- als „public understanding of science" propagiert hat, aktuell illusorisch werden lässt.

Die neuen Radios

Zurück zum Transistor: Bereits 1953 kamen erste Transistorradios auf den Markt, womit in den Geschäften Geräte zum Empfang von Rundfunksendungen gemeint sind, bei denen ausschließlich Transistoren als aktive Bauelemente zur Verstärkung von elektrischen Signalen eingesetzt wurden, was die Apparate schön kompakt und wenig reparaturanfällig werden ließ. Erwähnt werden sollte, dass es bald japanische Firmen waren, die den Elektronikmarkt mit eleganten Geräten aufmischten, wobei es vor allem ein Unternehmen mit dem Namen SONY war, das unter der Leitung von Masaru Ibuka und Akio Morita ab 1958 zum Weltführer aufstieg. Ich stelle mir vor, wie Adorno mit einem SONY Transistor am Schreibtisch sitzt und sich vielleicht wundert, wie dieses Klangwunder musikalischen Genuss auch dann möglich macht, wenn man keine teure Konzertkarte erworben hat und sich nun auf seinem Platz über das hustende Publikum ärgert.

Das genannte Jahr 1958 führt zu der Zeit zurück, in der Adorno die Hörer am Radio verunglimpft, da sie nicht in ein Konzert gehen können und vor den Lautmaschinen hocken bleiben. Man fragt sich, was er heute angesichts einer „Theorie der Unbildung" sagen würde, in dem Kulturpublizist Konrad Paul Liessmann verkündet, dass unter Bildung längst nur noch nützliche Informationen verstanden werden, während in soziologischen Texten die gute alte Bildung durch eine flotte Kompetenz ersetzt wird, was lustigerweise dazu geführt hat, dass sich Philosophen eine „Inkompetenzkompensationskompetenz" bei viele Kollegen diagnostizieren, auch wenn die das nicht zur Kenntnis nehmen. Mit diesem Ausdruck hat Odo Marquard 1973 das Herumhampeln bezeichnet, das Menschen an der Universität exerzieren, wenn sie vor den zu untersuchenden Phänomenen und ihrer Wissenschaft so stehen wie ein Ochse vor der frisch gestrichenen Stalltüre.

Kompensationssimulationskompetenz

Bekanntlich beklagt sich Goethes gelehrter Faust, „Denn eben, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein", und auf diese Weise bekommt die aktuelle Sau, die in der Bildungsdebatte durch das inzwischen digitale Dorf getrieben wird, immer wieder einen neuen Namen. Als man mit der Bildung nicht recht weiterkam -- und die Allgemeinbildung nicht nur an den Rand, sondern darüber hinausgedrängt und abgeschafft hatte --, tauchte wie von Zauberhand die „Kompetenz" auf, um die es von nun an gehen sollte und die gleich mindestens in Handlungs-, Methoden- und Fachkompetenz zerlegt wurde, um jeder und jedem die Möglichkeit zu geben, sich als kompetent zu begreifen. Vielleicht gibt es auch längst eine Kompensationssimulationskompetenz, wie der Konstanzer Hochschullehrer Volker Friedrich meint konstatieren zu können, um danach nur noch resignieren zu können.

Wie gesagt, „Denn eben, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein", und so wurde aus der Bildung die Kompetenz, aus der Vermittlung von Wissenschaft deren Kommunikation und aus den souveränen Theorien der Physik das belanglose Geschwafel von Sozialwissenschaftlern darüber, wie es Habermas so gerne von sich gibt. Für den in deutscher Republik massenhaft geehrten Halbgott fällt „die wissenschaftlich erforschte Natur aus dem sozialen Bezugssystem von erlebenden, miteinander sprechenden und handelnden Personen heraus", wie er schreiben kann, ohne dass jemand aufschreit. Für Habermas bleiben „die Erkenntnisse der Atomphysik ... für sich genommen, ohne Folgen für die Interpretation unserer Lebenswelt", wie er meint, um daraus den Schluss zu ziehen, dass die Kluft zwischen den beiden Kulturen „unvermeidlich" bleibt. Das hätte Habermas zwar gerne, aber die Lebenswelt tut ihm den Gefallen schon lange nicht mehr, und so verwendet sie lustig und fidel Ausdrücke wie den unternehmerischen Quantensprung, mit dem man allerdings auch in einem Schwarzen Loch verschwinden kann, wenn man nicht vorher der Kälte der sozialen Entropie zum Opfer gefallen ist oder in einem Spannungsfeld zerrissen worden ist.

Warum sollen es Menschen eigentlich nicht genießen können, sich über das zu unterhalten, was an der Natur erforscht werden kann -- die Quantensprünge zum Beispiel und die mit ihr mögliche Verschränkung der Wirklichkeit, die ihnen ein Ganzes ohne Teile beschert? Dabei hat der amerikanische Philosoph John Searle in seinem Buch über „Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit" längst festgestellt, dass „zwei Eigenschaften unserer Auffassung der Wirklichkeit nicht zur Disposition" stehen: „Für einen gebildeten Menschen unserer Zeit ist es unabdingbar, dass er über zwei Theorien unterrichtet ist: die Atomtheorie der Materie und die Evolutionstheorie der Biologie". Beide sind natürlich keineswegs so beliebig konstruiert, wie sich Habermas und Adorno das vorstellen, weshalb sich ja die naturwissenschaftsfeindlichen Intellektuellen von dieser Anstrengung fernhalten, die zudem eine Herausforderung für den Common Sense ist, der da schon länger nicht mitkommt. Auf jeden Fall werden mit der Feststellung von Searle plötzlich sehr viele Menschen ungebildet, auch wenn sie sich anders sehen, und einige kritische Philosophen und ihrer Anhänger zählen unweigerlich dazu -- auf jeden Fall bis zum Beweis des Gegenteils.

Bildung hat doch mit der Bereitschaft zum Dialog zu tun. Wer sie verwirft, erreicht nicht einmal die Halbbildung, die Adorno verachtet. Die Sozialphilosophen möchten nicht mit den Naturwissenschaften reden, sondern über sie richten und für sie entscheiden. Aber das wird nicht gehen. Ohne gegenseitige Anerkennung kann es keine Freiheit geben, wie die Herren wissen sollten. Bevor Adorno in seinen „Minima Moralia" den berühmten Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen" zu Papier bringt, spricht er von „einer lieblosen Nichtbeachtung für die Dinge, die notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt". Merkt dann niemand, dass der Theoretiker der Halbbildung genau das praktiziert, nämlich eine lieblose Nichtbeachtung der Dinge, die wie die Halbleiter für die Menschen gemacht worden sind? Naturwissenschaften wird von und für Menschen gemacht, und wer deren Einsichten und Möglichkeiten so verachtet wie die soziologischen Halbgötter es tun, der zeigt nur, dass es kein richtiges Denken im falschen gibt. Würden die Halbgebildeten mehr über Halbleiter wissen und die Vorzüge des Umschaltens kennen, das sie so wertvoll macht, könnte die Welt so gut werden, wie es sich die Menschen erträumt haben, denen die Geburt der modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert zu verdanken ist. Das „Asyl für Obdachlose", von dem in den Minima Moralia die Rede ist, könnte dann zu einer Heimat für die wissenschaftliche Bildung ausgebaut werden. Dafür müssten die Halbgötter so werden wie Halbleiter. Wer von ihnen fängt mit diesem Bildungsauftrag an?


  1. Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, München 1984, S. 112 ↩︎

  2. Helmut Kreuzer (Hrsg.), Die zwei Kulturen – Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, C.P. Snows Thesen in der Diskussion, München 1987 ↩︎

  3. Wer bei YouTube „Einstein 1930 Funkausstellung Berlin“ eingibt, bekommt ein etwa dreiminütiges Video zu sehen, auf dem man Einsteins Ansprache hören kann. ↩︎

  4. Ausführlich in Ernst Peter Fischer, Das große Buch der Elektrizität, Köln 2011 ↩︎

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