Opernkritik "Semele" ist eines der interessantesten Oratorien Händels, doch wie so oft geht die Neuinszenierung von Claus Guth völlig am Stück vorbei.
Georg Friedrich Händel ist unserem Zeitgeist näher als wir glauben. Anfang des 18. Jahrhunderts als junger Mann in Italien sozialisiert, wuchs er in eine liberale Epoche hinein, die seine Ästhetik grundlegend geprägt hat. Gerade die Opera seria, die Händels frühe Jahre in London bestimmte, ist mit ihrem Kastratenkult in seinen Travestien und sexuellen Ambivalenzen am ehesten mit der Punk-Kultur vergleichbar, die ganz ähnlich Ausdruck einer Liberalisierungswelle post 1968 war.
Doch erlebte Händel auch noch das Ende der liberalen Epoche. Der ästhetische Richtungswechsel, den er mit seinen Oratorien vollzog, reflektierte eben jenen Wandel im Zeitgeist, der wieder vermehrt von idealistischen Paradigmen geprägt war. Eben das, was wir ganz ähnlich auch in den letzten Jahren mit den Diskussionen um Missbrauch, Gerechtigkeit und Klimawandel erleben, die von den Peripherien in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen sind.
Die meisten Oratorien Händels bedienen sich entsprechend heroischer Erzählungen des Alten Testaments. „Semele“ bildet jedoch (gemeinsam mit „Hercules“) eine Ausnahme. Nicht nur im stofflichen Bezug zur antiken Mythologie sondern auch in der künstlerischen Ausrichtung. Formal und praktisch ein Oratorium (das heißt in englischer Sprache, mit Knabenchor und konzertant aufgeführt), gemahnen viele Elemente an die frühere liberale Opernästhetik Händels. Charles Jennens (Textdichter des „Messiah“) nannte „Semele“ durchaus zu Recht eine „bawdy opera“ (eine „obszöne Oper“).
In „Semele“ werden exakt jene „MeToo“-Konstellationen verhandelt, die aus dem Zusammenstoß zwischen alten und neuen Paradigmen entstehen. Eben jene Debatten um Machtasymmetrien und Machtmissbrauch, die die Diskussionen der letzten Jahre bestimmten und aktuell fast allwöchentlich in Affären um Chefredakteure, Rockstars, Schauspieler und Produzenten die Medien beschäftigen.
Charakteristisch für diese spätliberalen Konflikte ist, dass es weniger um den Gegensatz von Moral und Freiheit geht. Moral ist ein kollektivistisches Phänomen, das vor allem in Mangelgesellschaften entsteht. Vielmehr ist es eine von anhaltendem Wohlstand getragene sekundäre Liberalisierungswelle, bei der auch die bisher zu kurz gekommenen an den Segnungen von Selbstgenuss und Selbstverwirklichung teilhaben wollen.
War die erste Liberalisierungswelle mit dem Sprengen von Konventionen, mit Grenzüberschreitungen und Enthemmungen, von maskulinen Impulsen geprägt, hat diese zweite Welle eine dezidiert feminine Akzentuierung. „Semele“ ist denn auch vollkommen durchdrungen von weiblichen Selbstverwirklichungskonzepten. Und wie aus ihrer Inkompatibilität mit den Machtverhältnissen destruktive Potentiale und tragische Konstellationen entstehen.
Jupiter und Juno
Jupiter und Juno stehen als Herrscherpaar der antiken Mythologie für maskuline und feminine narzisstische Physiognomien, die sich entlang der Farbskala der Geschlechter entsprechend vermischen. Jeder, der einige Erfahrung in der Nähe von Chefetagen gemacht hat, weiß sehr gut, was Blitz und Donner Jupiters und die Saturnia-Verwandlungen Junos allegorisch bedeuten, kennen eben jenen notorischen Mangel an Impulskontrolle und die Anwandlungen von hysterischer Boshaftigkeit.
Jeder Mensch trägt diese narzisstischen Impulse in sich. Doch wie bei allen Psychopathologien ist beim Narzissmus das normale Equilibrium gestört, und diese selbstbezogenen Merkmale überwuchern und verdrängen soziale Impulse, die normalerweise das Gegengewicht bilden. Ein typisches Merkmal des Narzissmus ist denn auch ein akuter Mangel an Empathie.
Das allegorische Narrativ, dass Semele zerstört wird, wenn sich Jupiter ihr in seiner „wahren Gestalt“ zeigt, ist denn auch eigentlich relativ simpel. Während in „normalen“ Liebesbeziehungen die sexuellen und narzisstischen Aspekte allmählich von empathischen und sozialen Beziehungsaspekten abgelöst werden, geschieht das bei Narzissten nicht. Viele „MeToo“-Opfer sind nicht zuletzt davon erschüttert, mit welcher Kälte und Abweisung sie behandelt werden, sobald sie als Objekt des Begehrens uninteressant geworden sind.
In einem weiteren Kontext bedeutet die „wahre Gestalt“ auch schlicht die „harte Realität“. Ein Symptom unserer Zeit sind nicht zuletzt jene vom Liberalismus genährten inflationären Heilsversprechen. Dass jeder Einzelne seine Träume verwirklichen könne, dass es nur noch Gewinner gäbe, dass jeder gerettet wird und jedem Recht wiederfahren könne. Jede Hybris, ob mit guten oder bösen Intentionen, wird irgendwann von der Wirklichkeit eingeholt.
Semele
Diese Erschütterung Semeles wird auch dadurch vergrößert, dass die Fallhöhe umso höher ist. Denn natürlich gibt es umgekehrt auch den narzisstischen Rausch, das Objekt von Erwählung und Begehren zu sein, der umso intensiver ist desto bedeutender und berühmter der oder die Liebende ist. Denn jener Schatten der Berühmtheit ist eben jene allegorische Unsterblichkeit. Semele ist die Protagonistin jener mächtigen Sehnsucht, die vom Aschenputtel-Märchen bis hin zu „Sex and the city“ und „Bridgerton“ ein fester Topos der Kulturgeschichte ist, und dessen hypnotischer Appeal die jungen Männer und Frauen in die Backstagebereiche und Hotelzimmer treibt.
Händel hätte „Semele“ vielleicht nicht geschrieben, wenn er nicht zu dieser Zeit mit der Sängerin Élisabeth Duparc (genannt „La Francesina“) zusammengearbeitet hätte. Sie war die prima donna in seinen letzten Opern und bildete neben ihren Engagements für Händel auch ein spektakuläres Paar mit dem Kastraten Farinelli. Ihre Spezialität waren mit Koloraturen gespickte Vogelarien (wie „The morning lark“ in „Semele“).
Oft hielt man diese Arien für oberflächlich und selbstzweckhaft. Was durchaus nicht der Fall ist. Vielmehr offenbart sich in dieser trällernden Selbstbezogenheit eben jenes Bewusstsein um die eigene Attraktivität und die damit verbundene Wirkungsmacht, das die mythische Essenz des „Gesehenwerdens“ der Semele-Figur ausmacht. Als ihr Juno einen Spiegel vorhält, ist sie berauscht von der eigenen Schönheit, nicht unähnlich den unzähligen Frauen und Männer, die heute epidemisch vor Ihren elektronischen Geräten posieren.
Die Frucht von Jupiters und Semeles Verbindung ist der Gott Bacchus (Dionysos), der im Schenkel des Jupiter ausgetragen wird (womit sein illegitimer Status camoufliert wird). Er steht für das hedonistische Prinzip, Sex und Eros von der ehelich-dynastischen Verbindung zu trennen, das vor allem in liberalen Gesellschaften, sei es im aristokratischen Mätressenwesen oder der modernen Tinder-Kultur, gedeiht. Entsprechend zynisch ist denn auch das „lieto fine“ von „Semele“, wo es heißt: „free from care, from sorrow free, guiltless pleasures we‘ll enjoy“.
Congreve und Shakespeare
War die Erzählung um Jupiter und Semele Ovids „Metamorphosen“ entnommen, fügte das Libretto von William Congreve (ursprünglich für den Komponisten John Eccles geschrieben) noch Elemente hinzu, die unübersehbar von Shakespeares Komödien inspiriert sind.
Die Konstellation, dass der mittlere Teil des Dramas in einer parallelen Traumwelt spielt, in der erotische Fantasien ausagiert werden, kennt man aus „A Midsummer Nights Dream“ („Ein Sommernachtstraum“) und „As you like it“ („Wie es euch gefällt“). Und nicht nur erinnert die Iris-Figur an Puck. Mehr noch gibt es in der ambivalenten erotischen Dynamik von Jupiter, Juno/Ino und Semele Ähnlichkeiten mit den Konstellationen von Orlando, Rosalind und Phoebe oder Orsino, Olivia und Viola/Cesario (aus „The Twelfth Night“ / „Was ihr wollt“).
Nicht zuletzt adaptiert Congreve jenes Motiv des Doppelgängertums, von dem Shakespeare in Form von Travestien in seinen Komödien immer wieder Gebrauch macht. Denn es ist vollkommen offensichtlich, dass Juno und Ino eigentlich dieselbe Figur sind. Sie wurden nicht nur von derselben Sängerin gesungen, Esther Young. Auch die Choreographie im 2. Akt, dass Juno zunächst am Eingang des von einem Drachen bewachten Lustschlosses ihres Gatten steht, in dem dann Ino kurze Zeit später auftaucht, ist im Grunde unmissverständlich.
Semele und Athamas
„Semele“ eröffnet mit einer Anrufung der Götter Jupiter und Juno, die orakelmäßig über die geplante Ehe zwischen Semele und Athamas befragt werden. Dabei werden die universellen Fragen jeder ehelichen Verbindung gestellt, die heute noch genauso aktuell sind wie vor 3000 oder 300 Jahren. In diesem Kontext steht Jupiter für die vitalistischen Energien, narzisstischem Eros und sexuellem Begehren, während Juno die familiären Aspekte, Dynastie, Status, Haushalt und Nachkommenschaft verkörpert.
Es ist kein Geheimnis, und Thema unzähliger Stücke, Opern, Filme und Romane, dass die Ehe eine kompromissbehaftete Lebensentscheidung ist. Ist der Hormonrausch groß, ist die Ehe meist von eher minderer Halbwertszeit, während pragmatische Verbindungen in der Regel stabiler sind, doch mit ungestillten Sehnsüchten einhergehen.
Athamas ist aus Junos Sicht der perfekte Ehemann, Prinz eines verbündeten Königshauses, loyal, umgänglich, weswegen sie ihre Zustimmung signalisiert. Doch ist er auch von eher femininer Ausstrahlung. Es ist eine der wenigen Partien, die Händel für einen „male alto“ (was man heute als Countertenor bezeichnet), Daniel Sullivan, schrieb. Weswegen Jupiter seine Zustimmung verweigert.
Semele und Ino
Semele träumt von etwas anderem als Athamas. Doch was dieses andere ist, ist in mythischen Ambivalenzen und träumerischen Projektionen verwischt. In den Inhaltsangaben liest man immer, dass Semeles Schwester Ino in Athamas verliebt sei, doch wer den Text aufmerksam liest stellt fest, dass eben das nie eindeutig ausgesprochen sondern ganz im Gegenteil bewusst ambivalent camoufliert wird.
Neben der starken narzisstischen Anziehung, die Semele zur Machtfülle und dem damit verbundenem Luxus, den Jupiter verkörpert, hinzieht, gibt es eine parallele erotische Komponente. Wenn man weiß, dass in mythologischen Erzählungen Geschwisterbeziehungen oft für homosexuelle Paarbeziehungen stehen (etwa bei Castor und Pollux oder Penthesilea und Hippolyta), wundert man sich nicht, warum Ino plötzlich in der Traumwelt Semeles auftaucht. Dass es zwischen den beiden eine vitale erotische Spannung gibt exemplifiziert Händel auch ziemlich unmissverständlich dadurch, dass nicht Semele und Jupiter sondern Semele und Ino in diesem Akt im Duett singen.
Juno und Ino
Der psychologisch interessanteste Aspekt an Händels „Semele“ ist denn auch tatsächlich die Juno/Ino Figur und ihr obsessives Verhältnis zu Semele. In den beiden Figuren ist eben jenes bipolare Flackern externalisiert, das so charakteristisch für die Juno-Figur ist. Ein masochistisches Selbstmitleid, das vor allem in den Ino-Nummern des ersten Akt exponiert wird, und ein bösartiger Sadismus, der dann im zweiten und dritten Akt zum Ausdruck kommt, etwa in „Iris, hence away“, in der sie nebenher auch ihr Faktotum Iris angiftet.
Diese lesbischen Beziehungsspiele mit Unterwerfungsritualen und sadomasochistischen Adressierungen werden in Filmen wie „The Favourite“ oder den neueren „Sissi“ Versionen in den letzten Jahren immer unmissverständlicher thematisiert. Auch in einem der prominentesten Missbrauchsfälle der letzten Jahre, dem von Jeffrey Epstein, der gleich Jupiter zahllose minderjährige Mädchen in seine Luxusresorts lockte, gemahnt die Rolle von Ghislaine Maxwell, die nicht nur vom Missbrauch wusste sondern ihn aktiv beförderte, stark an diese spezifisch Juno-haften Psychopathologien.
Jupiter und Semele
Im Zentrum von „Semele“ steht jedoch das Verhältnis von Semele und Jupiter. Congreve und Händel skizzieren durchaus geschickt das transaktionelle dieses Verhältnisses, eben dadurch, dass Jupiter und Semele niemals gemeinsam singen sondern ihre Arien immer dialogisch verhandelnd aufeinander antworten.
Die Rolle des Jupiter wurde von John Beard gesungen, der in „Samson“ (1743, einem der erfolgreichsten Oratorien Händels) eben zum Star aufgestiegen war. Und natürlich war die Interaktion von Duparc mit ihm, beide Anfang 30 und in der Blüte ihrer Karriere, auf den kompetitiven Charakter zweier Alphatiere zugeschnitten, von dem auch die Screwball Hollywood Komödien lebten und die aktuell in Serien wie „The White Lotus“ zelebriert werden.
Ino und Athamas
Am Ende heiraten schließlich Ino und Athamas. Doch keineswegs aus Liebe. Das Paar hat im ersten Akt ein Duet „You’ve undone me“ („Du hast mich entblößt“), in dem durchaus eine Art Bonding stattfindet, jedoch nicht über erotische Attraktion als vielmehr über ein negatives Gefühl der Kränkung. Beide sind von Semele gedemütigt worden, beiden wurde klar gemacht, dass sie in Status und Attraktivität nicht mit Jupiter konkurrieren können. Entsprechend stand auch ihre Ehe unter einem negativen Stern. In den mythischen Erzählungen endet ihre Geschichte in einer Katastrophe.
Redundanz und Konfetti
Die Inszenierung von Claus Guth bei den Münchener Opernfestspielen war, auch wenn handwerklich durchaus brillant, für mich nur schwer zu ertragen. Was nicht nur an meiner Klamauk-Allergie liegt, sondern auch daran, dass jede Operninszenierung inzwischen wie ein unangenehmes deja-vu wirkt. Fast jede Inszenierung läuft heute darauf hinaus, dass die weibliche Protagonistin zum Opfer des bürgerlichen Patriarchats stilisiert wird.
Hat noch keiner im Opernbetrieb mitbekommen, dass diese Prämisse, die vor 50 Jahren vielleicht noch echte Sprengkraft hatte, inzwischen vollkommen redundant ist? Wir leben in einer Single-Gesellschaft und kein Mensch wird heute mehr gezwungen zu heiraten, geschweige denn wen. Außereheliche Affären sind so selbstverständlich, dass die Beziehungsberater der Zeitungen nicht etwa davon abraten sondern sich eher ausgiebig mit dem damit verbunden Kränkungsmanagement beschäftigen. Das am häufigsten dort zu lesende Thema ist inzwischen der „Tinder-Burnout“.
Nicht, dass die thematische Prämisse, die im Programmheft von Emilia Roig formuliert wird und offensichtlich die zentrale Idee des Regiekonzepts ist - nämlich, dass man sich im Herzen des soziokulturellen Mainstreams, für den die Hochzeit als pars pro toto steht, plötzlich fremd und als Außenseiter fühlen kann – eine interessante und auch ästhetisch produktive Idee wäre. Doch leider hat der Semele-Mythos und Händels Oratorium nichts damit zu tun. Semele ist eine Protagonistin an der Spitze der Gesellschaft, die ihre Machtmittel sehr gut kennt (und leider überschätzt), doch eben keine ohnmächtige Außenseiterin.
Daher laufen auch alle angedeuteten Konstellationen und Konflikte ins Leere. Und um die schiefen dramaturgischen Balken zu übertünchen, wird wie üblich dann Glitter, Revue und Slapstick aufgefahren. Für diesen billigen Affenzucker wurde das Regieteam dann auch enthusiastisch beklatscht.
Auch musikalisch war der Abend schwach. Brenda Rae, obwohl in ihrer theatralischen Aktion durchaus beeindruckend, war der anspruchsvollen Partie der Semele vokal nicht gewachsen, und man kann ihr allenfalls dafür Respekt zollen, dass sie ihre japsenden Koloraturen zu eine psychotischen Symptom umzufunktionieren wusste.
Michael Spyres als Jupiter und Jakub Józef Orlinski als Athamas sangen ordentlich, doch wirklichen Schmelz und Eros besitzen ihre Stimmen nicht. Vokal am überzeugendsten war Philippe Sly in den marginalen Rollen von Cadmus und Somnus. Emily D’Angelo vermittelte in ihrer Körpersprache durchaus Juno-haften Appeal und es ist schade, dass sie nicht Ino sang, wie überhaupt das Juno/Ino-Semele Verhältnis überhaupt keine Rolle spielte, so dass sie fast wie eine Statistin wirkte.
Über der Leitung von Gianluca Capuano lag das Dilemma aller neueren Händel Aufführungen und Einspielungen. Der Sinn für den Eros und das raffinierten Schweben barocker Tänze wie Menuett und Gavotte ist überhaupt nicht vorhanden, was dann mit einem pauschal aufgetragenen Drive und irgendwelchen Mätzchen kompensiert wird. Alles klang pauschal und ohne Kontur. So kommt Händels Musik nicht zu sich selbst.
Das ist schade, denn, wie anfangs angedeutet, wäre Händel eigentlich ein Komponist, der unsere zeitgenössischen Sensibilitäten viel treffender adressiert als etwa Wagner und Verdi, und uns viel mehr zu sagen hätte. Wenn man ihn denn sprechen ließe.
Photo Credit: Bayerische Staatsoper/Monika Rittershaus
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