Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Hans-Werner Sinns Klima-Thesen im Realitätscheck
Hans-Werner Sinn übt harsche Kritik an der deutschen Klimapolitik in einem Interview und wiederholt seine Ansichten in verschiedenen Medien. Er argumentiert, dass nationale oder europäische Klimabemühungen aufgrund des wirtschaftlichen Prinzips des Trittbrettfahrens sinnlos sind. Er behauptet, dass jedes Land lieber von den Maßnahmen anderer profitieren möchte, ohne selbst in den Klimaschutz zu investieren. Globale verbindliche Abkommen zur Emissionsreduktion sind schwer zu erreichen, weshalb er seinen Aufruf dazu als naiv ansieht. Trotzdem investieren viele Länder in grüne Technologien: Die USA, Europa und China unternehmen bedeutende Anstrengungen. Sinns Kritik an Elektrofahrzeugen und Wärmepumpen, die angeblich die CO2-Emissionen erhöhen, wird durch ihre Effizienzgewinne und die zunehmend umweltfreundliche Stromerzeugung widerlegt. Er behauptet, dass die Klimapolitik der deutschen Autoindustrie schade, doch das eigentliche Problem sei der technologische Rückstand in der Elektromobilität. Erneuerbare Energien gefährden laut Sinn die Energieversorgungssicherheit, doch Studien zeigen ihre Wirtschaftlichkeit und Umsetzbarkeit. Während globale Klimakooperation wichtig ist, steht Sinns Pessimismus im Kontrast zu technologischem und politischem Fortschritt, was auf eine weitgehend klimaneutrale Wirtschaft in absehbarer Zeit hindeutet. (Lion Hirth, FAZ)
Wir sehen hier wieder einmal das Problem, dass ich in den beiden Podcasts mit Alexander Dilger und Alexander Clarkson besprochen habe: die auf dem Papier effizientesten Klimamaßnahmen sind leider auch diejenigen, die politisch sehr schwer bis gar nicht umsetzbar sind. Die Versteifung auf solche umfassenden Lösungen, wie sie etwa Hans-Werner Sinn vertritt, führt dann in der Praxis allzu häufig dazu, dass schlicht gar nichts geschieht. Der Grund hierfür liegt einmal mehr in der Natur des politischen Prozesses, die diese Leute beständig ausklammern: es besteht nur eine finite Menge Aufmerksamkeit und politisches Kapital, was bedeutet, dass die Beschäftigung mit irrealen Lösungen wertvolle Ressourcen von anderen Ansätzen abzieht.
Dr. Carolin Krüll von der Universität Münster hat in ihrer Dissertation die Bewertung und Erfassung der mündlichen Mitarbeit von Schülern untersucht. Lehrer haben Schwierigkeiten, mündliche Beiträge fair zu bewerten, da individuelle Faktoren wie Introvertiertheit, Sprachprobleme und Beziehungen zur Lehrkraft eine Rolle spielen. Es gibt kaum einheitliche Vorgaben zur mündlichen Leistungsbewertung auf Bundes- oder Länderebene. Krüll befragte Lehrer, die uneinheitlich bewerten, da sie zwischen Vergleichbarkeit und Individualisierung jonglieren. Sie fand heraus, dass die mündliche Mitarbeit durchschnittlich mit 33 % in die Zeugnisnote einfließt, wobei die Bewertung stark variiert. Krüll empfiehlt mehr Austausch zwischen Lehrern, klare Kriterien und Transparenz für faire Bewertungen und betont die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Schülern, um Vertrauen und Gerechtigkeit zu fördern. (Kathrin Kottke, News4Teachers)
Die mündlichen Noten sind ein Dauerproblem. Ihre große Divergenz liegt auch am fehlen eindeutiger Maßstäbe und einer großen rechtlichen Unsicherheit. Hier in Baden-Württemberg beispielsweise sind die einzigen gesetzlichen Richtlinien zum Thema einerseits völlig nichtssagend und kommen andererseits aus dem Jahr 1981. Ja seither hat sich die rechtliche Situation nur durch Urteile der Amtsgerichte weiter ausdifferenziert, die aber natürlich nur Präzedenzfälle liefern und keine Sicherheit schaffen können.
Zudem ist die Vorstellung, mündliche Mitarbeit in irgendeiner Art und Weise halbwegs vernünftig bewerten zu können, ohnehin eine Mirage. Wenn es nach mir ginge, würde ich diese bescheuerten Noten überhaupt nicht geben. Natürlich bin ich dazu aber verpflichtet. Mündliche Noten aber gleichzeitig eine sehr individuelle und von pädagogischen Überlegungen getriebene Angelegenheit sind, ist die hier geforderte Schaffung einheitlicher Standards und Koordinierung quasi ein Widerspruch in sich.
3) Die sabotierte Cum-ex-Jägerin
Cum-ex steht für den größten Steuerskandal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, bei dem rund 50 Banken und andere Finanzunternehmen verwickelt sind. In dem Artikel geht es um die Bemühungen von Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, die gegen 1700 Beschuldigte in Bezug auf Cum-ex-Ermittlungen ermittelt. Die Ermittlungen werden als komplex und zeitaufwändig beschrieben, da sie gegen starke politische und juristische Widerstände angehen muss. Brorhilker wird als beharrliche und entschlossene Ermittlerin beschrieben, die trotz vieler Hindernisse und Herausforderungen versucht, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Text gibt Einblick in die Schwierigkeiten, denen sich die Ermittler gegenübersehen, darunter Personalmangel, Verjährungsfristen, politische Einflussnahme und komplizierte rechtliche Verfahren. Es wird auch auf die strategischen Taktiken der Beschuldigten und ihrer Anwälte eingegangen, die versuchen, die Ermittlungen zu behindern oder zu verlangsamen. Es werden unterschiedliche Meinungen zu Anne Brorhilker dargestellt: Einige sehen sie als verbissene Beamtin, während andere sie als moderne Heldin betrachten, die gegen die Finanzbranche ankämpft. Der Artikel hebt hervor, wie schwierig es ist, solche komplexen Wirtschaftsverbrechen aufzuklären, und wie wichtig es ist, dass die Strafverfolgungsbehörden unabhängig und beharrlich bleiben, um Gerechtigkeit zu gewährleisten. (Katharina Slodczyk, Spiegel)
Es bleibt ebenso endlos faszinierend wie wenig überraschend, dass die Republik sich zwar wochenlang mit einem Lebenslauf und einem Lachen beschäftigen konnte, der potenzielle relevanteste Skandal allerdings nie in Gefahr war, eine größere Gruppe von Wählenden oder auch nur Journalist*innen zu beschäftigen. Die Leichen im Keller gerade der SPD und ihm besonderen Olaf Scholz‘ wurden nie ausgegraben. Es ist immer dasselbe mit diesen Geschichten: das irrelevante, aber leicht zu greifende wird immer vor dem relevanten aber abstrakten Thema präferiert werden. Im Übrigen völlig unabhängig davon, ob die Journalist*innen für Private oder öffentlich-rechtliche Medien arbeiten.
4) Wagenknechts fragwürdiger Linkskonservatismus
In einem kürzlich veröffentlichten Artikel des "Spiegel" wird die Überlegung von Sahra Wagenknecht, eine neue linkskonservative Partei zu gründen, analysiert. Die Idee einer solchen Partei, die Elemente von links und konservativ kombiniert, könnte auf Zustimmung bei Teilen der Bevölkerung stoßen, die sich nicht mehr eindeutig als klassisch links oder konservativ betrachten. Der Artikel beleuchtet jedoch kritisch Wagenknechts Position gegenüber den sogenannten "Lifestyle-Linken", die sich für Diversität und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Wagenknecht kritisiert diese Gruppe als weltfremd und behauptet, sie kümmere sich hauptsächlich um ihren eigenen Lebensstil, während sie soziale Gerechtigkeit vernachlässige. Der Artikel argumentiert, dass diese Vereinfachung dazu führen könnte, dass wichtige Differenzierungen übersehen werden. Der Autor betont, dass der Kampf gegen Rassismus und für mehr Diversität gerade in den sozial benachteiligten Milieus wichtig ist, die Wagenknecht zu vertreten scheint. Die Kritik an "Lifestyle-Linken" könnte daher ihr Ziel, soziale Gerechtigkeit zu fördern, gefährden. Der Artikel schließt mit dem Appell an Wagenknecht, sich klar darüber zu werden, wie wichtig Differenzierungen und Zwischentöne in ihrem politischen Programm sind, um eine populistische Partei zu vermeiden. Insgesamt hinterfragt der Artikel kritisch die Schlüssigkeit von Wagenknechts politischem Programm im Kontext der aktuellen politischen Debatte. (Susanne Beyer, Spiegel)
Ich unterstütze Beyers Kritik zu 100%: selbstverständlich ist der Ansatz der „klassischen“ Linken, sämtliche Identitäts- und Diversitätsfragen beiseite zu wischen und sich allein auf die Frage des Geldes ist zu konzentrieren zum Scheitern verurteilt, intellektuell überholt und unterkomplex. Gerade deswegen aber ist der Begriff des Linkskonservatismus so treffend. Denn gleichzeitig - und das ignoriert die Autorin völlig - ist der Ansatz durchaus Erfolg versprechend. Wie bereits sind Fundstücke 3 diskutiert sind einfache und leicht greifbare Ansätze deutlich erfolgreicher als komplexe und abstrakte. Wenn die Beseitigung der Ungerechtigkeit nur eine ordentliche Anhörung des Mindestlohns, Besteuerung „der Reichen“ und eine Verdopplung von Hartz 4 entfernt ist, ist das eine weit beruhigendere Nachricht, also wenn verschiedene strukturelle und gesellschaftliche Ursachen komplex ineinandergreifen und auch eine Änderung der eigenen Einstellung notwendig machen würden.
5) Landesregierung kennt den Zustand der Schulgebäude nicht – GEW: „Teilweise furchterregend“
Die Bildungsgewerkschaft GEW schätzt, dass in marode Schulen in Hessen mindestens fünf Milliarden Euro investiert werden müssen, wobei allein Frankfurt 2,5 Milliarden Euro für Sanierungen und Neubauten benötigt. Leider erfasst Hessen den konkreten Investitionsbedarf nicht, trotz wiederholter Forderungen der GEW. Die Daten zur Investitionsentwicklung von 1992 bis 2021 zeigen große Unterschiede in den Ausgaben für Schulinfrastruktur in den verschiedenen Regionen Hessens. Einige Kreise wie der Hochtaunuskreis haben vergleichsweise viel investiert und verfügen über akzeptable Schulgebäude. Dennoch wurde von vielen Schulträgern zu wenig investiert, was zu maroden Schulen geführt hat. Die GEW kritisiert die Landesregierung dafür, ein Schulbauinvestitionsprogramm nicht umzusetzen, und fordert die nächste Regierung auf, alle Schulen innerhalb von zehn Jahren zu modernisieren. Die Qualität der Schulgebäude beeinflusst den Lernerfolg, betont die GEW. Politiker und Gewerkschaften drängen auf eine landesweite Bedarfsanalyse und bessere Unterstützung der Schulträger. (News4Teachers)
Ich korrigiere die Überschrift einmal: ja die Landesregierung will den Zustand der Schulgebäude nicht kennen. Was hier für Hessen erklärt wird, ist in der gesamten Bundesrepublik zutreffend. Die Infrastruktur des Bildungsbereichs ist in einem Ausmaß verrottet und unzureichend, das jeder Beschreibung spottet. Die stinkenden Schultoiletten sind ja mittlerweile komplett zum Klischee geronnen, ohne dass das deswegen falsch wäre. Dass die Schulgebäude selbst wenn sie im perfektem baulichen Zustand und sauber wären für modernen Unterricht komplett ungeeignet sind wird in solchen Berichten ja noch nicht einmal thematisiert. Ähnliches gilt für die lächerlichen Mittel für die Digitalisierung. Genauso wie bei der Bundeswehr könnte man für die Schulen ein Sondervermögen von 100 Milliarden aufsetzen, das nicht einmal ausreichen würde, die Versäumnisse der letzten 30 Jahre aufzuholen - von einer Zukunftsorientierung ganz zu schweigen.
Resterampe
a) Die Rechtslage ist echt zum Kotzen.
b) Guter Thread zum Begriff von "Multipolarität", mit dem Artikel, auf den verwiesen wird.
c) Spannender Thread zum Alltag eines Lokführers.
d) Als Nachtrag zu meinen Gedanken zu "Leute schätzen die Lage der Wirtschaft falsch ein" aus dem Inflationsartikel.
e) Wenn der Papst dich kritisiert, weil dein Katholizismus "rückwärtsgewandt" und "extrem" ist...
f) Bei der taz gibt es eine Auflistung, welche Unionspolitiker*innen wie Klimaschutz blockieren und mit der Energieindustrie verbandelt sind. Der Artikel löst aber den Anspruch nicht ein, Korruption von Ideologie zu unterscheiden. Klar gesagt: haben die Leute Jobs in der Kohlebranche, weil sie ideologisch eh schon so ticken, oder ticken sie so, weil sie Jobs haben? Linke sagen immer Letzteres, aber das ist zu einfach.
g) Harsche Kritik an einem neuen Buch zu 1848.
h) Gutes Beispiel für Herdentrieb im Medienwesen.
i) Sehe ich auch so.
j) Alle Verfahren gegen Till Lindemann werden eingestellt. Nicht sonderlich überraschend. Siehe dazu auch diese Kritik. Und diese, der ich im Übrigen weitgehend zustimme.
k) So wahr.
l) Scott Adams ist so ein Idiot. Siehe dazu auch hier.
m) Nachtrag zu meinem Kommentar zu Kretschmer neulich.
n) Real existierende Cancel Culture, wie üblich nicht mit Leitartikeln in Spiegel, ZEIT und Co. Wächst sich langsam zu einer Terrorwelle aus.
o) Criminal conspiracy, out in the open.
p) Rachepornografie: Rekordschmerzensgeld von 120.000 Euro. Sehr gut!
q) Sehr spannende Analyse der russischen Wirtschaft im Krieg.
r) McConnell scheint langsam dement zu werden. Es ist echt krass, wie sehr das politische Spitzenpersonal der USA gerade dem der Sowjetunion der späten 1970er und frühen 1980er gleicht.
s) Guter Artikel zur Beseitigung von Kinderarmut, danke für die Empfehlung.
t) Caste bigotry is alive and well in Silicon Valley.
u) We can fix all our problems for 2.7% of GDP.
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