Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Is Germany’s business model broken?
Andreas Rüter, ein Experte im Bereich der Unternehmenssanierung, beschreibt die aktuelle wirtschaftliche Krise in Deutschland als „beispiellos“. Die größten Industrien des Landes – Automobil, Chemie und Maschinenbau – befinden sich gleichzeitig in einer tiefen Krise, und Rüters Firma muss bereits Kunden abweisen, da die Nachfrage nach Restrukturierungen so hoch ist. Die deutsche Wirtschaft ist seit 2021 praktisch nicht mehr gewachsen, und die industrielle Produktion ist um 16 % zurückgegangen. Unternehmen investieren weniger, die Konsumfreude sinkt, und die ausländischen Direktinvestitionen nehmen ab. Ökonomen führen die Probleme auf hohe Energiepreise, Steuern, Arbeitskosten und Bürokratie zurück. Durch den steigenden Einfluss von Populisten wird die politische Lage zunehmend instabil. Trotzdem sieht Bundesbankpräsident Joachim Nagel auch positive Aspekte wie die niedrige Arbeitslosigkeit und solide Unternehmensbilanzen. Viele Wirtschaftsführer und Politiker, wie Friedrich Merz, plädieren für Reformen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, darunter Steuererleichterungen und der Ausbau erneuerbarer Energien. Ob die nötigen Maßnahmen vor Neuwahlen 2025 umgesetzt werden, bleibt jedoch fraglich. (Olaf Storbeck, Financial Times)
Ich bin mir nicht sicher, wie tiefgreifend die deutsche Krise tatsächlich ist. Wir waren ja Ende der 1990er, Anfang der 2000er in einer ähnlichen Lage, und Storbeck schreibt selbst, dass die heutige Situation weniger dramatisch ist als damals. Ob aber die riesigen Agenda20210-Reformen überhaupt nennenswerten Effekt auf die wirtschaftliche Erholung hatten, ist bis heute umstritten. Es ist also auch vorstellbar, dass Deutschland wieder einen Konjunkturschub erleben wird, eventuell auch erneut asynchron mit dem Rest Europas, und dann wieder aus allen Ecken Rufe kommen, die Welt am deutschen Wesen genesen zu lassen. Wohlgemerkt, ich sage nicht, dass das so kommt; ich halte die Krise vor allem wegen der strukturellen Schwächen der Autoindustrie ja schon lange für extrem gefährlich. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es nicht garantiert oder Automatismus ist. Vielleicht kommt eine Agenda2050. Vielleicht ist alles halb so schlimm.
2) How Good or Bad a Campaign Did Harris Run?
Der Artikel analysiert die Gründe für Kamala Harris’ Niederlage bei der Präsidentschaftswahl und hinterfragt die gängige Annahme, dass die kurze Dauer ihrer Kampagne und angebliche Unerfahrenheit entscheidende Faktoren für ihre Niederlage waren. Der Autor widerspricht diesen Aussagen und argumentiert, dass Harris’ Wahlkampfstrategie, vor allem in den Swing States, durchaus erfolgreich war. Dies wird durch Daten belegt, die zeigen, dass der Stimmenzuwachs für Trump in diesen Staaten geringer ausfiel als im nationalen Durchschnitt. Während Kritiker behaupten, eine längere Kampagne hätte Harris mehr Erfahrung verschafft oder Fehler verhindert, argumentiert der Artikel, dass die kürzere Kampagne die mediale Aufmerksamkeit auf negative Aspekte begrenzt und das Trump-Team gezwungen habe, kurzfristig von Biden auf Harris umzustellen. Der Autor verweist auf statistische Belege, die darauf hindeuten, dass Harris’ Kampagne in entscheidenden Staaten besser abschnitt, was subjektiven Meinungen über ihre Eignung als Kandidatin entgegensteht. Der Artikel betont zudem, dass die „Ground Game“-Bemühungen – also der persönliche Wählerkontakt – in einem nicht knappen Rennen nur begrenzt Einfluss haben. Harris’ Team und Freiwillige leisteten zwar solide Arbeit, konnten jedoch den starken nationalen Trend zugunsten Trumps nicht überwinden. Der Autor schließt daraus, dass Harris trotz einer starken Kampagne mit erheblichen Gegenwinden konfrontiert war, was letztlich entscheidend für das Wahlergebnis war. (Josh Marshall, TPM)
Das sehe ich genauso. Die Gegenwinde waren die Kulturkampfthemen - bei denen die Democrats solide in der Minderheit sind - und die Inflation. Jeder für sich ist ein extrem starker Gegenwind; zusammengenommen sind sie Knockout-Blows. Ich halte auch die laufende Debatte, ob es nun die Wirtschaft oder der Kulturkampf waren, für letztlich bedeutungslos. Es war beides. Die Anteile, zu denen es jeweils verantwortlich zu machen ist, sind eigentlich beinahe egal. Wie wir in Fundstück 4 aber tiefer betrachten, hilft diese Klärung ohnehin nicht. Eine zukünftige Strategie ergibt sich daraus ja nicht. Die Democrats müssen mit der Partei in der Umgebung Wahlkampf führen, die sie haben, genauso wie die Republicans auch. Und MAGA-Republicans, die sich gerade einbilden, eine solide Mehrheit für ihre radikale Politik zu haben, sollten sich besser schon einmal auf den Backlash vorbereiten. Seit 2008 entscheiden die Wahlen in den USA gar nichts. Das Pendel schwingt nur hin und her.
Der Autor beschreibt seine jahrelange Suche nach einer entscheidenden Zahl zum Alkoholkonsum, die er nun auf dem Deutschen Suchtkongress vorstellen wird. Die Zahl zeigt, dass in Deutschland 50,4% des Alkoholumsatzes, also etwa 5,82 Milliarden Euro, auf riskanten oder hochriskanten Konsum zurückzuführen sind. Dieses Ergebnis, so der Autor, verdeutlicht, dass die Vorstellung des „verantwortungsvollen Konsums“ eine Konstruktion ist, die die gesundheitsschädlichen Effekte von Alkohol verharmlost und primär den Umsatz der Alkoholindustrie schützt. Der Autor kritisiert die „Drink responsibly“-Kampagnen der Alkoholindustrie als irreführend, da sie weniger auf den Schutz der Konsumenten abzielen, sondern vielmehr politische Regulierungen verhindern sollen. Zudem wurde ihm bewusst, dass seine eigene Sucht als Teil eines profitablen Geschäftsmodells fungierte. Die Berechnungen basieren auf konservativen Schätzungen und Umfragedaten, die möglicherweise die tatsächliche Menge an riskantem Konsum unterschätzen, da Menschen mit Alkoholproblemen oft schwer erreichbar und zurückhaltend bei der Angabe ihres Konsums sind. Der Autor appelliert an Betroffene, sich nicht selbst die Schuld zu geben, sondern das System, das Alkoholprobleme aus Profitinteresse begünstigt, kritisch zu hinterfragen. (Nathalie Stüben)
Alkohol ist eine dieser logischen Bruchstellen unseres Systems, das hat man ja auch bei der Cannabis-Legalisierung immer wieder gesehen. Gebetsmühlenartig haben die Befürwortenden einer solchen stets die größere Schädlichkeit und den größeren Suchteffekt von Alkohol betont. Was ja objektiv richtig ist. Und irrelevant. Würde Alkohol heute erfunden, niemals wäre er legal. Keine Chance. Aber dasselbe gilt auch für das Auto. Alkohol ist legal, weil er immer legal war, und Cannabis war verboten, weil es verboten war. Diese Tautologie der damaligen Drogenbeauftragten wurde zwar viel verspottet, war aber völlig zutreffend. Alkohol hat Tradition, und deswegen wird er konsumiert. Sich dem Ganzen rational zu nähern ist aussichtslos, weil es kein rationales Thema ist. Das ändert allerdings nichts an den dramatischen Zahlen, die im Artikel genannt werden. Denn an der Stelle lässt sich definitiv etwas machen. Es gibt ja einen Unterschied zwischen Alkohol als Genussmittel und Alkoholsucht und Zerstörung durch die Droge. Und in diesem weiten Feld ist auch die Politik gefragt.
4) Kamala Harris’ campaign didn’t ignore working class voters
Nach den Wahlergebnissen vom Dienstag gibt es einen wiederkehrenden Vorwurf: Die Demokraten hätten die Arbeiterklasse, unabhängig von Hautfarbe, ignoriert. Bernie Sanders bezeichnete Kamala Harris’ Wahlkampagne als „katastrophal“ und meinte, dass eine Partei, die die Arbeiterklasse im Stich lasse, von ihr ebenso verlassen werde. Dieser Vorwurf stimmt jedoch nicht vollständig. Präsident Joe Biden war einer der arbeiterfreundlichsten Präsidenten seit Franklin D. Roosevelt. Er unterstützte Gewerkschaften aktiv und brachte Gesetze wie den Inflation Reduction Act, das Infrastrukturgesetz und den CHIPS Act auf den Weg, die zu vielen neuen Arbeitsplätzen führten. Auch erhöhte er die Gehälter von Bauarbeitern auf staatlichen Projekten und verbesserte die Lohnungleichheit. Kritiker behaupten, Harris’ Kampagne habe diese Erfolge nicht ausreichend kommuniziert, doch mit 200 Millionen Dollar an Wirtschaftskampagnen, die die Sorgen der Arbeiterklasse ansprachen, investierte sie mehr als Trump in diesem Bereich. Dennoch konnte sie die Arbeiterklasse kaum für sich gewinnen: Weiße Arbeiter stimmten ähnlich wie bei Biden 2020, jedoch verlor sie massiv Unterstützung bei nicht-weißen Arbeitern. Trumps Kampagne sprach die kulturellen Ängste und den Groll der Arbeiter an, während sie faktisch wenig für deren wirtschaftliches Wohl tat. Das GOP-Wirtschaftsprogramm unter Trump konzentrierte sich auf Steuersenkungen für Reiche, aber seine symbolischen Ansprachen an die weiße Arbeiterklasse verfehlten nicht ihre Wirkung. Ein grundsätzlicher Wandel zugunsten der Arbeiterklasse scheint für die Demokraten kaum erreichbar. Die Partei wird durch ihre kulturellen Positionen und ihre Wählerbasis stark begrenzt. Eine Rückkehr zu nationaler Macht könnte für sie eher durch die Mobilisierung der gebildeten, städtischen Wählerschaft möglich sein. (Michael A. Cohen, MSNBC)
Ich halte Cohens Analyse an einer Stelle für fehlgehend: Eine gewerkschaftsfreundliche Politik ist nicht automatisch eine für die Arbeiter*innen. Im Aggregat sicherlich, aber eben nicht automatisch und schon gar nicht in den USA. Das aber nur am Rande. Viel relevanter ist, dass Cohen den wesentlichen Aspekt bemerkt: It's the Culture War, stupid! Das war bereits 2016 sichtbar und ist nun wahrlich kein Geheimnis. Dass "deliverism" gescheitert ist - wie diese Perspektive von Anne Lowrie, die das Thema wesentlich kritischer sieht, nahelegt - schließt sich ja damit gar nicht aus. Die Democrats haben geliefert UND es wurde nicht goutiert, und die Republicans versprechen massive Härten UND es wurde goutiert. Das liegt eben daran, dass das Wirtschafts-Menü jedes Mal eine kulturkämpferische Beilage hat. Im Fall der Democrats ist das aus Sicht dieser Wählendengruppe eine Schüssel dampfendes Exkrement, im Fall der Republicans ist das der Hauptgang, der aber noch unter einer Servierglocke abgedeckt und unbekannt ist, während eine köstliche Vorspeise schon dasteht (man verzeihe die gastronomischen Analogien). Das kann man nicht ignorieren. Und genauso wenig können, da bin ich ganz bei Cohen, die Democrats irgendetwas daran ändern.
Das internationale Wirtschaftssystem von Bretton Woods, geschaffen 1944, zielte darauf ab, globale Stabilität durch feste Wechselkurse, moderate Zölle und entpolitisierte Entscheidungen zu gewährleisten. Institutionen wie der IWF und die Weltbank sollten wirtschaftliche Kooperation fördern und protektionistische Fehler der Vorkriegszeit verhindern. Doch in den 1970er und 1980er Jahren wandelte sich das System: Der Fokus lag zunehmend auf neoliberalen Prinzipien wie Privatisierung und Deregulierung, insbesondere unter Reagan und Thatcher. Heute entfernen sich die führenden Länder vom Neoliberalismus und setzen auf politisch motivierte Handelsblöcke, Sanktionen und „technologische Souveränität“. Diese Abkehr, besonders seitens der USA und EU, stellt die Universalität der einstigen Regeln infrage und führt zu Spannungen, da diese Prinzipien anderen Ländern weiterhin nahegelegt werden. Ohne ein neues Regelwerk könnte das System auseinanderbrechen. Der Autor argumentiert, dass ein veraltetes, widersprüchliches System nicht funktionieren kann und plädiert für eine Reform, um eine Rückkehr zu isolierten, wettbewerbsgetriebenen Wirtschaftsstrukturen zu verhindern. (Branko Milanovic, Global Inequality)
Ich finde den Punkt Milanovics, dass das internationale Ordnungssystem derzeit vor allem daran scheitert, dass seine Konstrukteure - der Westen - sich selbst nicht daran halten, aber erwarten, dass es alle anderen tut, für zentral. Das ist ja meine Argumentation für die "wertebasierte Außenpolitik" stets gewesen: du kannst nicht ein System durchsetzen, das du selbst für deine "nationalen Interessen" allzu offenkundig ignorierst. Das geht nur mit Macht, und die haben wir einerseits nicht und würde auch nicht einem regelbasierten, sondern anarchischen System entsprechen, und genau das wollten wir eigentlich ja nicht mehr. Mir scheint der Best Case gerade eine Rückkehr zu Machtblöcken zu sein, innerhalb derer jeweils ein eigenes System gilt, aber auch das scheint gerade zunehmend fraglich.
Resterampe
a) Mansour ist so ein Idiot. Den Blödmann hätte ich hören wollen wenn eine Behörde einfach mal wegen "Warnsignalen" anfängt, Mitarbeitende einzustellen. Vor allem eine solche! "Klar, aktuell stehen keine Wahlen an, aber ich, Bürokrat 3748, denke, es könnten welche kommen, also stellen wir ein!"
b) Echt so krass, diese Frauenfeindlichkeit im Fußball.
c) Wichtiger Punkt.
d) Es sind nicht (nur) die sozialen Netzwerke.
f) Stimmenzahlen und Mobilisierung in den USA.
h) Woran es definitiv nicht lag.
i) Immer wieder krass wie falsch Leute die Migrant*innenanteile einschätzen.
j) Democrats' election losses show how much people hate inflation.
l) Zurück zum Einparteienstaat. Populisten. Ob links, ob rechts, immer weg mit der Demokratie.
m) What do tax cuts on the rich accomplish? Can you guess?
n) The Democrats’ Senate Nightmare Is Only Beginning.
o) Here’s what’s changed politically over the past few years.
p) Super-Artikel zu AfD und Israel.
Fertiggestellt am 12.11.2024
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