Heute Morgen habe ich geweint. Mache ich jetzt jeden Morgen. Kommt man erst so richtig in Stimmung. Ganz egal,
wie das Wetter ist. Auch wenn die Sonne sich in den leeren Bier- und Ouzo-Flaschen widerspiegelt, ich heul erst mal eine Runde. Fängt der Tag doch gleich ganz anders an.
Ich muss meinem Status als Hartz-IV-Privilegierter doch gerecht werden. Und ich hab ja auch sonst nicht viel zu tun. Außerdem zieht sich der Tag ja auch sonst so lange hin. Ich hab ja auch mittags frei. Und dazwischen passiert auch nicht viel. Lediglich abends kommt etwas Spannung auf, ob ich die Raviolidose aus dem Aldi wohl so aufkriege, dass ich mir den Daumen nicht einreiße. Bisher hat die Dose vier zu eins gewonnen. Und die Woche ist noch nicht zu Ende. Günter, sag ich dann immer zu mir, eine Dose ist wie eine Rose, die hat Dornen. Aber bei der roten Soße fällt das auch nicht weiter auf. Muss ich halt nicht mehr verdünnen. Sogar meine Blutgruppe ist null.
Aber das weiß ich erst, seitdem ich das Antragsformular für die Beantragung von Arbeitslosengeld II mit sämtlichen Unterantragsnummern, Ergänzungsblättern, Informationsund Hinweisblättern und den dazu benötigten Bestätigungen, Mitteilungen, Mitgliedsbescheinigungen von Krankenkasse, Rentenvorabbescheinigungen, letztjährigen Verbrauchsabrechnungen, Mietunterlagen, eidesstattlichen Versicherungen, Einkommensnachweisen, Führungszeugnis, Röntgenbilder, sowie Siegerurkunden und Seepferdchenbestätigung, beigefügt, alles gelesen, verstanden, ausgefüllt, kopiert, beglaubigt und eingereicht habe.
Ein falsches Kreuz gemacht, dann, Gnade dir Gott, gehst du, ohne Angabe von Gründen und Beweispflicht des Arbeitsamtes, sofort in den Knast!
Widerspruch zwecklos! Widersprüche heißen Widersprüche, weil sie immer wieder und wieder abgelehnt werden.
Nach drei Monaten hatte ich endlich alle Unterlagen zusammen und war deutschlandweit der älteste Teilnehmer, der jemals das Seepferdchen bestanden hat, allerdings im dritten Anlauf. Zugegebenermaßen bekam ich es mehr aus Mitleid, da ich mehrfach dem Gelächter der anderen, meist neunjährigen Schwimmern, ausgesetzt war.
Ich kontrollierte sehr sorgsam mehrfach alle Unterlagen, um auch ja keinen Fehler zu machen. Aber sich durch den Paragraphendschungel durchzuschlagen ist nicht einfach. Da hilft einem ja auch keiner bei!
Es gibt keine Bücher zum Thema: Arbeitslos leicht gemacht oder Mein Leben für Hartz IV! Über jeden Mist wird ein Buch geschrieben, aber über was wirklich Wichtiges, nee, da gibt´s nix. Mit Erfolg zu Hartz IV, na, das wäre doch mal was. Mit so einem Buch könnte man die Bestsellerlisten stürmen. Das würden alle Hartz-Vierer doch sofort kaufen,
wenn sie könnten. Müsste halt billig sein.
Könnte man ja aus Altpapier machen und einen billigen Einband drum rum. Vielleicht aus alten Stellenangeboten oder aus diesen Pizzalieferungsprospekten, die jeden Morgen meinen Briefkasten zum Überquellen bringen, wenn ich mir abends die Morgenzeitung meiner Nachbarn hole, die die mir da reingesteckt haben. Ist echt nett von denen. Seit die das machen, wird ihre Zeitung auch nicht mehr geklaut. Kam früher ja öfter vor. Ja, ja, die Menschheit ist im tiefsten Grunde schlecht.
Wo war ich? Ach ja! Ein Buch müsste man schreiben. Für die Vervielfältigung bräuchte man ja auch keinen Verlag. Das kann man doch auch alles in Eigenregie machen. Man holt sich einfach ein paar Ein-Euro-Jobber und die schreiben das Manuskript einfach ab. Es wird doch auf dem Arbeitsamt irgendwo im Keller noch eine alte Schreibmaschine geben. Und die Seiten werden einfach zusammengetackert. Das ist zwar nicht so ansehnlich, aber es erfüllt seinen Zweck.
Eben ruft mich das Arbeitsamt an und teilt mir mit, und die Dame hat einen merkwürdigen und mir unverständlichen Unterton in der Stimme: „Meinen Stuhl hätte ich nicht beilegen müssen!“ Ich habe mich natürlich sofort für meine Unzulänglichkeit entschuldigt. Man muss sich mit denen ja schließlich gut stellen. „Gnädige Frau, sie sehen mich völlig zerknirscht!“, was natürlich Schwachsinn war, denn sie konnte mich ja am Telefon nicht sehen. Zärtlich flötete ich in den Hörer: „Ich dachte ja nur ... sicher ist sicher ... nachher geht was und sie streichen mir die Bezüge.“ Wie man es auch macht ... immer ist es verkehrt. Aber, „Günter“
habe ich zu mir gesagt, immer schön freundlich zu der Sachbearbeiterin sein, sonst, ruckzuck, wird dir wieder ein Tagessatz gestrichen. Also habe ich lieb ins Telefon gelächelt, aber mit der Faust in der Tasche und habe mich untertänigst mehrere Male entschuldigt. Dann versuchte ich, das Gespräch mehr auf die private Ebene zu bringen und fragte höflichst an, ob sie so unwirsch sei, weil sie vielleicht ihre Tage habe. Statt mein ehrliches Interesse zu honorieren, brach das Gespräch abrupt ab. Hat die einfach aufgelegt. Da meint man es nur gut und dann sowas. Die ist sicher heute Morgen mit dem falschen Fuß aufgewacht oder aus dem falschen Bett aufgestanden oder mit dem Falschen aus dem Bett aufgestanden. Aber was geht mich auch deren Erotikleben an, wenn die überhaupt eins hat, bei der Laune.
Na ja, die Sexualität ist ja auch so was von überbewertet. Geht auch ganz gut ohne! Also, jetzt nicht missverstehen, nicht dass ich nicht könnte, wenn ich wollte. Wenn ich wollte, dann könnte ich auch. Gelernt ist schließlich gelernt.
Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Wehe, wenn er losgelassen! When the Tiger over the tanks come! Ja, ich kann auch Englisch. In Wort und Schrift, wie es immer so schön heißt. Musste ich ja beim Amt auch angeben. Damit bin ich dann auch weltweit auf dem Arbeitsmarkt
einsetzbar. Sogar für höhere Positionen bin ich bereit. Muss mich nur einer wollen. Das habe ich der Sachbearbeiterin auch gesagt. Da hat die nicht schlecht gestaunt. Geradezu sprachlos war sie. Ja, der Günter kann mit Frauen. Die fressen mir aus der Hand. Lasse ich mir natürlich nicht anmerken. Ich will lieber auf Distanz bleiben, sonst könnte die Dame womöglich meinen, ich wolle was von ihr. Oder sie kriegt Ärger mit ihrem Chef. Denn irgendwie arbeitet die ja für mich. Und eine Beziehung unter Kollegen ... ist doch immer etwas heikel. Da gibt es dann nur Gerede! Das geht doch rum wie ein Lauffeuer im Amt. „Haste gehört, die Müller soll was mit dem 52706BG haben!“ Ich hab ja auf dem Amt meine eigene Nummer! 52706BG. Da steckt die Sechs ja schon drin. Wenn das mal kein Zufall ist! Die Nummer hab ich persönlich von Frau Müller bekommen. Die wird sich schon was dabei gedacht haben. Nachtijall ick
hör dir trapsen! Aber ich möchte nicht als das Luder vom Amt verschrien sein. Und für eine einmalige Sache bin ich mir zu schade. Die will ja nur ihre Machtstellung ausnutzen. Hat man doch alles schon gehört: „Sachbearbeiterin verführt Leistungsempfänger.“ Da bekommt der Satz:
„Einführung in den neuen Arbeitsmarkt“ doch eine ganz andere Bedeutung. Nein, Arbeit und Freizeit gehören getrennt. Sie arbeitet und ich hab Freizeit. Außerdem ist sie auch nicht mein Typ. An der ist ja nix dran, wenn sie verstehen!
Obwohl, als sie den Eingangsstempel für meine Bewerbung als Leistungsempfänger so zärtlich und doch zugleich energisch auf meinen Bewilligungsbescheid sanft hingehaucht hat, da wurde mir schon ein wenig anders. Na ja, wer weiß, was da noch zukünftig auf mich zukommt, denn dank Hartz IV sind wir ja über Jahre geradezu symbiotisch miteinander vereint. Keiner kann ohne den anderen! Ohne mich wäre sie nichts. Da wäre sie arbeitslos. Würde die auch Hartz IV kriegen. Und was wäre ich ohne sie? Entspannter! Ist ja auch kein Vergnügen, immer auf das Amt zu gehen. Wegen jeder Änderung musst du da antanzen. Wenn das Auto kaputt, der PC zu langsam beim Chatten ist, für unterwegs brauchst du einen neuen Laptop. Willst ja auch nicht mit den alten Brettern in den Ski-Urlaub. Für eine transportable Bierzapfanlage kämpfe ich noch. Das muss ja alles erstmal mühsam beantragt werden. Aber das besorgt die dir alles, wenn du nur hartnäckig genug bist und ausgekocht. Deshalb ist es gut, wenn sie auf mich steht. Schmeichelt mir natürlich auch etwas. Wenn ich zu ihr gehe, mache ich auch gerne mal einen Hemdenknopf mehr auf. Sie soll ruhig sehen, dass Fitnesstraining und Solarium Wirkung zeigen. Schließlich zahlt sie es ja auch.
Obwohl sie immer etwas misstrauisch ist, wenn ich ihr wöchentlich mit einem neuen Antrag komme. Sätze wie: „Ob das denn alles wirklich nötig wäre ... Sachleistungen müssten im Rahmen bleiben ... sonst würde ja jeder kommen ... das wären doch keine Grundbedürfnisse!“ Ich höre mir das immer stoisch ohne Gefühlsregung an und nicke dann immer verständnisvoll. Man muss schon auch die Sorgen der Frau verstehen. Aber ich argumentiere dann immer: „Ist doch nicht Ihr Geld!“ Die soll sich nicht so anstellen! Das nächste Mal bring ich halt mal ein paar Blumen mit. So ein Stiefmütterchen macht sich sicher gut auf ihrem Schreibtisch. Ich hab da nämlich so einen Flatscreen entdeckt, den will ich ihr noch aus den Rippen leiern.
Neulich allerdings, das muss ich jetzt einmal kritisch anmerken, da hat sie mich etwas verärgert. Krieg da mal wieder einen Brief von ihr. Ein Formschreiben, ohne persönliche Note. „Melden Sie sich am Montag um acht Uhr bei Frau Müller, Ihrer Sachbearbeiterin.“ Kein Bitte, kein wenn es möglich ist, kein wenn es ihre Zeit erlaubt ...! Ich war ein bisschen vergrämt, das muss ich zugeben. Da ich an diesem Tag zu einem Junggesellenabend nach Bayern fuhr, schickte ich ihr von da eine liebgemeinte Postkarte, mit dem Motiv von Schloss Neuschwanstein und fragte nach, ob man die Uhrzeit etwas flexibler gestalten könnte und Mittwoch wäre es mir auch lieber, da sich so ein Junggesellenabend auch gerne mal über mehrere Tage hinziehen könnte. Zumal der Besuch eines einschlägigen Etablissements von gewissem Ruf nicht ausgeschlossen sei, wo auch sicher das ein oder andere Glas auf den Bräutigam geleert werden müsse. Einen Tag Rekonvaleszenz würde mir das Amt doch wohl zugestehen. Deshalb gehe ich davon aus, dass seitens des Amtes mir das gleiche Verständnis entgegengebracht wird, wie auch ich immer Verständnis für das Amt aufbringe. Montag um acht Uhr sei völlig indiskutabel, da, wenn ich erschiene, ein völlig falsches Bild von mir gezeigt werden könnte, welches ich als nichtalltäglich bezeichnen würde. Die Spuren des Junggesellenabschieds möchte ich Frau Müller nicht zumuten. Da mir aber an einem guten, wenn nicht sogar ausgezeichneten Miteinander gelegen ist, ja, ich möchte sogar sagen, es ist mir eine Herzensangelegenheit, erlaube ich mir im Laufe des Mittwochs vorstellig zu werden. Ich verbleibe mit freundschaftlichen und kollegialen Grüßen.
Herzlichst, Ihr Hans-Günter Sorgenbrecher
P.S.: Die Bahnfahrkarten, sowie Hotelrechnung und sonstige Belege habe ich sorgsam gesammelt und vorsortiert und werde sie zur Abrechnung mitbringen. Ich schlage also den Mittwoch vor, sagen wir gegen 14.30 Uhr. 14.00 Uhr ginge notfalls auch, wenn ich vom Bahnhof direkt mit einem Taxi vorbeikäme, was allerdings zusätzliche Kosten zulasten des Amtes mit sich brächte. Eine Barauszahlung meiner Aufwandsentschädigung würde ich präferieren. Sollte ich bis Sonntag, 18.30 Uhr, keine gegenteilige Information ihrerseits erhalten, gehe ich davon aus, dass sie den von mir vorgeschlagenen Termin einrichten können.
Jetzt weiß ich nicht, kam meine Karte aufgrund einer postalischen Unzuverlässigkeit oder einer internen Fehlinformation bei meiner Sachbearbeiterin nicht an oder wurde von Seiten des Amts gegen Frau Müller intrigiert?
Vielleicht wollte ein hinterlistiger Kollege mich als Kunden gewinnen und Frau Müller wegmobben. Man weiß es nicht. Jedenfalls teilte man mir an der Pforte des Arbeitsamtes äußerst unwirsch mit, dass heute, am Mittwoch, kein Termin für mich zu bekommen sei. Außerdem hätte man mir eine schriftliche Aufforderung zugesandt. Warum ich dem Termin am Montag fern geblieben sei? Das Arbeitsamt würde nun rechtliche Schritte einleiten und ich hätte mit Repressalien zu rechnen.
Und so stand ich da, mit meinem Koffer, der Taxiquittung, einer detaillierten Gesamtabrechnung meiner Reise und der Flasche Ettaler Klosterlikör, die ich extra als Mitbringsel besorgt hatte. Und dann versemmeln die einfach den vereinbarten Termin. Die Kosten für meinen Ausflug, den ich im Antrag als Seminar zur Stärkung der Sozialkompetenz deklariert hatte, wurden mir nicht bewilligt. Auch als Fortbildungsmaßnahme Wirtschaft und bayrisches Brauchtum als Zukunftsvision wurde mein Änderungsantrag abschlägig beschieden.
Seitdem ist das Verhältnis zu Frau Müller nachhaltig gestört, um nicht zu sagen zerrüttet. Ich sah mich gezwungen, trotz unserer früheren guten Zusammenarbeit, ihr eine Abmahnung zu schicken. Zumindest der Antrag auf die mobile Bierzapfanlage wurde jetzt bewilligt. Mit meiner Geschäftsidee kam ich nun in das Förderprogramm Ausgliederung zur Eingliederung in die Selbstständigkeit durch Eigeninitiative! Und den Flatscreen gab es auch, als Förderung der Grundausstattung eines neuen Geschäftsmodells.
Zu Frau Müller habe ich übrigens keinen Kontakt mehr. Sie soll gekündigt haben und inzwischen auch Hartz IV bekommen. Sie hat sich mich als Vorbild genommen. Nicht der schlechteste Weg, Karriere zu machen.

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