Buchkritik: Wie sieht die Weltordnung des 21. Jahrhundert aus? Sind wir gerüstet für den Wandel, der uns bevorsteht?
Herfried Münkler hat vollkommen Recht mit dem Weckruf, der dieses Buch (das im Oktober herauskam) sein soll. Die Welt ist tatsächlich in Aufruhr. Zum Krieg in der Ukraine, der ein zentrales Thema des Buches ist, kam inzwischen ein weiterer Konfliktherd in Israel hinzu, der Schockwellen in alle Welt aussendet. Gleichzeitig liest man, wie sich die USA mit vehement verstärkter militärische Präsenz auf einen Konflikt in Taiwan vorbereitet.
Und doch hat man, trotz „Zeitenwende“ und der überbordenden Berichterstattung aus allen Krisenregionen, den Eindruck, dass Münklers Stimme nicht wirklich gehört wird. Das Buch steht zwar auf den Bestsellerlisten und wurde ausführlich in vielen Medien besprochen. Doch dass es wirklich eine breite Diskussion über die von ihm aufgeworfenen Fragen gäbe, kann man eigentlich nicht behaupten.
Dabei befinden wir uns in einem durchaus gefährlichen Augenblick der Weltgeschichte, jener „Thukydides-Falle“ (Graham Allison), die auch im Buch zur Sprache kommt. Alle genannten Konflikte sind Indikatoren für ein größeres Beben, nämlich jenem kritischen Moment, wenn die hegemonialen Machtverhältnisse sich tektonisch verschieben. Alle großen Kriege der abendländischen Geschichte gingen aus solchen Konstellationen hervor. Die epochale Frage, vor der wir stehen, ist, ob es gelingt eben jene Eskalation zum Weltkrieg zu vermeiden.
Enzyklopädische Befragung
Herfried Münkler versucht nichts Geringeres als die gesamte abendländische Geschichtsschreibung zu Krieg und geostrategischen Themen darauf hin zu befragen, was sie zum Verständnis der möglichen aktuellen Entwicklung beitragen können. Diese Tiefenbohrung ist nicht nur eine überaus faszinierende Lektüre für jeden, der sich für Geschichte und den Aufstieg und Fall von Weltreichen interessiert. Das Buch wirft auch zahlreiche Fragestellungen auf, die durchaus anspruchsvoll sind.
Denn viele Faktoren spielen eine Rolle wie sich die Weltläufe entwickeln, wie sich Machtverhältnisse bilden und verschieben: von der geographischen Lage, Bevölkerung, Religion, Ideologie und Kultur bis hin zu technischem, militärischem und wirtschaftlichem Fortschritt. Mit universalistischem Ehrgeiz versucht Münkler die Konstellationen über die Jahrhunderte hinweg perspektivisch zu untersuchen und zu beleuchten.
Was das ganze so kompliziert macht, ist, dass alles in ständiger Bewegung ist. Dass Faktoren, wie etwa die geographische Lage oder bestimmte Rohstoffe, die eine Epoche lang einen entscheidenden Vorteil verschafften durch Innovationen verschiedenster Art wieder obsolet werden. Auch jede Staatsform zwischen Diktatur und Demokratie hat Stärken und Schwächen, die mal von Vorteil sind und mal von Nachteil.
Besonders volatil und fragil sind die ideellen Komponenten. So stellt Herfried Münkler mit Nüchternheit fest, dass Völkerrecht nur solange wirksam sein kann, solange es jemanden gibt, der willens und in der Lage ist dieses Recht auch mit Gewalt durchzusetzen. Und dass mit dem schwindenden Willen der USA diese Rolle auszufüllen auch dessen Relevanz schwindet. Auch die ideologischen Systeme, seien es Religion oder Wertevorstellungen, können zwar enorme suggestive Macht entfalten, sind aber auch heftigen Stimmungsschwankungen unterworfen. Aktuell lässt sich gerade bei den zahlreichen ex-sowjetischen Ländern dieses Flackern zwischen liberalen und autoritären Sentiments exemplarisch beobachten.
Doch eben diese Fülle an Informationen und Details birgt auch die Gefahr eines akademischen Enzyklopädismus, in dessen Dickicht der Theorien und Theoreme man leicht die Orientierung verlieren kann. Wozu auch die Heterogenität der Quellen beiträgt, die von Philosophen, Theoretikern und Historikern über Künstler und Demagogen, Staatsmännern und Ökonomen bis hin zu biblischen und mythologischen Erzählungen reicht. So bewundernswert Münklers Fähigkeiten zu Differenzierung und Dissoziation ist, mit der er sich souverän durch die Themen arbeitet, es droht immer auch ein wenig, dass man als Leser in dieser Vielstimmigkeit den Überblick verliert.
Multipolare Ordnung
Die vielleicht zentrale These des Buches ist die von einer zukünftigen multipolaren Ordnung. Nach der bipolaren Ordnung des kalten Krieges und dem unipolaren Moment nach dem Zerfall der Sowjetunion, jenem von Francis Fukuyama proklamierten „End of history“, würde sich, so die Prognose von Herfried Münkler, zukünftig eine multipolaren Ordnung mit fünf Machtzentren herausbilden, mit den USA, China, Europa, Russland und Indien als „Pentarchie“, ähnlich wie es im Europa des 19. Jahrhunderts ein relativ stabiles Gleichgewicht von fünf Kräften gab.
Ganz gewiss ist es eine der großen Zukunftsfragen wie sich die hegemonialen Verhältnisse im 21. Jahrhundert formen werden. Ob sich die im Moment andeutende bipolare Ausrichtung zwischen China und den USA, die sich am stärksten in den Konstrukten von BRICS und G7 abzeichnet und auch eine ideologische Komponente von Autoritarismus gegen Liberalismus hat, weiter zuspitzt und im schlimmsten Fall in einen Weltkrieg eskaliert. Oder ob sich diese Spannungen im Interesse der gemeinsamen wirtschaftlichen Entwicklung wieder lösen. Sollte letzteres passieren, scheint Münklers These einer multipolaren Ordnung durchaus wahrscheinlich.
Deutschland und Europa
Natürlich stellt Herfried Münkler auch die Frage, welche Rolle Deutschland dabei spielen wird. Es ist vollkommen offensichtlich, dass im Weltkonzert der Kräfte Deutschland allein kaum Einfluss wird entfalten können, nur im europäischen Verbund wird man genügend kritische Masse kummulieren können. Münkler ist jedoch durchaus skeptisch, ob es gelingen kann, die europäischen Institutionen so weit umzubauen, dass sie in dieser Rolle handlungsfähig werden. Denn in den aktuellen flachen Hierarchien, in denen jeder Staat ein Vetorecht hat, das Entscheidungen blockieren kann, wird das nicht möglich sein.
Eine der zentralen Herausforderungen für Deutschland ist denn auch, im europäischen Rahmen mehr Verantwortung zu übernehmen, was dann auch heißt mehr Verantwortung an sich zu ziehen. Ob das, auch angesichts der historischen Vorbehalte gegenüber Deutschland, machbar ist, wird wesentlich darüber entscheiden, welche Rolle Europa im 21. Jahrhundert spielen wird.
Zukunftsprognosen
Zu den bemerkenswertesten und zugleich zwiespältigsten Erkenntnissen der Lektüre zählt, dass nahezu alle Zukunfts-Visionen und Prognosen der Vergangenheit, die Münkler referiert, sich als Schimäre erwiesen haben. Es kam praktisch immer anders als man dachte. Und Münkler ist auch selber realistisch genug immer wieder einzuräumen, dass seine Überlegungen über mögliche zukünftige Entwicklungen spekulativ bleiben müssen.
Eine der Fragestellungen, die das Buch aufwirft, ist denn auch die, ob die Visionen von Thukydides, Dante und Machiavelli alternative Versionen der Geschichte sind, die potentiell hätten passieren können – wenn Athen nicht versucht hätte Sizilien zu erobern bzw. wenn es den idealen ordnungbringenden Kaiser oder Fürsten tatsächlich gegeben hätte. Oder ob Geschichte das Ergebnis von abstrakten entropisch-tektonischen Machtverschiebungen ist, die im Grunde unvermeidlich sind, und bei denen sich weniger die Frage stellt, ob, sondern eher wie sie sich vollziehen.
Einwände
In seinen analytischen Aspekten lässt sich das Buch eigentlich nicht kritisieren, zu sehr ist Münkler Herr der Materie und antizipiert und formuliert bereits selber alle Einwände und Widersprüche, die einem beim Lesen in den Sinn kommen. Es sind eher Bewertungen und Gewichtungen, die hier und da eine gewisse Skepsis auslösen.
So spielt für mein Gefühl in den Überlegungen von Herfried Münkler die ökonomische Seite, obwohl sie immer wieder thematisiert wird, eine zu untergeordnete Rolle. Dabei ist die wirtschaftliche Stärke der primäre Faktor dafür, dass man zum Hegemon wird. Ob Athen, Rom, Spanien im 16. Jahrhundert, England im frühen, Deutschland im späten 19. Jahrhundert oder die USA im 20. Jahrhundert. Dem Aufstieg zur Weltmacht ging immer ein wirtschaftlicher Aufstieg voraus, gespeist aus kolonialistischen Eroberungen, Handelsexpansionen oder Durchbrüchen in Gebieten von Rohstoffen, Industrie oder Technologie.
Wer auf die aktuellen ökonomischen Indikatoren blickt, dem muss vollkommen klar sein, dass China in absehbarer Zeit die größte Weltmacht sein wird. China ist längst nicht mehr nur die Werkbank der Welt und technologischer Nachahmer. In vielen Schlüsseltechnologien wie Energiesysteme und Kommunikationstechnik ist China bereits Vorreiter und investiert immense Summen in Rüstung und Raumfahrt.
Wichtig ist dabei auch die Dynamik und die damit verbundenen Projektionen. China und Indien stehen immer noch relativ am Beginn einer wirtschaftlichen Entwicklung, was in einem selbstdynamischen System wie der Ökonomie von enormer Bedeutung ist. Die Potentiale von wachsendem Wohlstand und Konsum sind dort gewaltig und damit auch die Möglichkeit, Geld zu Investitionen zu beschaffen. Die USA und Europa sind dagegen weitgehend saturiert und geraten immer näher an die Grenzen ihrer Kreditwürdigkeit.
Zwar ist nicht garantiert, dass der wirtschaftliche Aufstieg Chinas und Indiens unvermindert anhält, da es durchaus denkbar ist, dass autoritäre Elemente falsche Anreize schaffen und den Aufschwung irgendwann abwürgen könnten. Doch wäre es töricht, wenn der Westen auf dieser Hoffnung seine Strategien begründet.
Früher oder später wird sich der ökonomische Vorsprung Chinas auch in militärische Stärke und kulturelle Deutungshoheit ausdrücken. Man hat oft den Eindruck, dass Münkler das nicht recht wahr haben will, etwa wenn er China die kulturelle Attraktivität abspricht. Ähnliches dachte man auch Anfang des 20. Jahrhunderts über die USA. Doch ist Kultur immer eine nachgelagerte Reflektion von Macht und Bedeutung.
Zudem ist leider auch ein gewisser Milieu-Bias festzustellen, der bei einer so prominenten Figur wie Herfried Münkler vielleicht unvermeidlich ist. Denn während er die Akteure und Theoretiker der Vergangenheit mit der nötigen Distanz neutral und analytisch ins Auge fasst, ist das bei den aktuellen Akteuren nicht der Fall. So ist ein moralischer Bias gegenüber Putin und Russland sowie gegenüber Xi und China, der immer wieder zum Ausdruck kommt, zwar verständlich doch im Interesse einer nüchternen Analyse nicht unbedingt hilfreich.
Denn auch wenn man sich das im Westen nicht gern eingesteht: unter rein hegemonialen Gesichtspunkten war es der entscheidende geostrategische Fehler, keine Allianz mit Russland gegen China eingegangen zu sein. Die Allianz, die Russland stattdessen mit China und Indien einging, ist ökonomisch von enormer Bedeutung und wird völlig unterschätzt. Der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands seit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders war maßgeblich von billigen russischen Rohstoffen befeuert. Dass diese Europa nun entzogen werden und stattdessen China und Indien zur Verfügung stehen, wird die Machtverschiebung gen Osten noch weiter beschleunigen.
Umgekehrt wird auch Russland davon ökonomisch profitieren, denn der Bedarf Chinas und Indiens an diesen Rohstoffen steigt rasant, während die Nachfrage aus Europa schon seit einiger Zeit aufgrund der Energiewende stetig zurückging. Herfried Münklers Annahme, Putin habe mit dem Angriff auf die Ukraine gegen die wirtschaftlichen Interessen Russlands gehandelt, ist vor diesem größeren ökonomischen Horizont eigentlich nicht haltbar.
Diese unangenehmen Tatsachen, die sich bereits in den aktuellen Wirtschaftsdaten widerspiegeln, werden von Herfried Münkler ebenso wie von vielen westlichen Politikern gerne verdrängt. Womit sie im Grunde die oberste Regel der Realisten wie Thukydides oder Clausewitz ignorieren. Nur wenn man ein nüchternes Bild von der Größe und dem Verhältnis der Machtmittel hat, kann man einen Krieg erfolgreich führen. Moralisch oder ideell gefärbtes Wunschdenken kann dann verhängnisvoll werden.
Ironischer Weise ist ausgerechnet der Peloponnesischen Krieg, den Thukydides ausführlich beschreibt, die Blaupause der heutigen Probleme. Athen war wie die USA eine Demokratie und zu Beginn des Krieges die reichste, militärisch und kulturell bedeutendste Polis in Griechenland. Es hatte eigentlich die besten Voraussetzungen dafür diese Auseinandersetzung mit dem autoritär oligarchischem Sparta zu gewinnen. Die Fehler, die Athen beging, gründeten vor allem in Selbstüberschätzung und der inhärenten Volatilität des demokratischen Systems.
Man verzettelte sich in mehrere Konflikte (namentlich der Sizilienfeldzug wird von Historikern als verhängnisvoll beurteilt), schaffte sich immer mehr neue Feinde, wie heute in der Ukraine, Israel und Taiwan. Der strategische Kurs wechselte auf Grund der volatilen demokratischen Meinungsbildung immer wieder zwischen eher defensiven und offensiven Strategien (wofür Nikias und Alkibiades exemplarisch stehen), was in seiner Inkonsistenz oft selbstsabotierende Wirkung hatte, wie heute die Zänkereien zwischen US Demokraten und Republikanern. Den Ausschlag für die Niederlage Athens gab jedoch am Ende jenes Bündnis Spartas mit Persien. Die finanziellen Mittel Persiens sorgten für jenes Übergewicht der Machtmittel, das Sparta zum Sieg verhalf.
Der Krieg in der Ukraine
Entsprechend spielen auch für den Ukrainekrieg alle Rechtfertigungen und Begründungen, ob der Westen die Einflusssphäre Russlands verletzt oder ob Putin revisionistische imperiale Träume oder Angst vor unseren liberalen Werten hat, ob alte Versprechen oder Völkerrecht gebrochen wurde, letztendlich keine Rolle. In dieser Phase der „Thukydides-Falle“, in der die Machtverhältnisse neu austariert werden, zählt nur das Recht des Stärkeren.
Der Ukrainekrieg ist unser Sizilienfeldzug. Die Ansicht, dass wir diesen Krieg gewinnen müssten, da sonst Putin ganz Europa erobern würde, ist ein Phantom, das von erstaunlich vielen Akademikern (scheinbar aus nostalgischen Gründen, als sei Europa immer noch der Nabel der Welt), so auch von Herfried Münkler oder auch Carlo Masala beschworen wird. Dabei ist vollkommen offensichtlich, dass Russland, das selbst in der Ukraine nur unter größten Anstrengungen Fortschritte von wenigen Kilometern macht, und dessen Militärhaushalt nur einem Bruchteil von dem der Nato entspricht, dazu nie und nimmer die Machtmittel hätte.
Aus einer realistischen Perspektive macht es keinen Sinn, den Konflikt in der Ukraine weiter voranzutreiben. Er kostet den Westen mehr, an finanziellen Mitteln (insbesondere wenn man auch die sekundären ökonomischen Schäden mit berücksichtigt) jedoch auch an politischer Stabilität (es ist bereits abzusehen, dass er auch im kommenden US Wahlkampf instrumentalisiert wird), als er im hegemonialen Machtspiel an Vorteilen bringt. Denn Russland ist nur noch ein „second rank player“ und die Ukraine für den Westen weder geostrategisch noch wirtschaftlich von herausragender Bedeutung.
Umgekehrt ist der Schwarzmeerhafen der Krim für Russland unter geostrategischen und militärischen Gesichtspunkten zu wichtig als dass es ihn ohne weiteres der Nato überlassen würde. Russland würde zu dessen Verteidigung sehr viel riskieren, was eine Eskalation zum Weltkrieg fast unvermeidlich macht. Denn, und darüber scheinen sich manche nicht klar genug zu sein, für China und Indien wäre eine Niederlage Russlands im aktuellen hegemonialen Kräfteringen nicht akzeptabel, und man würde eine solche unter allen Umständen zu verhindern suchen.
Hegemoniale Strategie des Westens
Die tatsächlich geostrategisch entscheidende Region der nächste Jahrzehnte ist das ost- und südasiatische Meer um China, mit den entsprechenden regionalen Mächten Taiwan, Japan, Südkorea, Singapur und anderen. Und es ist von entscheidendem Interesse des Westens, d.h. den USA, Europas und Australiens in Kooperation mit diesen Ländern ein Gegengewicht zu China zu bilden. Ebenso sollte man versuchen mit Indien, das auch Herfried Münkler wiederholt als „Zünglein an der Waage“ bezeichnet, sowie anderen Ländern des globalen Südens Bündnisse einzugehen. Denn einen Konflikt gegen China und den Rest der Welt kann der Westen alleine nicht gewinnen.
Ob es dem Westen gelingt in dieser Bündnisbildung ein stabiles Gegengewicht gegenüber China zu bilden, wird die zentrale geostrategische Frage der Zukunft sein. Dazu muss Deutschland und Europa sich militärisch weiter rüsten („Si vis pacem para bellum“, „Wer den Frieden will, bereite sich zum Krieg“) und in der Lage sein pragmatische Allianzen zu bilden. Muss fähig sein als handelnder Akteur rasch und wirksam Macht auszuüben.
Überhaupt ist die simple Beobachtung aller epochalen Kriege der Vergangenheit, und gewissermaßen auch die Gegenthese zum Buch von Herfried Münkler, dass die Weltläufe zwar im Detail ungeheuer komplex sind, doch gleichzeitig in ihren großen Zügen auch simpel. Am Ende entscheiden immer die Zahlen und numerischen Verhältnisse der Machtmittel. Vom Bündnis Spartas mit Persien bis hin zum Bündnis der Alliierten gegen Deutschland im 2. Weltkrieg lässt sich das ohne Ausnahme feststellen. Am Ende siegen immer die Pragmatiker über die Idealisten, gewinnen immer die, die am Ende mehr Alliierte auf ihre Seite ziehen können.
Verfolgt man die aktuellen politischen Diskussionen, die sich fast ausschließlich um moralische Fragen drehen, stimmt einen das nicht gerade optimistisch. Auch Herfried Münkler ist skeptisch, ob wir genügend realistischen Sinn für diese Aufgaben aufbringen können. Dabei sollte uns klar sein, dass Moral und Werte Schall und Rauch sind, wenn man nicht die Macht hat sie auch zu verwirklichen und durchzusetzen.
Wenn wir das selber nicht begreifen, wird uns die Geschichte eine harte Lektion erteilen. Uns scheint unvorstellbar, dass Europa, das über viele Jahrhunderte hinweg eine weltbestimmende Rolle spielte, seinen Status verlieren könnte. Dabei ist eben das auch China oder dem osmanischen Reich passiert, die auch lange prosperierende Weltmächte waren, bevor sie für Jahrhunderte an den Rand der hegemonialen Ordnung gerieten.
Doch vielleicht ist dieser Abstieg auch unvermeidlich. Wenn man sich viel mit der Kultur der Vergangenheit beschäftigt hat, sieht man dieses Phänomen vom Zyklus der Kulturen allüberall, mit den typischen von liberalen Tendenzen geprägten Endzeitsymptomen, wie sie bereits Homer in der "Ilias" beschreibt. Wenn man will, ist auch Herfried Münklers Buch ein wenig ein solches Symptom. Gerade in seiner großartigen Fülle und Durchdringung ist es Merkmal einer überladenen und selbstreflexiven Kultur, die allmählich über das Denken das Handeln vergisst.
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