Karin Prien muss sich nicht vorwerfen lassen, das Amt der Bildungsministerin nicht auszufüllen. Ihre Amtsvorgänger*innen scheiterten gerne daran, dass der Bund im Bildungsföderalismus nicht allzuviel zu sagen hat und die Rechtslage Kooperationen weitgehend ausschließt; wo sie stattfinden (looking at you, Digitalpakt) sind die rechtlichen und finanziellen Fragen gerne so diffizil, dass unbrauchbare Bürokratiemonster entstehen. Prien sieht ihre Möglichkeiten, wohl auch durch ihre nicht unerfolgreiche Amtszeit als KMK-Vorsitzende, deutlich weiter gefasst. Sie ist sozusagen der Boris Pistorius der Bildungspolitik, fest entschlossen, einen Posten, auf dem wenig zu gewinnen ist, zum Sprungbrett ihrer Ambitionen zu machen. Das ist grundsätzlich eine gute Sache, denn neben der Infrastruktur, der Verteidigung, der Migration und Integration sowie der Klimakrise ist der Bildungsbereich ein weiterer langsam verfallender Aspekt, der dringend einer gesteigerten Aufmerksamkeit und dem Durchschlagen Gordischer Knoten bedarf. Nachdem Prien ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat, indem sie das wichtigste Problem anging und ihrem Ministerium die Nutzung geschlechtergerechter Sprache untersagte - niemand soll je sagen, die CDU sei für Sprechverboten, jetzt weht ein liberaler Wind! - hat sie nun den nächsten Vorschlag vorgebracht: eine Obergrenze für migrantische Schulkinder.

Die Reaktionen darauf waren erwartbar harsch. Prien ist auch bereits zurückgerudert ("nicht alles, was denkbar erscheint, ist auch eine Lösung", Humor hat sie ja), was in der Merz-CDU ja der normale Modus Operandi ist: erst mal richtig auf die Pauke hauen und provozieren und dann wieder zurücknehmen, man hat ja nur, Klartext, Sie verstehen. Die Jury berät noch, ob das eine erfolgreiche politische Strategie sein wird; ich sehe die Chancen für diese Art von Trumpismus-light gar nicht so schlecht. Aber ich will gar nicht so sehr diese neue Art des Regierens untersuchen; das haben Ariane und ich im Podcast jüngst getan. Denn Prien hat einen Punkt.

Das Thema, um das es hier geht, ist erst einmal nur sehr peripher ein bildungspolitisches; eigentlich geht es um Integration. Die Problematik ist Ghettoisierung: steigt der Migrant*innenanteil an einer Schule, geht das mit Friktion einher, also Reibungsverlusten. Unterschiedliche Kulturen und Hintergründe sowie sehr disparate Sprachniveaus (und Sprachen!) erschweren das bildende Tagesgeschäft und nehmen Zeit der dafür gar nicht ausgebildeten Lehrkräfte in Anspruch. Da weder Mittel noch Fachkräfte existieren, um diese Aufgabe zu übernehmen, sinkt die Qualität des gesamten Bildungserfolgs (auch wenn die Kinder selbst relativ gesehen Bildungserfolge haben!), was dazu führt, dass die autochthone Bevölkerung diese Schulen meidet und entweder den Bezirk wechselt oder das staatliche für das private Schulsystem verlässt. Wir sehen beide Faktoren; der erste ist die bereits genannte Ghettoisierung, der zweite am Wachstum der Privatschulen problemlos nachweisbar.

Es ist eine Binsenweisheit der Integrationspolitik, dass Segregation keine gute Idee ist: die Durchmischung macht es. Kinder aus migrantischen Gemeinschaften holen am schnellsten auf, integrieren sich am besten, wo sie von autochthoner Bevölkerung umgeben sind. Ich habe ja vor zwei Absätzen versprochen, meinen innerlichen Bürgerlichen zu kanalisieren, keinen Rassismus zu erkennen und stattdessen ergebnisoffen, nüchtern und pragmatisch mit dem Vorschlag umzugehen. Darauf gebracht hat mich Andreas Rosenfelder, der das Thema in der Welt in erwartbarem bürgerlichen Reflex aufgegriffen und unter der Überschrift "Das Ende der Heuchelei" begeistert kommentiert. Zusammengefasst sagt er plädiert er für ein Ende der politischen Beschönigung hinsichtlich der Herausforderungen an deutschen Schulen mit hohem Migrationsanteil. Er hebt hervor, dass viele linksliberale Eltern öffentlich Vielfalt befürworteten, ihre Kinder aber gleichzeitig von sogenannten „Problemschulen“ fernhielten – ein Verhalten, das laut Rosenfelder zur weiteren sozialen Segregation beitrage. Die hohe Belastung durch Sprachdefizite und Disziplinprobleme führe dazu, dass grundlegende Bildungsinhalte oft nicht mehr vermittelt werden könnten. Bildungsministerin Karin Prien habe laut Rosenfelder diese Problematik offen benannt, indem sie eine Obergrenze für Schüler mit Migrationshintergrund als denkbares Modell bezeichnet habe. Dabei verwies sie auf Erfahrungen in Dänemark und betonte die Notwendigkeit frühzeitiger Sprachförderung. Die Empörung über diesen Vorschlag – insbesondere aus der SPD – interpretiert der Autor als Ausdruck einer ideologisch motivierten Realitätsverweigerung, die letztlich den benachteiligten Kindern schade. Er fordert, die Diskussion über Integration an Schulen pragmatisch und ergebnisoffen zu führen, statt sie weiter mit moralischer Empörung zu blockieren.

Ich bin völlig bei Rosenfelder. Lasst und das mal ergebnisoffen und ohne Heuchelei führen. Obergrenzen für Migrationshintergrund an Schulen! Das Problem, wie wir "Migrationshintergrund" definieren und die ganze Stigmatisierung lassen wir mal beiseite, wir wollen ja Probleme lösen. Jetzt haben wir Schulen, die Schüler*innen an andere Schulen abgeben müssen. Sie haben schließlich mehr Schüler*innen mit Migrationshintergrund, als sie nach einer Quote noch haben dürfen.

Da die Gebäude nicht wachsen und schrumpfen können und auch das Personal nicht beliebig verschiebbar ist, müssen die Schüler*innen wandern. Dank eines gut ausgebauten und verlässlich funktionierenden öffentlichen Nahverkehrs ist das auch kein großes Problem (ich hoffe, man verzeiht mir an der Stelle den Sarkasmus). In Großstädten müssten die betroffenen Schüler*innen (ich nehme an, wir losen die aus) in einen benachbarten Bezirk oder Stadtteil ausweichen; in den Vorstädten in eine Schule im Nachbarort. Auf dem flachen Land haben wir generell kein Problem, weil der Migrationsanteil zu gering ist; andernfalls stießen wir hier schon auf unlösbare Hindernisse. Aber diese Wanderung der migrantischen Kinder ist noch das kleinste Problem.

Wir haben schließlich auch eine Wanderung in die entgegengesetzte Richtung, denn die Verringerung der Migrantenquote an einer Schule, indem wir Kinder herausnehmen, reicht ja alleine gar nicht aus. Unsere aus den "überquotierten" Schulen herausgenommenen Kinder müssen auf solche Schulen, in denen der Migrant*innenanteil bisher relativ niedrig war. Gemäß unserem vorherigen Axiom von der Unflexibilität vorhandener Bausubstanz bedeutet das aber, dass Kinder, die bisher dort auf die Schule gehen, nun gehen müssen - wohl auf die Schulen, in denen gerade durch unsere Verschiebung Platz geschaffen wurde.

Das Resultat dieser gegenläufigen Verschiebung wären wesentlich besser durchmischte Klassen und vermutlich größere Integrationserfolge. Wir haben es den linksliberalen oder gar einfach nur linken Heuchlern also ordentlich gezeigt. Vermutlich hat an dieser Stelle bereits jede lesende Person ein klitzekleines Problem bemerkt: während die Verschiebung migrantischer Kinder per ordre de mufti noch vorstellbar sein mag - wir heucheln schließlich nicht, sondern suchen nach pragmatischen Lösungen bei Gruppen, die keine politische Lobby haben und sich nicht wehren können -, sieht dies bei der anderen zu verschiebenden Gruppe gänzlich anders aus.

Denn nichts bringt alman-Eltern so sehr auf die Barrikaden wie die Vorstellung, dass ihre Sprösslinge mit den Schmuddelkindern zusammen zu spielen gezwungen sein könnten. Erinnert sich noch jemand an den gescheiterten Vorstoß einer längeren Grundschulzeit in Hamburg? Das Plebiszit scheiterte an den Eltern der Kinder, die aktuell die Gewinner unseres international und empirisch dauerbestätigt massiv segregrierenden und ungerechten Systems, die keinesfalls bereit waren, ihre Kinder aus den Eliteschmieden (den Gymnasien) gegenüber längerem gemeinsamen Lernen fernzuhalten. Die Vorstellung, dass die Kinder nicht nur die Verhältnisse der Grundschulzeit länger erleben würden, sondern auch noch gezwungen wären, in die migrantischen Viertel zu fahren, um dort für das Projekt einer gewaltigen Umerziehung der Gesellschaft andere (schlechtere) Schulen zu besuchen, ist politisch völlig absurd.

Und hier fängt die Heuchelei sowohl Priens als auch Rosenfelders (man darf vermuten: pars pro toto) an. Denn die analytische Schärfe, mit der Rosenfelder die Heuchelei der Progressiven (völlig zu recht) enttarnt hat, die kein Problem damit haben, ihre Kinder auf "sortenreine" Schulen zu schicken, verlässt ihn bei der Bewertung von Priens Vorschlag völlig. Es ist völlig unrealistisch anzunehmen, dass die bürgerlichen Klientel auch nur bereit wären, einen Influx migrantischer Kinder in den Schulen ihrer Kinder hinzunehmen - geschweige denn, ihre Kinder von diesen Schulen auf solche zu schicken, die bisher den migrantischen Kindern vorbehalten waren.

Wir müssen das nicht nur als theoretisches Szenario überlegen; einen solchen Versuch gab es bereits einmal, wenngleich nicht hier in Deutschland. Als in den 1960er Jahren in den USA die krasse Benachteiligung der Afroamerikaner*innen klar wurde, holten die Sozialwissenschaftler (keine Notwendigkeit zu gendern) die hier im Artikel genannten Erkenntnisse hervor, die damals relativ neu waren (was es etwa nervig macht, dass Prien und Rosenfelder das jetzt als radikal neue Idee entdecken) und entwarfen eine Politik, die dem entgegenwirken sollte. Wenn die Schulen afroamerikanischer Kinder besonders monolithisch und schlecht waren, musste man sie durchmischen. Das Resultat war die Politik des "bussing", so genannt, weil man die Kinder mit Schulbussen in Schulen anderer Distrikte brachte, um so für eine Durchmischung zu sorgen.

Das Resultat war eine scharfe Zunahme von Rassismus und rechten Wahlentscheidungen; das bussing trug nicht unerheblich zu den demokratischen Niederlagen von 1968 und 1972 bei. Richard Nixons Rede von der silent majority im Wahlkampf 1968 und das zentrale Versprechen von "Normalität" (es gibt nichts Neues unter der Sonne) basierten maßgeblich auf der Opposition gegenüber der Bürgerrechtsbewegung und ihrer Gleichberechtigungspolitik, in der das bussing eine erhebliche Rolle spielte. Aber damit nicht genug. Denn nicht nur lehnte die weiße Mehrheitsbevölkerung, auch die liberal eingestellte, das bussing entschieden ab, auch die Afroamerikaner*innen selbst hassten diese Politik, die ihre Kinder zu langen Schulwegen in ihnen fremde Gebiete und Schulen zwang. Niemand weinte dem sachlich begründeten, pragmatischen, rationalen und erfolgreichen (!) Projekt eine Träne nach, als es endete.

Nun habe ich den begründeten Verdacht, dass Karin Prien sich so viele Gedanken gar nicht gemacht hat, als sie ihren Vorstoß unternahm. Mein zweiter Verdacht ist, dass Andreas Rosenfelder beim Schreiben der Kolumne auch beim "owning the libs" stehengeblieben ist. Denn das ganze Unternehmen ist eigentlich eines, das man eher Progressiven unterstellen würde; es ist social engineering über die Köpfe der Beteiligten hinweg, bei dem der Elternwunsch, die Familie, die Freiheit des Einzelnen keine allzu große Rolle spielen. Das alles spricht nicht für oder gegen die Maßnahme, es ist einfach nur Fakt. Aber man hat schon den Verdacht, dass die Attraktivität des Vorschlags nur so weit reichte, wie sie sich gegen Menschen mit Migrationshintergrund richtete und dass die Konsequenzen nur sehr eingeschränkt durchdacht waren. Man kann das gerne, um Rosenfelder noch einmal aufzugreifen, ergebnisoffen und pragmatisch diskutieren. Nur fürchte ich, dass die Ergebnisoffenheit hier zu Pfaden führt, die weder Prien noch Rosenfelder - oder gar irgendwie geartete Mehrheiten in der Bevölkerung! - akzeptabel finden würden. Manchmal hilft es eben doch recht wenig, einen Finger nur in die Wunde zu legen. Das tut nämlich ziemlich weh.

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