München 15. Februar 2023. Interview von Dr. med. Ulf Riker, Vorsitzender des DZVhÄ-LV Bayern, mit Dr. med. Heinrich Hümmer

Schon vor fast einem Vierteljahrhundert habe ich Leserbriefe  von Ihnen, lieber Herr Hümmer, in der AHZ wahrgenommen. Damals habe ich  mich gefragt: was ist das eigentlich für ein Typ, dieser Hümmer? Können  Sie uns darauf eine Antwort geben?

Ich bin der ewig aufmüpfige Causticum-Revoluzzer, der mit sich,  mit anderen und dem, was ihm als unumstößliche Wahrheit präsentiert  wird, immer kritisch umgeht . Mit diesem querulatorischen  Widerspruchsgeist hatten schon meine Vorgesetzen in der Klink, und (so  scheint mir) neben den führenden Köpfen der Skeptiker auch stramme  Hahnemann-Jünger bisweilen ihre liebe Müh. Und mit diesem zweifelnden  Wesen habe ich natürlich auch Müh, das zu erklären, was ich täglich an  phantastischen Reaktionen nach homöopathischer Therapie erlebe.

Offenbar haben Sie schon immer Homöopathie in Ihre Praxis als  Allgemeinmediziner eingebaut, also schon lange, bevor von Integrativer  Medizin die Rede war. Wie kam das und wie kam das bei Patientinnen und  Patienten an?

Als ich 1986 trotz dürftiger Homöopathie-Kenntnisse die Chance  bekam, in die homöopathisch ausgerichtete Praxis von Dr. Springer in  Diessen am Ammersee einzusteigen, da war geplant, dass ich als  vielseitig ausgebildeter Allgemeinmediziner den konventionell  medizinischen Teil übernehmen sollte, also überwiegend das  „schulmedizinisch“  zu behandelnde  Klientel übernehmen sollte. Da ich  auch bei Dr. Springer mit meinem Widerspruchsgeist antrat, lag die  klinisch-intensivmedizinisch geprägten Frage an ihn  – „Das willst du  jetzt wohl auch homöopathisch behandeln?“ –  auf der Zunge, aber bald  war die Verwunderung über das, was homöopathisch erfolgreich  therapierbar war, um so größer.

Schon damals war der Zulauf an Patienten, die größtenteils schon  alle konventionellen Therapieversuche durchlaufen hatten und wegen  einiger herber Enttäuschungen „ihre letzte Hoffnung“ in die Homöopathie  setzten,  gewaltig. Und dieser Zulauf an mehrheitlich akademisch  ausgebildeten und kritischen Patienten ist auch in unseren heutigen,  technokratisch gefärbten Zeiten ungebrochen. Diese Patientinnen und  Patienten erleben oft Reaktionen weit jenseits eines möglichen  Placeboeffektes , was auch kritische Geister wie Lehrer, Juristen oder  Piloten überzeugt.

Gibt es Bereiche oder Beispiele, wo Sie rückblickend sagen  würden: wenn ich die Homöopathie nicht zur Verfügung gehabt hätte, dann  wäre ich ziemlich nackt vor meinen Patienten gestanden?

Nackt und hilflos fühlte ich mich, abgesehen vom chirurgischen  und  intensivmedizinischen Handeln, schon in der Klinik sehr oft. Daher  wuchs nach ausreichender Zeit zum Erlernen des klinischen Handwerks  schon bald der Wunsch, ein zusätzliches Werkzeug an die Hand zu  bekommen, das nicht nur Symptome kupiert oder substituierend wirkt.

Und heute würde ich mich – mehr denn je –  mit den ausschließlich  konventionellen Therapiemethoden bei vielen Erkrankungen völlig  „hilflos“ fühlen und müsste meinen Patientinnen und Patienten sehr oft  sagen: „Dafür hat die Schulmedizin leider gar nichts anzubieten“. So  aber – mit dem komplementären Werkzeug der Homöopathie – kann ich dann  immer noch sagen: „Da gibt´s noch Möglichkeiten der Hilfe“.

Homöopathie integrieren heißt auch Abwägen, wann und wo sie  zum Einsatz kommt bzw. wann die konventionelle Therapie Vorrang hat oder  haben muss. Was sind für Sie Kriterien, die für einen ergänzenden,  palliativen oder eben auch alternativen Einsatz der Homöopathie  sprechen?

Ich bin viel zu lange intensivmedizinisch und  Blaulicht-notärztlich tätig gewesen, um nicht auch um die Grenzen der  komplementären Therapiemethoden zu wissen. Sofern ich mich nach absolut  gewissenhafter Abwägung für eine alleinige homöopathische Therapie  entscheide, muss diese umgehend eindeutige – auch klinisch-diagnostisch  ablesbare – Besserungen herbeiführen! Risiken für den Patienten werden  unter keinen Umständen eingegangen. Wenn also die erforderliche  Besserung nicht zeitnah und eindeutig eintritt, dann werde ich ohne  Zeitverzögerung das gesamte Repertoire der konventionellen Medizin  einsetzen einschließlich umgehender Weiterleitung an entsprechende  Fachärzte oder Kliniken.

Es ist noch nicht sehr lange her, da waren in Bayern  Homöopathie-Kurse für Kolleginnen und Kollegen gut gefüllt, das  Interesse war groß. Das hat sich geändert. Worin siehen Sie Gründe für  diese Entwicklung und welche Vorschläge haben Sie an Ihreen  Berufsverband, wie man das ändern könnte?

Die heutige Generation der Medizinstudenten und Assistenzärzte  lebt hauptsächlich in der Angst, eine leitliniengerechte Behandlung zu  versäumen. Da bleiben wenig Valenzen, diese Vorgaben kritisch zu  hinterfragen oder Alternativen zu erwägen, vor allem dann, wenn schon im  Studium eine Indoktrination gegen die Homöopathie stattgefunden hat.

Erst im Praxisalltag werden die Grenzen und oft auch die  Hilflosigkeit der konventionellen Medizin für die angehenden Kollegen  richtig deutlich. Hier können wir als Ausbilder die Chancen adjuvant  homöopathischer Therapie verdeutlichen und durch eindrückliche  Fallverlaufe auch die kritischen Geister der nachwachsenden  Medizinergeneration neugierig auf eine homöopathische Zusatzausbildung  machen. Allerdings müssen wir diesen eine selbstkritische und  zeitgemäß formulierte Homöopathie anbieten, die sich nicht hinter  verschroben wirkenden Dogmen versteckt, sondern mit nachvollziehbaren  Argumenten den Vergleich mit der konventionellen Medizin nicht scheut.

Mit welchen Argumenten würden Sie junge Kolleginnen und  Kollegen zur Beschäftigung mit Homöopathie ansprechen und im Idealfall  motivieren?

Die jungen Kolleginnen und Kollegen werden mit dem alleinigen  konventionellen Medizin-Werkzeug viele frustrierende Grenzen und  ärgerliche Patienten erleben,  die manch einem niedergelassenen Arzt die  Begeisterung am Beruf schnell abhanden kommen lassen. Wenn sie auf  Dauer eine erfüllende  und freudige Tätigkeit ausführen wollen, mit  zufriedenen, glücklichen und dankbaren Patienten, die Ihnen Ihre Mühe in  allen Formen des Dankes (einschließlich Naturalien …!) zurückgeben  werden, dann sollten sie nach komplementären Therapiemethoden wie der  Homöopathie als Ergänzung suchen. Das hilft oft über die  schulmedizinische Hilflosigkeit hinweg und macht beide Seiten auf Dauer  glücklicher.

Sie setzen sich regelmäßig mit Homöopathie-Gegnern auseinander und  scheuen keine engagierte Diskussion. Haben Sie den Eindruck, dass sich  das lohnt und dass Sie mit Ihrem Wissen und Erfahrung Gehör finden?

Ob es sich für die nahe Zukunft lohnt, die Auseinandersetzung zu suchen, weiß ich nicht wirklich. Ich  sehe es eher als ein dankbares und idealistisches Anliegen, sich für  eine so menschliche und heilsame Medizin einzusetzen, die meinen  Patentinnen und Patienten und auch mir selbst so viel phantastische  Unterstützung und Bestätigung der Mühen gegeben hat. Die Homöopathie  wurde in ihrer über 200-jährigen Geschichte schon oft vehement  angegriffen, und wenn sie nicht wahr wäre und immer wieder engagierte  Verfechter gefunden hätten, wäre sie möglicherweise ganz von der  Bildfläche verschwunden.

Ich finde sehr viel Gehör, allerdings erwartungsgemäß wenig  „Glauben“. Dazu sind die (Chef)-Skeptiker und die technokratisch  ausgerichtete nachwachsende Generation viel zu sehr in ihren  materialistisch determinierten Denkschablonen verhaftet. Für diese  scheint alles Irrationale  und damit ein (bislang noch) nicht  erklärbaren Wirkmechanismus der Homöopathie nur Angst auszulösen. Dann  wird die eigene Unsicherheit und erlebte Hilflosigkeit z.T. sehr  polemisch und bisweilen leider auch demagogisch auf die Homöopathie und  ihre Repräsentanten übertragen. Erfahrung aus 200 Jahren erfolgreicher  Therapie zählt für diese Herrschaften nichts, nur Studien – egal wie  zustande gekommen – werden anerkannt.

Bei all den Materie-fixierten Argumenten der Skeptizisten mutet  allerdings die Aussage ihrer Kronzeugin, Frau Grams-Nobmann, geradezu  subversiv an, wenn sie in ihrem ersten homöopathie-kritischen Buch  erklärt: „Ab der emotionalen Ebene haben wir es nicht mehr mit rein  materiellen, messbaren biologisch-physikalischen Tatsachen zu tun.“

Was würden Sie Ihrem Berufsverband, dem DZVhÄ, ins  Poesiealbum oder ins Stammbuch schreiben, was er gut macht und wo Sie  konstruktive Kritik üben möchten?

Ich finde es sehr erfreulich, dass sich der DZVhÄ aus seinem  Elfenbeinturm mehr an die Öffentlichkeit wagt und den Skeptikern nicht  mehr das narrative Feld überlässt. Ich würde mir allerdings für  die Homöopathen allgemein mehr gesundes Selbstbewusstsein wünschen,  welches den suchenden und manchmal aufmüpfigen Geist Hahnemanns mit  seiner Aufforderung „Sapere aude“ (Habe Mut, dich deines eigenen  Verstandes zu bedienen) mehr beherzigt, als die von ihm vorgelegten  Dogmen unkritisch nachzubeten.

Wir sollten es also auch wagen, die homöopathischen Axiome  kritisch zu evaluieren, die Homöopathie innovativ dem neuesten Stand der  Erkenntnisse anzupassen und unser Tun  immer wieder auch selbstkritisch  zu hinterfragen, um es im Endeffekt noch unangreifbarer zu machen.

Lieber Heinrich Hümmer, wir danken Ihnen für Ihre Zeit und Antworten, die zum Nachdenken auffordern!

Ursprünglich veröffentlicht auf https://www.homoeopathie-bayern.de/interview-von-dr-ulf-riker-mit-dr-heinrich-huemmer/