Wir befinden uns in einem Zeitalter der digitalen Transformation unserer Gesellschaft. In Tageszeitungen ist beispielsweise immer wieder von der Arbeitswelt 4.0 zu lesen. Im Kern geht es hier um die Veränderungen, die durch Internet und neue Medien auf die Wirtschaft zukommen.

Vor diesem Hintergrund tiefgreifender Umbrüche in der globalen Ökonomie des Kapitalismus, steht auch die Gesellschaft im Allgemeinen vor einer Epoche von Veränderungen, mit Auswirkungen auf die Kultur, das private Leben und insbesondere auch auf die Identität der Individuen.

Was bedeutet die Digitalisierung und insbesondere die damit verbundene Quantifizierung des Sozialen für die Sozialisation, für die Identitätsbildung des Individuums?

Ging man nämlich früher davon aus – und an dieser Stelle wäre wohl George Herbert Mead zu nennen-, dass sich Identität primär in personalen Interaktionen entwickelt (Vgl.: Mead: 1995), muss man wohl zu Beginn des 21. Jahrhunderts die digitale Interaktion mit einbeziehen.

Die Quantifizierung des Sozialen und der Einfluss auf die Identitätsbildung

Der Soziologe Steffen Mau beschreibt in seinem Buch "Das metrische Wir" die Entstehung einer Gesellschaft, in der fast jeder Bereich menschlichen Lebens digital erfasst, vermessen, analysiert und bewertet wird. Ob Bildung, Gesundheit, Konsum oder soziale Aktivitäten, über so ziemlich jede Facette einer Person werden inzwischen Daten gesammelt.

Diese Bewertungssysteme, dieser „Quantifizierungskult“ – wie Mau es nennt - so die zentrale These seines Buches, bilden nicht einfach die Ungleichheiten der Welt ab, sondern sind letztlich auch ein entscheidender Faktor bei der Produktion von Status und der Verteilung von Lebenschancen (Vgl.: Mau: 2018).

Mau kann unter anderem plausibel herausarbeiten, dass im Zuge der zunehmenden Messbarkeit und damit auch der zunehmenden Vergleichbarkeit der Lebenswelten von Personen, „der Hang zum Sozialvergleich und damit auch zum Wettbewerb gestärkt wird.“(Mau:2018: S. 17). Es entstehen neue Vergleichshorizonte insbesondere im sozialen Bereich, die erst durch die Quantifizierung ermöglicht werden.

Diesen von Mau im zweiten Kapitel seines Buches ausformulierten Gedanken des sozialen Vergleiches möchte ich an dieser Stelle hervorheben. Da mit dem Vergleich der sozialen Lebenswelt auch immer der Vergleich von gewissen Wertvorstellungen einhergeht, scheint mir gerade dieser Gedanke in Bezug auf meine eingangs aufgestellte Fragestellung einer genaueren Betrachtung wert zu sein.

Identitätsbildung als gesellschaftlicher (Vergleichs)-Prozess

Zunächst ist eine definitorische Klärung des Begriffes Identität nötig: Identität bezeichnet beispielsweise in der Psychoanalyse das emotionale Sich gleichsetzen mit einer anderen Person oder einer Gruppe und die Übernahme ihrer Motive und Ideale in das eigene Ich (vgl. Autorengemeinschaft & Redaktionelle Leitung Grill, 1992, S. 119f). (Stangl, 2019).

Von dieser psychoanalytischen Definition des Begriffes Identität sind prominente Vertreter der Soziologie wie Georg Simmel (1858-1918) nicht weit entfernt. Er stellte die These auf, dass die Mitglieder einer Gesellschaft sich selbst und ihre Welt mit Werten ordnen. Das tiefste Wesen dieser Ordnung sei „nicht die Einheit, sondern der Unterschied […]: die Rangierung nach Werten“ (Simmel: 1900, S. 23). Auch Steffen Mau argumentiert in diesem Sinne, dass „die Sprache der Zahlen unsere alltagsweltlichen Vorstellungen von Wert […]“ (Mau: 2018: S. 16) verändert.

Im soziologischen Sinne sind diese Werte also nichts Absolutes, sondern entstehen aus den gemachten Erfahrungen in einem gesellschaftlichen Umfeld. Sie konstituieren sich in einem ständigen Diskurs und sind in hohem Maße bei der Entstehung einer Identität beteiligt. Georg Herbert Mead schrieb dazu: „Der Prozess, aus dem heraus sich die Identität entwickelt, ist ein gesellschaftlicher Prozess […].“(Mead, 1995, 207) und er findet prinzipiell über die Kommunikation mit Symbolen (hauptsächlich der Sprache), gegebenenfalls aber eben auch mit Zahlensymbolen statt (Symbolischer Interaktionismus).

Identitätsbildung erfolgt also im Wesentlichen durch die aktive, reflektierte Auseinandersetzung des Individuums mit gesellschaftlichen Realitäten. Mit Werterwartungen, kulturellen Kontexten und Traditionen. In früheren Zeiten waren die vorhandenen Vergleichshorizonte und die damit einhergehenden Werterwartungen recht klar umrissen und überschaubar. In einer Dorfgemeinschaft des 19Jh. beispielsweise spielten vor allem die familialen Wertesysteme als Sozialisatoren eine Rolle und Sozialvergleiche reichten wohl nicht viel weiter als bis zum nächstgelegenen Dorf. Die Identitätszugehörigkeit war dementsprechend stabil.

Nun sind unsere westlichen Industriegesellschaften durch den oben angeführten Veränderungsprozess gekennzeichnet, der in der Soziologie auch als "gesellschaftlicher Pluralisierungs- und Individualisierungsprozess" bezeichnet worden ist (Vgl.: Beck: 1986). Zu dieser Pluralisierung zähle ich auch die von Steffen Mau verdeutlichten Quantifizierungsprozesse des Sozialen, verstanden als eine neue Form der Vergleichsmöglichkeiten, einer neuen Vielfalt an Wertorientierungen und Lebensstilen und  ausgedrückt durch „Ratings, Rankings, Scorings und Screenings“(Mau: 2018).

Im folgenden Abschnitt werde ich exemplarisch versuchen zu zeigen, welche möglichen Risiken diese auf Effizienz und Beschleunigung getrimmten Bewertungsmechanismen und der damit einhergehende Dauerwettbewerb für die Identitätsbildung haben können.

Auswirkungen auf das Individuum

„Jeder kann und soll sich fortwährend beweisen, verbessern, andere übertrumpfen. Ob dies gelingt, wird zunehmend durch Zahlen symbolisiert“ (Mau: 2018: S. 68). Schon anhand des Beispiels der sogenannten „Sozialen Medien“ wie Facebook, Twitter, Youtube, Xing & Co. wird deutlich, dass jedes Gesellschaftsmitglied zwar einerseits die Chance hat, mithilfe objektiver Daten und geschickter „Selbstvermarktung“, „Status- und Identitätsarbeit“ zu betreiben und Möglichkeiten zu nutzen, die unsere Gesellschaft und die Digitalisierung ihm bietet.

Andererseits – und das ist die Kehrseite dieses neuen Freiheitsgrades – trägt es aber gleichzeitig das Risiko, sich bei der Vielzahl an Möglichkeiten „falsch“ zu entscheiden und im Streben nach einer unverwechselbaren und bemerkenswerten Persönlichkeit, den Zwängen des Bildungs-, Arbeits- und Konsummarktes zu unterliegen und den Dauerwettbewerb zu verlieren.

In meiner täglichen Arbeit als Sozialarbeiter zeigt sich diese Spannung sehr eindrücklich im Umgang mit Jugendlichen, die in Gesprächen immer wieder zum Ausdruck bringen, dass sie ihren Selbstwert, ihr Ansehen und ihre Identität stark abhängig machen von den erreichten Klickzahlen auf diesen einschlägigen „Selbstinszenierungs-Medien“. Also beispielsweise der Anzahl an „gefällt mir“-Angaben bei Facebook.

Mau würde dieses Phänomen im Allgemeinen wohl so beschreiben: „das Empfinden von Status [sei] eng damit verknüpft […], was andere innerhalb der relevanten Referenzgruppe haben, können oder darstellen: Je besser man bei diesen sozialen Vergleichen abschneidet, desto positiver ist auch das Selbstwert-bzw. Statusgefühl […] (Mau: 2018: S. 54).

Die in meinem Beispiel angeführten jungen Menschen schätzen zwar die Entfaltungs-und Gestaltungsmöglichkeiten, die ihnen die Digitalisierung bietet, sind aber gleichzeitig bei diesem Wettbewerb der Individuen von der Intensivierung und Verdichtung der Leistungsanforderungen und der Fülle an Verarbeitungsprozessen sichtlich überfordert. Gerade auch die Suche nach identitätsstiftenden Weltbildern, der Suche nach Sinn und Perspektive gestaltet sich bei dieser Vielfalt an Orientierungsmöglichkeiten als überaus schwierig (Vgl.: Petzhold et al: 2012: S. 57-64).

Man könnte auch von einer Übersättigung an Werteorientierungen sprechen. Wir haben zahlenmäßig so viele digitale soziale Kontakte in so kurzer Zeit, dass dort die Bildung einer gefestigten und stabilen Identität fast schon unmöglich erscheint. Zumindest ist eine gewisse Skepsis angebracht, inwieweit man in einer Welt der digitalen und kalten Zahlen eine gelingende und starke Bindung aufbauen und ein fruchtbares Interaktionsverhältnis zu anderen Menschen herstellen kann.

In Anknüpfung an Hartmut Rosa, der nach genau solchen Resonanzverhältnissen gefragt hat, liegt die Vermutung nahe, dass eine echte und nachhaltige „Anverwandlung“ der Welt –  und Identitätsentwicklung ist für mich genau das – im digitalen Raum allenfalls eingeschränkt möglich ist (Rosa: 2017).  Vielmehr diagnostiziert Rosa unserer spätmodernen Beschleunigungsgesellschaft eine „Selbstentfremdung“ und eine „soziale Entfremdung“, eine Desintegration und Erosion unserer Weltbeziehungen, welche elementar wichtig für unser Selbstgefühl und unsere Identität sind (Vgl:: Rosa: 2016: S. 141-143).

Fazit:

Die Quantifizierung des Sozialen, die Steffen Mau beschreibt, nimmt Einfluss auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere auf die Identitätsentwicklung. Gerade jene digitalen Daten, welche in hohem Maße unser soziales Miteinander erfassen und bewerten sind in der Lage auf die Identität, also unser Selbstbild einzuwirken.

Verunsicherungen, eine gewisse Werte-Orientierungslosigkeit und Entfremdung können hier die Folge sein. Eine wichtige Aufgabe einer kritischen Soziologie des Digitalen sollte sein, solche Veränderungen aufzudecken und zu beschreiben. Denn die Relevanz traditionelle soziologische Fragestellungen im digitalen Transformationsprozess neu zu stellen, liegt auf der Hand.

Um in diesem Zusammenhang nicht in einen grundsätzlichen Kulturpessimismus zu verfallen, wäre es wünschenswert, wenn sich hier auch Soziologen in der Pflicht sähen, Ideen zu erdenken, wie beschriebene negative Tendenzen abgefedert werden könnten. Aus pädagogischer Sicht plädiere ich an dieser Stelle für eine „Qualifizierung des Sozialen“ anstatt einer zunehmenden Quantifizierung.


Literatur

Beck. U. (1986): Risikogesellschaft - auf dem Weg in eine andere Modeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Mau, Steffen (2018): Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin: Suhrkamp.

Mead, G. H. (1995). Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt. / Münch, R. (2002). Die Amerikanische Tradition des Pragmatismus. George Herbert Mead.  In R. Münch, Soziologische Theorie 1. (S. 265-289). Frankfurt.

Petzold, H. G. (Hrsg.) (2012): Identität, VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH

Rosa, Hartmut (2016). Beschleunigung und Entfremdung. Berlin: Suhrkamp

Rosa, Hartmut (2017). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.

Simmel, Georg (1900): Philosophie des Geldes (Simmel 1989f., Band 6)

Stangl, W. (2019). Stichwort: 'Identität'. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.


WWW: https://lexikon.stangl.eu/522/identitaet/ (2019-11-29)