In der so genannten alternativen Medizin (AM) gibt es nur wenige Argumente, die schwerer zu widerlegen sind als dieses:

ICH WEISS, DASS DIESE THERAPIE FUNKTIONIERT, WEIL ICH ES SELBST ERLEBT HABE!

Dieser Logik begegnet man regelmäßig, wenn man mit Befürwortern der AM diskutiert. Dagegen zu argumentieren, löst dann oft eine emotionale Reaktion aus, und der AM-Befürworter hat das Gefühl hat, man würde ihm Unehrlichkeit, Dummheit oder beides unterstellen. Deshalb ist es wichtig, dieses Thema immer wieder aufzugreifen.

Lassen Sie mich also erläutern, warum unwirksame Behandlungen oft wirksam zu sein scheinen.

Am besten betrachten wir einen konkreten Fall, bei dem sich  (fast) niemand auf den Schlips getreten fühlt. Nehmen wir einen Patienten, der unter wiederkehrenden Schmerzen leidet, deren Ursache nicht diagnostiziert wurde, und der nach einer Edelsteintherapie (eine bizarre alternative Behandlungsweise, die auf einer angeblichen heilenden Energie von Kristallen beruht, und für die es wirklich keinen einzigen belastbaren Beleg gibt) eine Besserung seiner Beschwerden erfährt.

Wie kann das sein? Warum empfindet er weniger Schmerzen, nachdem er seinen Edelsteintherapeuten konsultiert hat? Dafür gibt es eine Unmenge von Erklärungen; mir fallen insgesamt immerhin 17 Gründe ein:

  1. Der Patient könnte denken, dass seine Schmerzen weniger häufig auftreten, ohne dass sich tatsächlich etwas geändert hat (auf Neudeutsch nennt man dieses häufige Phänomen ‚recall bias‘).
  2. Der Therapeut könnte eine dem Patienten einleuchtende Erklärung für die Schmerzen geliefert haben, was unserer Patient als eine Erleichterung und somit als eine symptomatische Verbesserung erlebt.
  3. Der Therapeut könnte ihn davon überzeugt haben, dass seine Schmerzen vor der Behandlung schlimmer waren, als sie tatsächlich waren (recall bias).
  4. Der Patient könnte über eine Verbesserung berichten, die seiner Meinung nach mit den Hoffnungen und Erwartungen des Therapeuten übereinstimmt; man nennt dieses Phänomen ‚soziale Erwünschtheit‘.
  5. Der Patient könnte dazu neigen, sich eher an Positives (symptomatische Verbesserungen) als an Negatives (Verschlechterungen) zu erinnern (recall bias).
  6. Der Patient könnte unklare Veränderungen der Symptome als Anzeichen für eine Verbesserung interpretieren.
  7. Viele Symptome verschwinden oder verbessern sich von selbst (natürlicher Krankheitsverlauf).
  8. Symptome fluktuieren häufig (natürlicher Krankheitsverlauf).
  9. Extremwerte werden bei erneuten Tests weniger extrem (Regression zur Mitte).
  10. Die Patienten wenden mehrere Therapien gleichzeitig an und schreiben eine Verbesserung später fälschlicherweise einer Behandlung zu.
  11. Die Patienten erwarten eine Besserung (Placebo-Effekt).
  12. Die Patienten sind darauf konditioniert, eine Besserung zu erfahren (Placebo-Effekt).
  13. Besserung aufgrund der Begeisterung für eine neue Intervention (Neuheitseffekt).
  14. Besserung aufgrund der Begeisterung für eine besonders exotische Therapie.
  15. Besserung aufgrund der einfühlsamen Pflege und Fürsorge durch den Therapeuten.
  16. Besserung aufgrund der mit dem Therapeuten verbrachten Zeit.
  17. Besserung aufgrund der vom Patienten investierten Ressourcen.

All diese Phänomene (und sicher gibt es noch mehr) wirken zusammen und können so ein Ergebnis hervorbringen, das unwirksame Therapien (und vielleicht sogar schädliche Behandlungsweisen) als wirksam erscheinen lassen. Im Einzelfall ist es dann niemals möglich zu entscheiden, was genau den Effekt verursacht hat. Der einzige Weg, um sicher zu gehen, dass tatsächlich spezifische Effekte der Behandlung (im obigen Beispiel die Edelsteintherapie) beteiligt waren, ist die Durchführung einer (besser mehrerer) kontrollierter klinischer Studien.

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