Viele Menschen sehnen sich nach einem Neubeginn. Doch die wenigsten wagen ihn wirklich. Weil sie das Geheimnis des Aufbruchs nicht kennen, das darin besteht, sich vom Leben mitnehmen zu lassen.
Kennen Sie das Lied von dem Mann, der nach dem Abendessen sagte: „Lass mich noch eben Zigaretten holen gehen!“? Und von der Frau, die ihm nachrief: „Nimm Dir die Schlüssel mit, ich werd‘ inzwischen nach der Kleinen sehen“? Erinnern Sie sich? Er zog die Tür zu, ging stumm hinaus, ins neon-helle Treppenhaus, es roch nach Bohnerwachs und Spießigkeit. Und auf der Treppe dachte er: „Wie wenn das jetzt ein Aufbruch wär?“. Er müsse einfach gehen. Für alle Zeit. Einfach so Nach New York oder Hawaii, egal: dorthin, wonach das Herz sich sehnt.
Er geht aber nicht. Zumindest nicht in Udo Jürgens‘ unvergesslichem Lied „Ich war noch niemals in New York“. Der Mann holt die Zigaretten und geht Heim zu Frau und Kind. Die Sehnsucht brennt im Herzen, doch die Kräfte des Beharrens halten ihn zurück. Er bleibt – und mit ihm bleibt das ungelebte Leben, bis zuletzt wohl auch diese Flamme in ihm erlischt und statt des Aufbruchs nun der Zusammenbruch droht. Spüren Sie die Tragik, die dem innewohnt?
Vielleicht ist Udo Jürgens‘ Lied deshalb so berühmt geworden, weil diese Tragik in uns allen steckt. Weil in uns allen eine Sehnsucht brennt, ein ungelebtes Leben, das zuweilen aufbegehrt und uns von einem Aufbruch träumen lässt, den wir am Ende dann doch nicht schaffen. Es ist jedenfalls ein bekanntes Motiv, dass Udo Jürgens hier in ein neues Gewand gekleidet hat – ein urmenschliches Motiv vielleicht. Jedenfalls eines, dass schon die Romantiker des 19. Jahrhunderts besangen. Joseph von Eichendorff etwa in seinem Gedicht „Sehnsucht“:
Es schienen so golden die Sterne,
am Fenster ich einsam stand
und hörte aus weiter Ferne
ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leibe entbrennte,
da hab’ ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
in der prächtigen Sommernacht!
Aber auch hier: Der Dichter bleibt am Fenster stehen, wagt nicht den Schritt über die Schwelle, scheut den Anfang. So bleibt ihm nur die Sehnsucht. Wer sich damit nicht bescheiden möchte, muss das Wagnis eingehen, aufbrechen. Immer heißt das auch: mit dem Gewohnten brechen, Beziehungen abbrechen, mindestens unterbrechen. Vielleicht auch die Kruste aufzubrechen, die uns vor den Herausforderungen des Lebens schützen soll – dabei aber allzu oft die Seele in uns unter Verschluss hält; die uns daran hindert, das in uns schlummernde Potenzial zu wecken, das sich zeigen will – draußen, jenseits des Treppenhauses.
Nicht zuletzt deshalb wohl hat Udo Jürgens dieses Lied geschrieben. Immer wieder handeln die Texte des bald 80-Jährigen von der Notwendigkeit des Aufbruchs. Und das ist kein Zufall, entstammt er doch einer Familie, deren Wohlstand und deren Philosophie sich einem Aufbruch verdankt: einem bemerkenswerten Aufbruch, von dem Udo Jürgens sowohl in seinem Lied „Der Mann mit dem Fagott“ als auch in dem gleichnamigen Film erzählt, der vor einigen Jahren im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde.
Diese Geschichte erzählt von Heinrich Böckelmann, dem Großvater von Udo Jürgens. Als junger Mann war ihm eine Begegnung der besonderen Art zuteil geworden: Die Töne eines Fagotts klangen durch die stillen Gassen seiner Heimatstadt Bremen. Ein merkwürdig gewandter Spielmann ließ sie erklingen, und ohne dass der junge Heinrich wusste, wie ihm geschah, wuchs in seinem Herzen der Entschluss aufzubrechen: Bremen zu verlassen und nach Russland zu gehen, um dort sein Glück zu versuchen.
Warum gerade Russland? Er wusste es selbst nicht. Vielleicht weil die Melodie, die der Mann mit dem Fagott spielte, ihm irgendwie russisch vorkam. Gleichviel. Er traute dieser inneren Stimme, er folgte diesem inneren Licht. Er kam nach Moskau, gründete eine Bank, deren bester Kunde der Zar wurde. Er machte ein Vermögen, wurde zu einem der angesehensten Männer Russlands. Warum? Weil er aufgebrochen war. Weil die Kruste seiner Gewohnheit und Beharrlichkeit durch die schmelzende Musik des Fagotts weich geworden war und er sich von dem sonderbaren Anspruch berühren ließ, den das Leben dort an ihn richtete.
Daraus lässt sich manches lernen: Die Kunst des Aufbruchs gründet darin, sich berühren zu lassen; achtsam zu sein, für das, was das Leben anbietet und gewährt. Das setzt Vertrauen voraus: das Vertrauen, sich dem Ruf des Lebens nicht zu verschließen. Vor allem dann nicht, wenn er von außen an uns ergeht. Das aber fällt vielen schwer, denn als Menschen der Moderne haben wir alles beigebracht bekommen, wir selbst sollten Schmiede unseres Glückes sein; es liege an uns, ob wir kraft unserer Pläne und Strategien unser Potenzial entfalten. Es hänge ab von der Kraft unseres Willens, ob wir den Aufbruch wagen oder nicht.
Die Geschichte von Heinrich Böckelmann lehrt das Gegenteil: Die Kunst des Aufbruchs ist nicht eine Kunst des Machens, sondern eine Kunst des Lassens – des Zulassens, des Geschehenlassens. Aufbrüche gelingen nicht dann, wenn wir all unsere Kraft zusammennehmen, um uns selbst über die Schwelle nach draußen zu schieben. Sie gelingen dann, wenn wir uns dem Sog der Zukunft überlassen. Ganz gleich, ob dieser nun durch ein Fagott, ein Posthorn oder den Geruch von Bohnerwachs in uns spürbar wird. Dann kommt es nur darauf an – sich gehen zu lassen.
Im Leben des Heinrich Böckelmann bliebt es nicht bei diesem einen Aufbruch. Die Zeitläufte spielten gegen ihn. Der 1. Weltkrieg brach aus, und unversehens wurde der hochgeschätzte deutsche Bankier zum Staatsfeind. Mit großer Mühe gelang es ihm noch, seine Frau und seine vier Söhne ins Ausland zu schleusen – doch dann kam die Geheimpolizei und verschleppte ihn in einen Gulag, fernab im eisigen Ural.
Doch wieder meinte es das Leben gut mit ihm. Dieses Mal in Gestalt eines früheren Beschäftigten, der ihm bei einem Freigang in Aussicht stellte, den Weg in die Freiheit zu bahnen. Ein überaus riskantes Unterfangen, denn anders als einst in Bremen war dieser Aufbruch ein Ausbruch, der – sollte er misslingen – mit dem Tode geahndet würde. Und als er noch haderte, geschah das Wunder: Wieder drang die bekannte Melodie an sein Ohr. Man glaube es oder nicht: Derselbe Musikant, der ihm einst dem Wink zu seinem Glück gegeben habe, spielte nun in den Gassen Moskaus. Genau dort, wo Böckelmann ins Grübeln verfallen war.
Da wusste er: Es ist Zeit für den Aufbruch, das Wagnis. Da spürte er den Sog, und dieser Sog traf ihn mitten ins Herz, der er kam diesmal nicht aus dem Unbestimmten, sondern von seiner Frau und seinen Kindern. Und dem wollte und konnte er nicht widerstehen. Er trat die Flucht an, im Güterzug nach Finnland, Stunden der Angst, doch auch der Befreiung. Er fand seine Familie in Schweden. Der Aufbruch war gelungen.
Das lehrt ein Weiteres, obgleich es längst bekannt ist. Die Frage, wann und wie ein Aufbruch ansteht, lässt sich nicht durch das kluge Abwägen der Für und Wider entscheiden. Der Impuls zum Aufbruch kommt aus dem Herzen, oder gar nicht. Denn das Herz ist das Organ des Vernehmens. Im Herz empfangen wir die Signale, die das Leben an uns sendet. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, wie Antoine de St. Exupéry in seinem „Kleinen Prinzen“ treffend sagt.
Ob wohl die Herzenskraft des Mannes zu schwach war, von dem Udo Jürgens in „Ich war noch niemals in New York“ singt. Oder ob sein Herz ihn doch bei Frau und Tochter hielt? Wer weiß. Nicht immer drängt das Herz zum Aufbruch. Doch wenn es drängt, dann sind wir gut beraten, ihm zu folgen; damit die Trauer über das ungelebte Leben zuletzt nicht unsere Lebendigkeit erdrückt. Wovon auch Hermann Hesse – in seinem berühmten Gedicht „Stufen“:
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
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