In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.
In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht.
Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.
In der Ferne wimmert ein Geläute dünn
Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.
In 'historischen' Romanen und Filmen gibt es, ebenso wie bei Science fiction, bekanntlich weniger etwas über eine bestimmte Vergangenheit bzw. Zukunft zu lernen (wer kennt die schon?), sondern vor allem etwas über die Zeit ihrer Entstehung.
Seit Februar geschieht direkt in unserer Nachbarschaft, mit gerade mal einem schmalen Streifen Polen und Baltikum dazwischen, seit Februar etwas, das uns postheroischen Wohlstandskindern völlig fremd geworden ist und das wir nur aus dem Kino kannten: Menschen ziehen freiwillig in den Krieg, riskieren, opfern ihr Leben, um das eigene Land gegen einen Aggressor zu verteidigen. Schlimmer noch: Moralisierende Belehrungen und Kapitulationsaufrufe deutscher Friedensbewegter sind ihnen komplett egal. Und das überfordert uns.
Man kann die Frage stellen, warum ausgerechnet jetzt, im Jahr 2022, eine dritte Neuverfilmung von Erich Maria Remarques Roman 'Im Westen nichts Neues' erscheint, dieses Mal aus Deutschland. Antwort: Weil uns jetzt, im Jahr 2022, der Krieg so nahe ist wie seit 1945 nicht mehr. Wir sollten also hinsehen.
Die Handlung ist bekannt und eigentlich keine: Der Schüler Paul Bäumer (hier: Felix Kammerer) und seine Klassenkameraden ziehen 1914 voller Begeisterung in den Krieg. Sie lernen Männer kennen wie den Torfstecher Tjaden, den Bauern Westhues und vor allem den väterlichen Veteranen Stanislaus 'Kat' Katczynski, der sie unter seine Fittiche nimmt. In einer Reihe von Episoden erleben wir, wie der moderne, industrialisierte Krieg die jungen Männer wenn nicht tötet, so doch deformiert und sie von ihrem normalen Leben immer mehr entfremdet. Als letzter stirbt Paul 1918 an einem besonders ruhigen Abschnitt der Westfront.
(Ab hier spoilert's übrigens.)
Für die Neuverfilmung haben sich Regisseur Edward Berger und seine Co-Autoren in vielem von der Vorlage gelöst. Das ist völlig legitim und funktioniert auch meistens. Der Beginn wird ins Jahr 1917 verlegt und vor allem wird vieles, vieles weggelassen. Die Rekrutenausbildung mit dem Unteroffizier Himmelstoß fällt ebenso unter den Tisch wie Abschiedsszenen und Pauls Heimaturlaub. Weiterhin werden Episoden ausgelassen wie die, in der Bäumer eine Nacht mit einem sterbenden Franzosen in einem Granattrichter verbringen muss oder die, in der die Jungs ihren todgeweihten Kameraden im Lazarett besuchen. Ebenso wie das berühmte Gespräch, in dem die Soldaten den Widersinnigkeit von Kriegen offenlegen ("Ein Land hat ein anderes beleidigt? Wie soll das gehen?")
Es fehlt einem nichts. Weil das doch nur ein Wiedersehen mit, ein Wiederkäuen von Altbekanntem gewesen wäre. Überhaupt ist die Kameraderie, die im Roman und den beiden Verfilmungen von 1930 und 1979 eine Art Gegenpol bietet zum Grauen der Front, auf ein Minimum zusammengedampft. Geblieben ist eine einzige Szene, in der Paul und Kat, die der Krieg zu Marodeuren gemacht hat, eine Gans stehlen und sie im Kreis der Kameraden genüsslich verspeisen. Hinzuerfunden ist, wie Kat und Paul auf dem Donnerbalken sitzen und Kat, der nicht lesen kann, Paul bittet, ihm einen Brief seiner Frau vorzulesen, den er gerade bekommen hat. Als klar wird, dass Kats Frau fremdgeht, erfindet Paul aus dem Stegreif ein alternatives Ende. Fake News. Natürlich bemerkt Kat den Schwindel, kämpft mit den Tränen, sagt aber nichts. Eine der stärksten Szenen.
In der Romanvorlage und den beiden älteren Verfilmungen bildet sich eine heimelige Grabengemeinschaft, quer durch alle Stände und Klassen. In der Version von 2022 wird deutlich, dass das proletarische Raubein Kat und der bürgerliche Pennäler Paul aus grundverschiedenen Welten kommen und dass das auch so bleibt. Nur der Krieg hat sie zusammengeführt, sie bilden eine Zweckgemeinschaft. Für tiefe Freundschaft ist kein Platz, da der Tod allgegenwärtig ist.
Überhaupt ist mir kein Kriegs- oder Antikriegsfilm bekannt, mit Ausnahme von 'Saving Private Ryan' vielleicht, und da auch nur die ersten 20 Minuten, in der so gnadenlos und konsequent gezeigt wird, wie wahllos und wie beiläufig Menschen im Krieg sterben. Da gibt es kein "Warum?", es passiert einfach. Und wer überleben will, gewöhnt sich Trauern besser schleunigst ab. Zum ersten mal glaube ich, wird der oft erhobene Anspruch ‚die (ganze) Sinnlosigkeit des Krieges‘ zu zeigen, mal ansatzweise eingelöst. Der alte Lothar-Günter Buchheim meinte in einem Interview, Krieg sei kein bewaffneter Pfadfinderausflug und erst recht kein höheres Erlebnis, im Krieg werde einem der Arsch aufgerissen und wer was anderes behaupte, sei ein Lügner. Wer 'Im Westen nichts Neues' sieht, glaubt das aufs Wort.
Auch wurde meiner Kenntnis nach noch nie so drastisch gezeigt, dass Soldaten in einem Krieg diesen Ausmaßes zunächst ein logistisches Problem sind. Es gibt eine Art Prolog: Bevor man ihnen noch die Ehre erweist, sie in Särgen zu bestatten und mit Löschkalk zu bedecken, werden die toten Soldaten behandelt wie Packstücke und alles, was weiter verwendbar ist, wird ihnen abgenommen und wieder aufbereitet. Recycling. Natürlich, was auch sonst, kann man da fragen. Dennoch beklemmend, da ungewohnt, das so explizit gezeigt zu bekommen. Als Paul seine Uniform erhält, meint er, die gehöre jemand anders, denn da sei ein anderer Name eingenäht. Der von der Kleiderkammer reißt das Etikett heraus und sagt, die sei wohl jemandem zu klein gewesen. Was Paul nicht sieht: Auf dem Boden liegen bereits zig herausgerissene Namensschilder. Ein letzter Versuch, den Schrecken, der auf die Jungen zukommt, noch einmal fernzuhalten von den armen Teufeln? Der Film ist da keine zehn Minuten alt.
Ästhetisch bietet 'Im Westen nichts Neues' einiges. Vor allem die völlige Abwesenheit von Kitsch. Es wird auf jeglichen Antik-Look verzichtet. Vorspann und Inserts sind in moderner Schrift gehalten, statt Orchesterklängen gibt es Dissonantes aus dem Synthesizer. Das verhindert bequemes Historisieren. Das Gezeigte mag 100 Jahre her sein, ist uns aber viel näher als uns lieb ist, soll uns wohl signalisiert werden und es funktioniert. Vielleicht wurde die Westfront im ersten Weltkrieg noch nie zuvor so gekonnt in Szene gesetzt wie hier. Auf sichtbare Farbverfremdungen wird ebenso verzichtet wie auf rasante Schnitte und Jitter-Effekte. 'Realistisch'? Man hat jedenfalls genau bei Otto Dix hingeschaut. Überdies nimmt der Film sich Zeit, das Tempo ist eher ruhig und doch übt alles einen starken Sog aus.
'Im Westen nichts Neues' ist Fiktion. Verdichtung, Erfindung und Verfremdung gehören da dazu. Daher ist eine Frage wie die, inwieweit das Gezeigte 'realistisch' sei, irrelevant. So kann man kritteln, dass es heißt, die jungen Rekruten würden in Flandern eingesetzt, wo sie dann auf Franzosen treffen. Flandern wurde aber von Briten und Kanadiern gehalten. Damit den Film entwerten zu wollen, wäre pure Kritikasterei. Ich habe ein paar andere Probleme.
Sowohl im Roman als auch in den bisherigen zwei Verfilmungen sehen wir, wie im Rausch von 1914 eine patriotisch verführte Jugend in den Untergang stürzt. Der neue Film beginnt, wie gesagt, 1917 im dritten Kriegsjahr, die Jahrgänge 1898/99 werden eingezogen. Drei Jahre ging das Morden an den Fronten da schon, Verdun und die Somme waren passiert. Krüppel und Invaliden gehörten zum Straßenbild, in vielen Familien gab es bereits tote, verkrüppelte, traumatisierte Männer und Söhne und es griff nicht nur in Deutschland Kriegsmüdigkeit um sich. Von all dem sieht man hier - nichts. Mussten nicht wenigstens einige dieser Erwachsenen und Lehrer 1917 gewusst haben, in was für eine Hölle sie diese jungen Männer da schicken würden?
Wir sehen zum Schluss wie der fiktive General Friedrich (Devid Striesow) noch kurz vor Inkrafttreten des Waffenstillstands einen allerletzten Angriff befiehlt, bei dem auch Paul und seine letzten überlebenden Kameraden den Tod finden. Friedrich hat aufgrund seines Alters selbst nie im Feld gestanden (fünfzig Jahre Frieden seien einfach zu viel, meint er), sieht sich aber als Soldat, obwohl er aus seinem komfortablen Hauptquartier nie herauskommt, und will mit der komplett unnützen Aktion die Ehre der deutschen Fahnen retten. Ihn trifft es ja nicht.
Nun kann ich zum Glück nicht aus eigener Erfahrung beurteilen, was Krieg aus Menschen macht und ich bin dankbar dafür. Aber: Wie glaubhaft ist es, dass eine schlecht ernährte, ausgepowerte Armee, die schon vom Waffenstillstand weiß, sich in letzter Minute noch ohne jedes Murren so verheizen lässt? Wie gesagt, ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass in Kiel ungefähr zur selben Zeit die Matrosen meuterten, als die Hochseeflotte 1918 einen ähnlichen Befehl bekam, um der 'Ehre' Willen einen letzten Angriff gegen England zu starten.
Neu eingeführt wird auch Matthias Erzberger (Daniel Brühl), der deutsche Chef de mission bei den Waffenstillstandsverhandlungen. Über seine Motive erfahren wir jenseits des ehrenwerten humanitären Ansinnens, das Abschlachten um der Menschlichkeit willen zu beenden - nichts. Geradezu anrührend, wie er in Compiegne bei Marschall Petain, der seine Position genau kennt, mit seinen moralischen Appellen vor die Wand läuft. (Hat da einer „Verhandlungen!“ gesagt? Man glaubt, Richard David Precht durchs Bild laufen zu sehen). Warum der Zivilist Erzberger die Verhandlungen führte und kein militärischer Befehlshaber, erfahren wir - nicht. (Die deutschen Militärs, die längst an der Dolchstoßtheorie strickten, schoben Erzberger als nützlichen Idioten vor, rechte Kreise sollten ihm seinen 'Vaterlandsverrat' ein paar Jahre später heimzahlen.)
Und schließlich: Obwohl Remarques Roman kein kommunistisches Manifest ist, klingt bei ihm und den beiden alten Verfilmungen immerhin am Rande an, dass es welche gibt, die von der ganzen Schlächterei profitieren. Bei Berger ist der Krieg eine Urgewalt und Große Männer machen Geschichte. Das ist dann mit Verlaub doch etwas arg dünne, wenn nicht sogar ärgerlich. Da waren wir schon viel weiter. Trotz allem lohnt das Ansehen.
Die Gretchenfrage: Ist 'Im Westen nichts Neues' Baujahr 2022 nun ein Kriegs- oder ein Antikriegsfilm? Von der Intention her haben wir es zweifellos mit einem Antikriegsfilm zu tun. Glorifiziert wird hier nichts, an keiner Stelle. Vom Effekt her habe ich meine Zweifel, aber den habe ich bei allen Antikriegsfilmen. Die werden nämlich vor allem von denen gesehen, die Krieg eh ablehnen. Also, was kann dieser Film leisten? Ein paar Leute zu der Einsicht bringen, dass gerade ein paar hundert Kilometer östlich keine Heldengeschichten sich abspielen, sondern bloß ein erbärmliches Morden? Dass, wenn man freiwillig zum Militär geht, nicht Ruhm, Ehre und Abenteuer einen erwarten? Das ist nicht viel, wäre aber immerhin etwas.
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Im Westen nichts Neues. D/USA/UK 2022, 148 min. R: Edward Berger, B: Lesley Paterson, Edward Berger, Ian Stokell. D: Felix Kammerer, Albert Schuch, Aaron Hilmer, Daniel Brühl, Devid Striesow u.a. Auf Netflix.
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