Reflektion zur Debatte um die täglichen Schuldzuweisungen zum Thema Impfungen
Zunächst einmal ist es natürlich legitim und notwendig Kritik zu üben und auf verpasste Chancen hinzuweisen, vor allem bei einem Thema, welches unser aller Leben betrifft.
So ist die Kritik an der EU insofern absolut gerechtfertigt, als dass mehr Geld (und Abnahmegarantien) zu einem früheren Zeitpunkt zu mehr Impfstoffproduktion geführt hätte. Exemplarisch dazu ist die etwas in einer Endlosschleife gefangene Twitter Debatte zwischen Rudi Bachmann und Ruprecht Polenz.
Natürlich ist selbst bei einem so komplexen Produkt wie Impfstoff der “Kuchen nicht endlich”. Frühe Anreize und Garantien hätten zu mehr Impfstoff in Summe geführt. Allerdings nicht unendlich, wenn man bedenkt, dass die Kapazitätserweiterungen der letzten Wochen vor allem auf Kooperation zwischen Pharmafirmen (Bayer, Sanofi) und die Umwidmung bestehender Werke (Marburg) zurück zu führen ist.
Nachvollziehbar ist ebenfalls die Kritik, die EU hätte bei den Verhandlungen bessere Verträge abschließen können. Ich kann zwar das Argument der Produkthaftung in der Sache nachvollziehen, aber die unklaren Regelungen bzgl. Liefergarantien (“Best effort”) sind nicht professionell. Obwohl sich nun herausstellt, dass Grossbritannien aehnlichen Klauseln in seinem Vertrag mit AstraZeneca zugestimmt hat, was weitere Fragen zum Verhalten des Konzerns aufwirft.
Richtig dagegen sind weiterhin die gemeinsame Beschaffung der EU (alles andere wäre Sprengstoff fuer die EU gewesen) sowie die Streuung über verschiedene Anbieter (inkl. Sanofi, niemand konnte ahnen dass BionTech besser läuft als Sanofi)
Die Kritik von z.B. Rudi Bachmann bezieht sich vor allem darauf, dass man von jedem Anbieter 100% des Bedarfs fuer die EU hätte einkaufen sollen, anstatt gestreut 200%. Die Kosten des Impfstoffes sind absolut irrelevant im Vergleich zu den Kosten der Pandemie.
Was mich allerdings wirklich nervt, sind z.B. die ständigen Kurven von Jan Schnellenbach, in denen Deutschland und die EU weit abgeschlagen hinter Israel, den USA und UK rangieren. Diese beruhen auf der Annahme, dass das einzig entscheidende Kriterium zur Bewertung der Impfkampagnen, die Anzahl der verabreichten Impfdosen ist (Warum dieser KPI weder die Impfstrategie mit einbezieht, noch als Steuerungsgroesse sinnvoll ist, waere genug Material fuer einen weiteren Artikel).
Abgesehen davon, dass der Rückstand zum Teil mit dem späteren Start (Stichwort Notfallzulassung, siehe dazu Produkthaftung und Vertrauen in den Impfstoff ) zu erklären sind, übersehen all diese Grafen ein entscheidendes Detail: Nämlich wo der Impfstoff hergestellt wurde.
Dies ist vor allem deshalb relevant, da hier geopolitische Interessen und Kapazitäten relevant sind: Das Beispiel AstraZeneca hat gezeigt, dass z.B. unsere Freunde in UK kein Problem damit hatten, in der EU hergestellte Impfstoffe zu verimpfen, als die EU den Wirktstoff noch nicht zugelassen hatte. Ihrerseits aber Klauseln in den Verträgen hat, die den Export von UK produzierten Vakzinen in die EU verhindern.
Gleichfalls gilt in den USA ein Exportverbot fuer Vakzine. Dementsprechend kommen Modernas und J&J's Impfstoffe meines Wissens rein aus nicht US (also EU) Werken. Dementsprechend sind die Kapazitäten beschränkt. Novavax hat z.B. nur ein Werk in der EU (Spanien) und fällt damit weitgehend aus.
Dementsprechend sind die USA auch der weltweiten Initiative COVAX nicht beigetreten.
Da die USA vor der EU der weltgrößte Produzent von Pharmaprodukten sind, sind dies schlechte Nachrichten fuer den Rest der Menschheit. Und die Entscheidung des Unmenschen Trump wird auch von Biden nicht so schnell revidiert werden.
Damit sind neben den durchaus aus geostrategischen Interessen handelnden Russland und China (mit nicht nachdrücklich bewiesener Wirksamkeit deren Impfstoffe) und Indien also die EU der einzige Produzent fuer Impfstoff für den “Rest der Welt” (60% der Weltbevölkerung).
Damit sind also die Vorteile der Briten als auch der Amerikaner weitgehend erklärt: Notfallzulassung der Impfstoffe und hohe Bestellbereitschaft mit einer guten Prise von Impfnationalismus.
Aber kommen wir zu der wundervollen Erfolgsstory von Israel. Neben der Bereitschaft Patientendaten mit dem Hersteller zu teilen, ist die Story Israels eine von entschlossenem Handeln einer Nation, die sich den Luxus von Dekadenz nicht leisten kann.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Wirkstoff der in Israel verimpft wird, überwiegend in der EU hergestellt wird. Und Israel hat diesen mit rechtskräftigen Verträgen bestellt, ohne befürchten zu muessen, dass die EU den Export plötzlich beschränken würde.
Ich habe versucht herauszufinden, wie viele der auf der Welt verimpften Dosen in der EU hergestellt wurden, konnte es aber leider nicht finden. Ich wuerde mich über Infos dazu freuen.
Wenn dann hoffentlich Ende März der zweite in Deutschland erforschte Impfstoff mit Curevac die Zulassung bekommt, ist auch die Bestellmenge der EU ausreichend um in diesem Jahr alle Menschen zu impfen (später als möglich, aber immerhin doch).
Ich bin persönlich selbst sauer auf viele Elemente des Krisenmanagements in Deutschland und EU (Kommunikation, Masken, Schnelltests, etc.) und auch das schleppende Tempo der Impfungen ist mehr als ärgerlich.
Aber ich freue mich ebenfalls über jeden geimpften Mensch auf dieser Welt. Und die Erfolgsstory Israels sollte ein Ansporn sein, auch in der EU und Deutschland alles menschenmögliche zu tun, um mehr Menschen zu impfen. Allerdings nicht um den Preis, den Rest der Welt (oder sogar der EU) von hier hergestelltem Impfstoff abzuschneiden.
We are all in this together, but not equally it seems.
Als Schlusswort: Wenn im Frühjahr 2020 klar gewesen wäre, dass wir eine Handvoll wirksamer Impfstoffe an die Hand bekommen, die wir sogar relativ einfach gegen Mutanten verändern können, wäre dies als Impfwunder gesehen worden.
Ich sehe dies immer noch so.