Schadenfreude oder gar Häme verbietet sich angesichts des vermutlich vermeidbaren, von seiner Partei bislang diskret beschwiegenen Covid19-Todes des ungeimpften AfD-Abgeordneten Grimma. Ich bin auch erleichtert, wenn ich höre, dass Ungeimpfte, die sich die Seuche gefangen hatten, das überstanden haben und wünsche alles Gute. Ihnen ernsthaft Long Covid oder Schlimmeres an den Hals zu wünschen ("Dann sehen sie mal, wie  daneben sie liegen, harr harr.") bewegt sich moralisch ungefähr auf der gleichen Stufe wie wenn Rechte einem wünschen, die eigene Partnerin/Ehefrau möge doch bitte von fremdländischen Intensivtätern gruppenvergewaltigt werden, dann sähe man schon, wie falsch man läge mit seiner naiven Multikulti-Gutmenschenduselei. So tief sollte man nicht sinken.

Die Frage nach einer Impfpflicht juckt mich persönlich nicht weiter. Ich bin zwei mal weitgehend ohne Nebenwirkungen geimpft und gehe mir die Tage den Booster abholen. Selbst wenn mich das ein, zwei Tage ein wenig anknocken sollte (das Maximum an Nebenwirkungen, das mir bislang aus meinem inzwischen fast durchgängig geimpften Umfeld berichtet wurde) --  so what? Steht in keinem Verhältnis zu dem, was Gevatter Covid im Zweifel anrichten kann mit einem. So ziemlich alle Gründe, die aus einschlägigen Kreisen gegen eine Impfpflicht vorgebracht werden, sind faktenfreier Blödsinn. Die Impfstoffe sind ausreichend getestet, keineswegs tödlich, haben nur sehr geringe Nebenwirkungen und sind wirksam, wenn auch nicht perfekt. Ich kenne auch keinen Geimpften, der seitdem keine Maske getragen oder Abstandsregeln ignoriert hätte (anekdotische Evidenz ist ja immer sehr beliebt unter Querschwurblern).

Natürlich machte und macht die Politik  haarsträubende Fehler, auch und vor allem in der Kommunikation. Dass man Ende letzten Jahres aus der Euphorie heraus, dass Impfstoffe zur Verfügung standen, sich zu falschen, vorschnellen Versprechungen hinreißen ließ, mag unprofessionell gewesen sein, war aber menschlich noch verständlich. Dass man seitdem offenbar nur wenig dazugelernt hat, ist hingegen unverzeihlich.

Die andere Seite ist das dümmliche Genöle über gebrochene Versprechen. Es gehört fraglos zu den elementaren Erziehungszielen, die Kinder lernen sollten, dass versprochen versprochen ist und nicht gebrochen wird. Wie sonst soll ein Kind so etwas wie einen Wertekanon entwickeln? Als Erwachsener sollte man aber gelernt haben bzw. zum Erwachsenwerden gehört die mitunter schmerzliche Erkenntnis, dass Versprechen vielleicht auch voreilig sein oder dass immer wieder Umstände eintreten können, die auch den ambitioniertesten und heiligsten Versprechen einen Strich durch die Rechnung machen können. Politische Verhältnisse können sich mitunter sehr schnell und gründlich ändern. Volker Pispers meinte einst, der Grund, wieso man erst mit 18 wählen dürfe sei, dass man nicht wie ein Dreijähriger immer alles glaube, was einem erzählt werde.

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Selbstverständlich wäre eine Impfpflicht rechtlich vertretbar. Dass Impfpflichten nur in Diktaturen vorkämen, ist Unfug. Aktuell bestehen Impfpflichten, z.T. gegen Covid-19, sonst gegen Masern, Polio, Diphterie, Hepatitis, Keuchhusten, Mumps, Pneumokokken, Röteln, Poliomyelitis, Tetanus, Meningokokken, Windpocken, Milzbrand, Grippe/Influenza und/oder Feigwarzen, in folgenden Ländern: Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Malta, Polen, Russland, Saudi-Arabien, Slowakei, Slowenien, Ungarn, Vatikanstadt, Großbritannien, USA. Darüber hinaus gelten für bestimme Berufsgruppen Impfpflichten, z.B. muss Krankenhauspersonal gegen Hepatitis geimpft sein. Hierzulande (West) galt bis 1975 die verpflichtende Pockenimpfung (als vor 1975 Geborener habe ich übrigens noch die Narbe davon). In der DDR gab es gegen Polio eine Pflichtimpfung. (Fun fact: Kinderlähmung hat eine weit geringere Mortalität als Covid-19.)

Mir ist eh komplett schleierhaft, wie man angesichts des Eiertanzes um eine Impfpflicht, den nicht nur hiesige Regierungen seit letztem Jahr hinlegen, ernsthaft von Diktatur faseln kann. Und das, obwohl alle im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der AfD und Teilen der FDP,  also ca. 85 Prozent, die Corona-Maßnahmen mehr oder minder mittragen. Hey, idiots! Wenn wir in einer Diktatur lebten, dann hätten wir höchstwahrscheinlich längst einen Impfzwang. Die Tatsache, dass auch nach etwa einem Jahr immer noch gestritten wird, ob man eine Impfpflicht  denn nun einführen solle oder lieber doch nicht, sollte einem da vielleicht was sagen.

Staaten griffen und greifen immer wieder in Grundrechte ihrer Bürger ein. So hielt man hier die Gefahr einer Invasion von Truppen des Warschauer Paktes für so groß, dass man es nötig fand, millionenstarke Massenheere vorzuhalten. Also wurden  Generationen junger Männer einige Monate ihres Lebens zum Wehrdienst gezwungen. Erst 2010, zwanzig Jahre nach Ende des Kalten Krieges, wurde das beendet (genauer: ausgesetzt). Welche Chancen hätten Sammelklagen auf Entschädigung, weil der Staat Millionen Jünglinge zwangsweise kaserniert, herumkommandiert und in lustige Kostüme gesteckt hat? Eben.

Eine schwangere Frau, die diesen Zustand beenden will, kann dies innerhalb der ersten drei Monate ihrer Schwangerschaft straffrei tun (§ 218 StGB  gilt trotzdem weiter), sofern sie an einer verpflichtenden Beratung teilnimmt. Momentan wird wieder einmal verhandelt, ob das noch statthaft ist.

Und die Zumutungen nehmen kein Ende:

"Ich habe nicht die Freiheit mein Kind zu versklaven, nicht die Freiheit meine Frau zu vergewaltigen, nicht die Freiheit den DHL-Boten zu verprügeln und auch nicht die Freiheit meinen lärmenden Nachbarn zu töten. Ich habe nicht die Freiheit, mich im Supermarkt ohne zu zahlen zu bedienen, nicht die Freiheit nachts mit 120 Dezibel Rockmusik zu hören, nicht die Freiheit mein Auto-Altöl in den Gulli zu gießen, nicht die Freiheit in der S-Bahn zu onanieren, nicht die Freiheit, bei der Bundestagswahl fünf Stimmen abzugeben und nicht die Freiheit, einen Schwan auf der Hamburger Alster zu fangen und zu braten." (Tammox)


Was die Frage nach einer Impfpflicht angeht, gilt es abzuwägen, was schwerer wiegt: Die persönliche Freiheit, sich ein Medikament verabreichen zu lassen oder auch nicht, oder momentan 4-500 Tote pro Tag im Zusammenhang mit Covid-19 in Kauf zu nehmen. Augenscheinlich ist man immer noch zu keiner Antwort gekommen. Und wenn, dann wird sie vermutlich jenseits von berufsgruppenspezifischen Regelungen, darauf hinauslaufen, dass es keine Impfpflicht geben wird. Und das ergäbe durchaus Sinn.

Weil exakt folgende Fragen in diesem Zusammenhang wirklich relevant sind und alles andere bloß Befindlichkeitsgeschwalle ist: Welchen Nutzen bringt eine Impfpflicht im Hinblick auf die Steigerung der Impfquote in der Bevölkerung und in welchem Verhältnis zueinander stehen der Aufwand, sie durchzusetzen einerseits und ein möglicher Nutzen andererseits?

Stand 19. Dezember sind etwas über 70 Prozent der deutschen Bevölkerung zwei Mal geimpft. Bei den Ungeimpften gilt es  zu berücksichtigen, dass noch viele Kinder darunter sind, die erst seit kurzem geimpft werden können. 2019 waren knapp 17 Prozent der Gesamtbevölkerung Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren. Diese Gruppe wird in nächster Zeit weiter schrumpfen. Bleiben also um die 13-15 Prozent Ungeimpfte im  Erwachsenenalter. Hier ist zu fragen, wie diese Gruppe sich zusammensetzt.

Da wäre einmal der durch Städte latschende oder  sich einer Impfung aus Prinzip verweigernde Narrensaum aus "Leuten, die  Borniertheit mit Skepsis verwechseln." (Robert Treichler) Diese Leute sind für Argumente kaum mehr empfänglich und werden, auch wenn sie nicht offen protestieren, weiterhin versuchen, sich irgendwie zu entziehen, etwa mit gefälschten Impfzertifikaten. Auch Bußgelder würden wahrscheinlich bezahlt werden, so weit möglich und gäben nur ihrer Opfererzählung weiteres Futter. Eine strafrechtliche Verfolgung wäre überaus aufwändig bei eher überschaubarem Erfolg. Man wird also mit ihnen leben müssen. Bleibt die  Frage, wie groß diese Gruppe eigentlich ist.

Das ist schwer zu sagen (ein schwaches Bild für eine Diktatur auch das übrigens). Die Mehrheit der AfD-Anhänger ist, wie gesagt, gegen die Impfung (die Inzidenzen in diversen Bundesländern korrelieren interessanterweise ungefähr mit den AfD-Wahlergebnissenl, aber das muss nichts heißen). Dazu kleine Teile der FDP und große Teile der rechten Szene. Dann wäre da die so genannte  'Querdenker'-Szene. Die ihr nahe stehende Partei 'Die Basis' konnte bei  der Bundestagswahl ungefähr ein Prozent der Wählerstimmen holen. Addiert man das alles, müsste es sich etwa bei der Hälfte aller ungeimpften Erwachsenen um prinzipielle bzw. ideologische Impfverweigerer handeln. Also einstelliger Prozentbereich. Mögen sie glücklich werden in ihrer Blase.

Das  Gebarme von einer 'Spaltung der Gesellschaft' kann man also getrost ignorieren. Die Gesellschaft ist ohnehin multipel gespalten in immer mehr Milieus, die sich immer weniger zu sagen haben. Arm und reich, alt und jung, dumm und klug, rechts und links, wir und die und was weiß ich. Neuerdings eben auch in resilient und wehleidig bis hysterisch. Kommt es jetzt auch nicht mehr drauf an. Ebenfalls ignorieren kann man das maßlose Gepluster der Querdenker, sie seien eine stetig wachsende Massenbewegung, bloß weil ein paar Promis intellektuell falsch abgebogen  sind.

"Er dampfte wie ein Stier." (Lisa Fitz)

Der Rest der Ungeimpften besteht aus Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen (noch) nicht haben impfen lassen: Aus Bequemlichkeit oder weil ihnen immer was dazwischenkommt (bei Eltern und Alleinerziehenden jederzeit möglich) und solchen, die irgendwie Angst vor der Impfung haben. Um diese Gruppen, und nur um diese, geht es. Denn da besteht Aussicht auf Erfolg. Eine Impfpflicht aber wäre hier kontraproduktiv.

Die Ängstlichen würden dadurch nur weiter abgeschreckt. Wenn die aber sehen, dass mehr und mehr um sie herum sich impfen lassen, ohne dass ihnen etwas passiert, könnten etliche ihre Ängste ablegen. Das regelt sich, ohne dass man missionarisch werden müsste. Die Bequemen und die, denen immer was dazwischenkommt, erreicht man, indem man ihnen das Impfen so leicht macht wie irgend möglich. Mobile Impfteams, in anderen Ländern längst üblich, wären hier eine Möglichkeit. Umgekehrt dürften 2G-Regelungen mit zunehmender Dauer immer mehr Unentschlossene dazu bewegen, sich doch noch impfen zu lassen.

Davon, Wohlverhalten mit Prämien erkaufen zu wollen, halte ich jenseits von Gags wie einer Gratis-Bratwurst übrigens gar nichts. Erstens baut Geld keine Ängste ab und zweitens halte ich auch nicht die Kralle auf, weil ich meine Steuererklärung fristgerecht abgegeben habe oder mich in der Tempo 30-Zone an die Geschwindigkeitsbegrenzung halte. Zumal Impfprämien nur ein weiterer Ausdruck jenes armseligen Zeitgeistes wären, der glaubt, dass im Zweifel alles mit Geld zu regeln ist, und Erfahrungen aus Bundesländern mit sehr hoher Impfquote, wie etwa Bremen, zeigen, dass das auch nicht nötig ist.

Der langen Rede kurzer Sinn:

Sämtliche Maßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie wie Kontaktbeschränkungen, Masken- und Abstandspflicht etc. sind extrem lästig und nervig, aber notwendige Übel.

Wiewohl ich Impfungen für sinnvoll und eine möglichst hohe Impfquote für erstrebenswert halte, bin ich gegen eine Impfpflicht, weil sinnlos.

Möge schlichteren Gemütern darüber der Kopf explodieren.

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