Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) The Civil-Military Crisis Is Here
Tom Nichols warnt vor einer eskalierenden Krise der zivil-militärischen Beziehungen in den USA. Er beschreibt, dass Donald Trump und seine Gefolgsleute systematisch daran arbeiteten, Geheimdienste, Justiz und Militär unter persönliche Kontrolle zu bringen. Während erstere bereits „gleichgeschaltet“ seien, bilde die Armee die letzte Bastion institutioneller Loyalität gegenüber der Verfassung – doch auch sie gerate zunehmend unter Druck. Trump habe in Reden und Einsätzen die politische Neutralität des Militärs missachtet, Truppen in amerikanische Städte entsandt und Kommandeure entlassen, die ihm widersprachen. Nichols sieht darin den Versuch, die Streitkräfte in ein parteipolitisches Machtinstrument zu verwandeln. Besonders gefährlich sei, dass das Oberste Gericht Trump faktische Immunität zugesprochen habe, was ihm ermögliche, illegale Befehle ohne Konsequenzen zu erteilen. Die USA stünden damit an der Schwelle zu einer verfassungsgefährdenden Militarisierung. Nichols fordert die obersten Militärs auf, Trump offen zu signalisieren, dass sie keine verfassungswidrigen Befehle ausführen werden, und appelliert an die Öffentlichkeit, jene zu unterstützen, die sich in Treue zur Verfassung widersetzen. (Tom Nichols, The Atlantic)
Die Alarmglocken, die das eigentlich pro-republikanische militärische Establishment bezüglich dem Zerfall der zivil-militärischen Beziehungen in den USA derzeit schlägt, lassen aufhorchen. Die MAGAs übernehmen sehr gezielt den staatlichen Machtapparat. Bei der Judikative sind sie bereits weit vorangeschritten; die gleichzeitige Zerstörung und Übernahme der Behörden schreitet voran; mit ICE wird eine paramilitärische Parallelsicherheitstruppe aufgebaut, die gestapoähnlich agiert; das FBI wird unter Kontrolle zu bringen versucht; und jetzt versucht man sich auch noch, das Militär zu sichern. Der Umbau der USA von einem liberalen zu einem autoritären Staatswesen schreitet mit großer Geschwindigkeit voran, und es bleibt abzuwarten, wie widerstandsfähig die Institutionen sein werden. Das Ganze dreht sich auch längst nicht mehr um die Person Trumps: In dessen erster Amtszeit blieben die Entwicklungen auch deswegen noch überschaubar, weil selbst Personen in seinem engsten Machtumfeld nicht bereit waren, seine Vision mitzutragen und mitzugestalten; inzwischen ist die ganze Partei de facto auf seine Linie eingeschworen und hat der Demokratie entsagt.
2) An American Hunger Crisis Is Coming
Anne Kim warnt, dass die USA vor einer massiven Hungerkrise stehen, weil die Regierung Trump zentrale Programme zur Lebensmittelsicherheit abbaut und Daten darüber unterdrückt. Das Landwirtschaftsministerium habe den jährlichen Bericht zur Ernährungssicherheit gestrichen und ihn als „liberale Panikmache“ bezeichnet – ein Schritt, den Kim als Versuch sieht, die sozialen Folgen der eigenen Politik zu verschleiern. Schon jetzt seien laut den letzten verfügbaren Zahlen 13,5 Prozent der Haushalte „food insecure“. Besonders die jüngst verabschiedete „One Big Beautiful Bill Act“ verschärfe die Lage, da sie Millionen Menschen aus dem SNAP-Programm (Lebensmittelhilfe) ausschließe, darunter Veteranen, Obdachlose und Migrant*innen mit Daueraufenthaltsstatus. Zugleich müssten Bundesstaaten künftig bei vermeintlichen „Fehlerquoten“ hohe Kosten selbst tragen, was weitere Kürzungen provoziere. Hinzu kämen Inflation, Zölle auf Lebensmittelimporte und Massenentlassungen, die das Einkommen vieler Haushalte schmälerten. Selbst Bundesstaaten im Süden, die mehrheitlich für Trump gestimmt hätten, seien besonders betroffen. Kim beschreibt die Lage als moralisches Versagen der Regierung, die gleichzeitig Mittel für Lebensmittelbanken und lokale Agrarhilfen gekürzt habe – ein Symbol politischer Gleichgültigkeit gegenüber Millionen hungernder Menschen. (Anne Kim, Washington Monthly)
Die in Fundstück 1 angesprochene Zerstörung der Institutionen sorgt auch dafür, dass der Staat immer mehr in den Blindflugmodus gerät. Die Vernichtung der Zahlenerfassung ist natürlich zuerst einmal ein Machtinstrument: wo keine objektive Wahrheit mehr festgestellt werden kann, scheint Realität beliebig geschaffen werden zu können. Die Sowjets hatten damit ja auch Erfahrungen gemacht. Aber es sorgt eben auch dafür, dass die Effektivität und der Handlungsspielraum des Staates immer weiter sinken, weil ja die elementaren Wissensbausteine fehlen. Die USA rutschen in eine Dysfunktionalität, die sehr gefährlich für das ganze Staatswesen ist - auch damit haben die Sowjets ihre Erfahrungen gemacht. Dass in einem so hoch entwickelten Industrieland ernsthaft Menschen Hunger leiden ist ein erschreckender Indikator, wie weit dieser Verfall bereits fortgeschritten ist.
3) Please let the robots have this one
In dem Artikel wird argumentiert, dass selbstfahrende Autos ein enormes Sicherheits- und Fortschrittspotenzial besitzen und deshalb nicht verboten, sondern gefördert werden sollten. Jährlich sterben in den USA fast 40.000 Menschen bei Verkehrsunfällen – eine Zahl, die sich laut Autorin um 80 Prozent verringern ließe, wenn autonome Fahrzeuge wie die von Waymo flächendeckend eingesetzt würden. Studien zeigten, dass Waymos rund „80 Prozent seltener“ in schwere Unfälle verwickelt seien als menschliche Fahrer – und fast nie selbst schuld. Trotz dieser Daten lehnten laut einer Umfrage 41 Prozent der Befragten den Einsatz solcher Autos ab, meist aus Angst oder Misstrauen gegenüber Künstlicher Intelligenz. Diese Skepsis wird als irrational bezeichnet: Man solle nicht „eine Krebsheilung hassen, nur weil sie von einer KI erfunden wurde“. Selbstfahrende Autos könnten Eltern entlasten, älteren Menschen Mobilität sichern und das Stadtbild verbessern, etwa durch weniger Parkflächenbedarf. Die Autorin plädiert dafür, Menschen weiterhin selbst fahren zu lassen, aber autonome Fahrzeuge zuzulassen. Sie betont, dass technischer Fortschritt wie einst Waschmaschine oder Geschirrspüler zunächst Arbeitsplätze verdränge, langfristig jedoch Freiheit und Sicherheit erweitere. (Kelsey Piper / The Argument, 1. Oktober 2025)
Angesichts dessen, wie viele Menschen immer noch jedes Jahr im Straßenverkehr sterben, kann ich Pipers Argumentation nur voll zustimmen. Leider kommt die Technologie nicht wirklich voran. Es mögen in San Francisco ja diverse Robotaxis herumfahren, aber noch skaliert da gar nichts und die Technologie scheint auch auf einige Hindernisse gestoßen zu sein, die sich aktuell nicht ausräumen lassen. Das ist sehr bedauerlich, denn genauso wie die Elektrifizierung könnte die Automatisierung des Individualverkehrs einige unserer Probleme wesentlich kleiner machen; die Verkehrstoten sind da ja nur ein Element.
4) Die brisante Frage, wer zum deutschen Volk gehört
Alan Posener argumentiert, dass „Volk“ in modernen Demokratien kein ethnisches Schicksal, sondern eine politische Willenserklärung ist. Seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts – „We, the people…“, „Wir sind das Volk!“ – definiere sich Zugehörigkeit über Verfassung und gemeinsamen Anspruch, nicht über Abstammung. Vor diesem Hintergrund kritisiert er Martin Wageners Gegensatz von „deutscher Kulturnation“ versus „multikultureller Willensnation“ als irreführend und ahistorisch: Bismarck gründete 1871 kein Kulturvolk, sondern einen staatlichen Zusammenschluss; auch Österreich zeigt, wie Zugehörigkeit politisch gewollt sein muss. Die Sorge, eine „Mehrheit“ werde zur „Minderheit“, kenne man aus allen Einwanderungsländern – in den USA galten einst Iren und Italiener als Bedrohung, bevor sie Teil der Nation wurden. Das Grundgesetz gebe vor allem vor, was Deutschland nicht mehr sein wolle (rassistisch, kollektivistisch, autoritär) und verbiete es, Staatsbürger wegen Herkunft aus der Nation auszuklammern. Poseners Problem mit Wageners Thesen ist weniger „Verfassungsfeindlichkeit“ der Meinung als deren Defätismus: Eine demokratische Nation lebt vom aktiven Ringen um Selbstverständnis, gemeinsame Erzählung und Stolz, nicht von der Hoffnung, die „neue Mehrheit“ halte schon die Regeln ein. Statt Remigrationsfantasien oder kitschigem Multikulti brauche es eine verbindliche, offene Leitkultur: Respekt nach innen und außen, Bewusstsein für Schuld und Leistung – und den Willen, „trotz allem ein Volk von Geschwistern“ zu sein. (Alan Posener, Welt)
Ich finde es ungeheuer frustrierend, dass wir diese Frage immer noch diskutieren. Die Zugehörigkeit zum deutschen Volk ist eine doppelte Willenserklärung: einmal der Person, die in seinen Verband aufgenommen werden will, und einmal des Verbands, der diese Person in seiner Mitte willkommen heißen will. Beide Seiten gehen damit auch Verpflichtungen ein: der Staat, dem man dann als Bürger*in zugehört, garantiert die Grundrechte eben dieser Bürger*innen, und diese wiederum halten sich an die Ordnungsvorgaben, die der Staat macht. Etwas wuschiger ist die Akzeptanz bestimmter normativer Vorstellungen; wo diese nicht in Gesetzen kodifiziert sind, ist es sehr schwierig, diese vorzuschreiben. Die "Leitkultur" etwa wird allzu oft als kulturkämpferischer und exkludierender Rammbock missbraucht, während Posener umgekehrt natürlich Recht damit hat, dass ohne irgendwelche Vorgaben einfach eine Multi-Kulti-Romatik zu propagieren auch nicht eben zielführend ist.
5) What 20 Years of Listening to Vaccine-Hesitant Parents Has Taught Me
Jennifer Reich zeichnet das Bild einer Impfskepsis, die selten aus fundamentalem Ablehnen entsteht, sondern aus personalisierter Fürsorge: Viele Eltern picken Impfungen „cafeteria-style“, verschieben sie oder erstellen eigene Pläne – nicht, weil sie Anti-Impf wären, sondern weil sie der eigenen Risikoabwägung mehr trauen als abstrakten Empfehlungen. Diese Logik, so Reich, passt zu einem Zeitgeist, der Gesundheit als Ergebnis individueller Disziplin und Konsumentscheidungen rahmt und Krankheit moralisiert. Verstärkt wird das durch politische Signale, die „Personalisierung“ legitimieren, sowie durch verwirrende Behördenkommunikation – vom Tylenol-Alarm bis zu widersprüchlichen Impfhinweisen. Dabei blendet die private Optimierung das Kollektiv aus: Impfprogramme sind wie Ampeln und Lebensmittelkontrollen – öffentliche Infrastruktur, die individuelle Freiheit erst ermöglicht. Das Beispiel Hepatitis B zeigt, warum universelle Strategien wirken, wenn risikobasierte verfehlen. Reich plädiert nicht für Zwang, sondern für klare, verlässliche Führung jenseits parteipolitischer Schallwellen: Ärzt:innen, Fachgesellschaften, Kliniken sollen verständlich machen, dass gesunder Lebensstil wichtig ist, Infektionsschutz aber Gemeingut bleibt – und dass Standardpläne Kinder genau dann schützen, wenn sie am verletzlichsten sind. Gute Elternschaft heißt dann nicht: allein entscheiden, sondern: Verantwortung teilen, damit alle Kinder sicher aufwachsen. (Jennifer Reich, New York Times)
Dieser Bericht ist sehr erhellend, nicht nur, weil er gute Einblicke in das Milieu gibt, sondern auch, weil er die Kategorie der "hesitancy" (im Gegensatz zur offenen Gegnerschaft, die hierzulande verharmlosend "Impfskepsis" genannt wird) aufmacht, die mir für das Phänomen wesentlich zutreffender erscheint. Ich stimme Reich in ihrer Analyse auch völlig zu; kein Wunder, schließlich blase sich seit einer Weile in dasselbe Horn. Manchmal ist weniger schlicht mehr: anstatt sich in endlosen Debatten, Ausnahmeregeln und möglichst stark eingegrenzten (und deswegen auch überkomplexen) Regulierungen zu ergehen, sollte man manchmal einfach eine Grundregel festlegen und fertig. Denn die "à la carte"-Mentalität der Regelbefolgung ist auch (!) eine Folge eines zu ausdifferenzierten Regulariums, das gerade wegen seiner Ausdifferenzierung auch zu Überkomplexität neigt: wenn wir weniger Ausnahmen und mehr Gültigkeitspflichten voraussetzen, müssen wir insgesamt weniger Regeln aufstellen. Das bedeutet dann auch weniger individuelle Klagen und Protestfälle, die wiederum zu weniger daraus resultierender vertiefter Differenzierung führen. Die Versuchung, durch starke Ausdifferenzierung dem Individuum Genüge zu tun, führt paradoxerweise zu einer größeren, aber für sich weniger verbindlich anfühlenden Regeldichte, die für alle Beteiligten von Nachteil ist.
Resterampe
a) Großartiger Artikel zur Entwicklung der KI in den letzten Jahren. (One Useful Thing)
b) Forscher fordern: Schüler müssen Lernen lernen – Faktenwissen reicht nicht mehr (News4Teachers). Auch so ein Artikel, mit dem man für die letzten 40 Jahre das beliebte Spiel "wann wurde er veröffentlicht" spielen könnte.
c) Under siege: Argentina’s president drops his chainsaw (The Week)
d) Why is this government shutdown so consequential? (The Atlantic)
e) Prognose, dass die Tories untergehen werden. (The Independent)
f) Passend dazu die Geschichte der britischen extremen Rechten. (The Conversation)
g) Sehr interessante und tiefgehende Konversation zu Faschismus und Amerika. (Dissent Magazine)
h) Was für eine intellektuelle Bankrotterklärung. (Twitter)
i) Studie über den Klatschanteil der Fraktionen. (FAZ)
j) Richtige Beobachtung zu den britischen Dynamiken. (Twitter) Siehe auch e) und f).
k) Rückblick auf Macron und Merkel. (Der siebte Tag)
l) Die EVP schadet der Wirtschaft. (Spiegel)
m) Collections: Life, Work, Death and the Peasant, Part IVe: The No-Rest Of It. (ACOUP)
n) Cannabis: Der unsinnige Kampf gegen Gras auf Rezept (Spiegel). Auch so was, das dringend kritisches Nachsteuern brauchen würde und stattdessen einen Kulturkampf kriegt.
o) “Dann, liebe Mutter, werde hart”: Wie NS-Pädagogik Deutschland jahrzehntelang prägte (News4Teachers).
p) Weltkarten: Grönland so groß wie Afrika? Schluss mit den falschen Karten! (Spiegel) Da hat jemand West Wing geschaut :D
Fertiggestellt am 13.10.2025
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: