Im Rahmen eines Schüler*innenaustauschs habe ich im April 2024 meine erste Reise außerhalb Europas hingelegt (natürlich eine Dienstreise :D): es ging nach China, genauer nach Beijing. Für eine Woche sind eine Kollegin und ich mit 24 Schüler*innen dorthin und konnten das Land unmittelbar erleben. Ich will im Folgenden meine Eindrücke aus einer politisch-gesellschaftlichen Analyseperspektive teilen. Ich teile das Ganze in verschiedene Bereiche auf. All das ist auf Basis einer sehr dünnen Kenntnisbasis, einem siebentätigen Besuch in Beijing und damit notwendig super, super subjektiv. Caveat Emptor.

Politik und Gesellschaft

Natürlich haben wir uns auch ein wenig über Politik unterhalten, wenngleich auf niedriger Ebene. Es versteht sich praktisch von selbst, dass die großen Linien - Außenpolitik, Staatsaufbau, nationale Politik - eher Tabus sind. Dinge wie Taiwan oder den Charakter des chinesischen Staates haben wir überhaupt nicht angesprochen, und die Gastgebenden wurden auch angewiesen, nicht mit uns über Politik und Religion zu sprechen (letztere ist in China ziemlich unterdrückt). Eine Ausnahme bildetete der Ukrainekrieg; nach unserer Meinung dazu wurden wir aus irgendwelchen Gründen ständig gefragt. China imaginiert sich hier deutlich in eine Rolle als über den Dingen schwebender Vermittler.

Obzwar es sich um ein System der diktatorischen Einparteien-Herrschaft handelt, ist China dennoch vergleichsweise responsiv, was die Politik anbelangt. Zumindest auf den niederen Ebenen gibt es Bürger*innenbeteiligung in konsultativer Variante; der Staat gibt viel darauf, was die Leute denken und bemüht sich um hohe Zustimmungsraten für die eigene Politik (und anders als die realsozialistischen Staaten um reale Zustimmung, nicht nur ihre Performanz). Der Weg in Parteiämter ist auf diesen Ebenen vergleichsweise offen und keine Einbahnstraße; oft genug gehen Fachleute in die Verwaltung und umgekehrt. Darin ist das System unserem eigenen bemerkenswert ähnlich, und ich sehe in diesem Aufbau auch einen wichtigen Grund für den Funktionsgrad des Staates (siehe Fazit).

Stattdessen ging es viel um Dinge wie Stadtentwicklung und Gesellschaft. Angesichts des rasanten Wachstums der chinesischen Städte - der Stadtplan Shanghais wird alle halbe Jahr offiziell neu herausgegeben, und ohne die permanent aktualisierten Navigationssysteme würden sich dort selbst die Taxifahrer nicht zurechtfinden - sind hier ganz andere Policies notwendig als im Westen, bei dem die Urbanisierung weitgehend abgeschlossen ist ("there is a policy for everything", erklärte meine Begleiterin mit einem halb lächelnden, halb resignierten Achselzucken). Ich erntete großes Unverständnis für unsere westlichen (besonders deutschen) Vorstellungen von staatlicher Zurückhaltung. Die Vorstellung, dass das Interesse der Allgemeinheit - ob nebulös die Nation oder präziser die Stadt - hinter den Rechten des Einzelnen zurückzustehen habe, ist dort völlig fremd. Wenn die Partei beschließt, dass irgendwo eine Viertel abgerissen und etwas neu gebaut wird, dann geschieht das, völlig egal, wer dort lebt. So konnten wir eine Baustelle für einen Golfplatz (!) mitten in Beijing sehen, dem kürzlich ein Wohnviertel weichen musste. Zu sagen, dass die Städteplanung eine sehr aktive ist, wäre eine Untertreibung.

Das hat wie auch die allgegenwärtige Sicherheit unzweifelhafte Vorteile (die Nachteile sollten völlig offensichtlich sein), weil einerseits mit wesentlich mehr und viel langfristigerer Perspektive geplant werden kann (auch für den Klimaschutz, wo die Vorschriften einfach erlassen werden und fertig) und andererseits die Zeiten wesentlich kürzer sind; endlose Genehmigungsverfahren und irgendwelche Klagen gibt es schlicht nicht, weil die Einzelnen keinerlei liberale Eigentumsrechte genießen. Wie so oft in China ist das allerdings keinesfalls etwas, das von den Betroffenen nur negativ gesehen wird: tatsächlich gibt es eine Schicht der "noveau riche", die den Aufstieg in die Mittelschicht einfach dadurch geschafft hat, dass ihre alten Bruchbuden durch den Gang der Stadtentwicklung abgerissen wurden und deren Entschädigung in wesentlich attraktiveren Lagen und höheren Werten bestand. Das ist keinesfalls die Regel: genügend Leute werden an die Peripherie abgedrängt, was angesichts der schieren Größe der Städte eine völlig andere Bedeutung hat als hierzulande in einen Vorort zu ziehen. Aber es gibt genügend Profiteure und die Entschädigungen sind großzügig genug, dass die Zustimmungsraten insgesamt - soweit ich das überhaupt beurteilen kann - überraschend hoch sind.

Das Land steht aktuell auch in gesellschaftlichen Umbrüchen, die uns hierzulande sehr bekannt vorkommen dürften. So ändern sich seit etwa einem Jahrzehnt die Geschlechterrollen massiv: genauso wie im Westen werden Frauen gleichgestellter und drängen immer mehr in die Berufswelt, was mit der Auflösung traditioneller Familienstrukturen und Biografien einhergeht: Heiraten und Geburten schieben sich nach hinten, Frauen haben mehr Einfluss, die Kindeserziehung fällt auf die Bildungsinstitutionen, Männer werden mehr in den Haushalt eingebunden, Frauen sind aktiver bei der Partnerwahl. Genauso wie bei uns sorgt dies für massive Verwerfungen und Backlash und ist ein fortlaufender Prozess, der die chinesische Gesellschaft schwer erschüttert.

Ebenfalls wie bei uns hat China ein Problem mit der Demografie: zwar ist die Ein-Kind-Politik seit 2015 abgeschafft, aber das Land ist überaltert und sieht sich einem Fachkräftemangel entgegen. Anders als wir schließt es Immigration als Lösungsweg vollkommen aus; die Xi-Jingpin-Regierung versucht stattdessen mit ungefähr denselben Ansätzen wie wir, die Geburtenraten zu erhöhen: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird gefördert, Sozialprogramme besonders für Akademikerinnen aufgelegt und Propaganda betrieben. Die Erfolge sind genauso überschaubar wie bei uns: Freiheit für Frauen geht unweigerlich mit einer sinkenden Geburtenrate einher, und China ist genauso unfähig, die inhärente Spannung zwischen diesen beiden Zielen - Gleichberechtigung und Geburtenrate >2 - aufzulösen wie wir es sind.

Das chinesische Gesundheitssystem schließlich funktioniert auf einem grundlegenderen Niveau als bei uns - Zahnmedizin etwa ist immer noch ein Luxusgut, was man deutlich sehen kann -, aber das staatliche System funktioniert sehr gut und ist preiswert. Wir kamen damit über den allergischen Schock eine*r Schüler*in in Berührung, die zwei Nächte im Krankenhaus verbringen musste. Die Rechnung mussten wir selbst übernehmen; sie betrug am Ende 1040 Yuan - rund 140€. Die Versorgung war gut und schnell. Die Wartezeiten, die wir hierzulande haben, schockierten meine chinesische Gesprächspartnerin; in China kann man einfach zum Arzt oder ins Krankenhaus und wird in der Regel extrem zeitnah versorgt. Wochen- oder gar monatelange Warteperioden für Termine sind dort unbekannt (was aber auch sicher daran liegt, dass Fachärzt*innen wie bei uns eine sehr viel geringere Dichte haben; das wäre zumindest meine Vermutung).

Bildungssystem

Naturgemäß ist das chinesische Schulsystem für mich als Lehrer von besonderem Interesse, und im Rahmen eines Schüleraustauschs hatten wir auch viel Gelegenheit, es zu begutachten. Grundsätzlich haben die Chinesen ein Gesamtschulsystem: an die Grundschule (4 Jahre) schließt sich die "Middle School" an (Klasse 5-8), an die eventuell die Highschool (Klasse 9-12) folgt. Wer gut genug ist, kann dann studieren gehen. Der Übertritt an die (grundsätzlich kostenpflichtige) Highschool erfolgt über Zugangstests: je besser jemand abschneidet, desto bessere Schulen können besucht werden (ob dort das Schulgeld höher ist, weiß ich nicht). Gleiches gilt für die Universität: auch hier kommt es sehr stark auf die schulischen Leistungen an.

Entsprechend herrscht ein gewaltiger Leistungsdruck. Neben den ohnehin langen Schulzeiten (Ganztagsschule) haben viele Schüler*innen in der Früh und am Abend noch Zusatzkurse, in denen der Unterrichtsstoff vorgearbeitet wird: anders als bei uns ist nicht Nachhilfe, sondern Vorhilfe verbreitet, so dass die Schüler*innen den Stoff bereits beherrschen, wenn er im Unterricht besprochen wird - jedenfalls, wenn sie die Zusatzstunden nehmen konnten. Die dem inhärente soziale Spaltung ist offenkundig und ein Problem, das der Staat bisher nicht zu lösen in der Lage ist (aber als solches anerkennt).

Pädagogisch waren die Unterschiede wesentlich geringer, als ich erwartet hatte. Meine Klischeevorstellung war die eines sehr autoritären Systems, und während zwar einigeäußerliche Merkmale existieren (Aufmärsche auf dem Sportplatz etwa sind offensichtlich eingedrillt, wer aufgerufen wird steht auf) werden diese gleichzeitig von den Schüler*innen kritisiert und sind unbeliebt und nur halbherzig befolgt; im Unterricht dösen die chinesischen Schüler*innen genauso weg wie unsere, unterhalten sich nebenbei und passen nicht auf. Auch die Lehrkräfte sind wesentlich offener und egalitärer im Umgang mit den Schüler*innen als ich erwartet hatte, wenngleich gewisse hierarchische Unterscheidungen trotzdem noch deutlicher ausgeprägt sind als bei uns.

Didaktisch sind die Unterschiede dagegen deutlich. Das chinesische System baut wesentlich mehr als das Deutsche auf Repition, Abschreiben, auswendig Lernen und Nachahmen als unseres. Meine Einblicke sind nicht tief genug, um das Kompetenzniveau vernünftig vergleichen zu können, was kritisches und analytisches Denken angeht (was angesichts der bereits diskutierten Propaganda ohnehin schwierig ist), aber mein grundsätzlicher Eindruck ist, dass manche Kompetenzen wesentlich verbreiteter sind (die Chines*innen waren etwa völlig überrascht, dass unsere Schüler*innen keine Noten lesen können; das wird dort bereits in der Grundschule erlernt), vor allem solche, die eingedrillt werden, während andere deutlich unterentwickelter sind.

Am deutlichsten war das für uns im Fremdsprachenunterricht sichtbar. Der deutsche Fremdsprachenunterricht ist ohnehin ein Kronjuwel unseres Bildungssystems und im internationalen Vergleich spitze (ganz im Gegensatz zum MINT-Bereich...), aber das Niveau der Englischkenntnisse, obwohl das Fach dort bereits ab der Grundschule gelehrt wird, war bodenlos. Selbst die Lehrkräfte konnten kein besonders gutes Englisch, und die Schüler*innen waren überwiegend nicht in der Lage, auch nur primitive Sätze zu bilden, die bei uns jede*r Fünfklässler*in hinbekommt. Dafür sind Mathe und MINT wohl anspruchsvoller als in Deutschland; das war jedenfalls der Eindruck der Schüler*innen (ich kann das mangels Fachkompetenz überhaupt nicht beurteilen).

Ein kultureller Unterschied zu Deutschland ist die Betonung von Wettbewerb. Die Chines*innen machen alles in Wettbewerben und veranstalten auch ständig welche. Ob Unterricht, Sport oder Freizeit, permanent wird gegeneinander angetreten. Die besten Schüler*innen sind mit riesigen Porträts auf den Wänden des Schulhofs verewigt, ebenso die besten Lehrkräfte (fein säuberlich gegliedert nach Auszeichnungen auf Distrikt-, Stadt- und Provinzebene). Wir nahmen in fünf Tagen an nicht weniger als drei Wettbewerben teil; einem Fußballspiel, einem Basketballspiel und einem Gesangswettbewerb; dazu kam das gemeinsame Dumpling-Kochen bei der Abschiedszeremonie, das ebenfalls als Wettbewerb gestaltet war (die Verlierer mussten rappen). Als wir erklärten, dass es solche Wettbewerbe an unseren Schulen nicht gibt, weil das unseren egalitären Wertvorstellungen widerspricht, wurden wir fassungslos gefragt, was unsere Schüler*innen denn "zum Spaß" tun würden. Dass diese nachmittags Freizeit haben, war den Chines*innen völlig unbegreiflich; diese sind bis mindestens 17 Uhr in der Schule, viele sogar bis 21 Uhr (!). Und danach stehen Hausaufgaben und Lernen an. Kein Wunder waren sie völlig übermüdet; nach ihren Freizeitbeschäftigungen am Wochenende gefragt, gaben viele an zu schlafen.

Im Bildungsbereich kam ich auch mit der kommunistischen Partei in Berührung. Neben den Fotos der Schulleitung und der besten Lehrkräfte (was genau sie zu den besten macht, konnte ich noch nicht herausfinden) sind auch Fotos der Parteifunktionär*innen an den Wänden zu sehen. Mit der für die Schule zuständigen Parteifunktionärin hatten wir auch direkt zu tun: sie kam auf einen Besuch vorbei, der von allen Lehrkräften als riesiges Event gehandelt wurde. Die Funktionärin war eine ehemalige Lehrkraft, einmal mehr analog zu unserem eigenen System, wo ebenfalls Lehrkräfte die Stellen im Regierungspräsidium besetzen. Ohne sie, so wurde uns erklärt, wäre der Schüler*innenaustausch nicht möglich gewesen; sie schmierte die Räder der Bürokratie an entscheidenden Stellen, vor allem was das Ausstellen von Genehmigungen und offiziellen Einladungen anging.

Digitales

Einer der auffälligsten Unterschiede im Alltag war die Ubiquität des Smartphones. In China geht überhaupt nichts ohne ein solches. Bargeld ist praktisch völlig abgeschafft, Kreditkarten effektiv unbekannt - bezahlt wird überall per App, selbst bei den kleinsten Straßenhändler*innen. Das ist so ungemein bequem, dass man bei der Rückkehr nach Deutschland sofort Phantomschmerzen hat und das chinesische System übernehmen möchte. Praktisch alles konzentriert sich in nur zwei Apps, die beide eine Bezahlfunktion anbieten: WeChat (eine Art Mix aus Whatsapp, Twitter und Instagram) und Alipay (ein Mix aus Paypal, Uber und Airbnb, unter anderem). Praktisch sämtliche Funktionen lassen sich über diese beiden (auch miteinander verknüpften) Apps super bequem erledigen; auch die Behörden greifen gewohnheitsmäßig darauf zurück.

Natürlich hat diese Bequemlichkeit eine unübersehbare Schattenseite: das System ist vollständig in sich geschlossen und damit leicht kontrollierbar. Man will sich gar nicht ausmalen, was es bedeutet, dass der Staat Dissident*innen per Knopfdruck davon ausschließen kann: in einem Land, in dem selbst die kleinsten Vorgänge NUR über EINE App bezahlt werden können, ist der vollständige soziale Ostrakismus mit einer spielerischen Leichtigkeit zu erreichen, die Orwell als übertriebene Fantasie abgetan hätte. Auch der Zugang zum Internet ist ungemein reglementiert: zahllose Homepages, etwa Wikipedia, sind überhaupt nicht ansteuerbar; viele Apps (vor allem von Google) funktionieren schlicht nicht. Das chinesische Internet hat mit dem des Rests der Welt nur sehr peripher zu tun: es ist eine vollkommen abgeschottete Kugel, in der die Regierung bestimmt, was die Bevölkerung jemals zu Gesicht bekommt. Die Effizienz der Propaganda durch Auslassung dürfte maßgeblich mit darauf beruhen. Wenig überraschend sind die (völlig überzogenen) deutschen Vorstellungen von Datenschutz und Urheberrecht auch nirgendwo bemerkbar. Ständig wird man fotografiert; die Idee des "Rechts am eigenen Bild" ist völlig unbekannt. Genauso wird auch alles freigiebig geteilt.

Ein letztes Kuriosum ist die relative Verbreitung von Übersetzungsapps. Ob im Hotel, am Flughafen oder im Restaurant; üblicherweise wurde einem das Handy hingehalten, damit man in den Lautsprecher spricht, der dann ins Chinesische übersetzte - und umgekehrt. So praktisch diese Übersetzungsapps angesichts der nicht vorhandenen Fremdsprachenkenntnisse der Bevölkerung auch sein mögen, ich werde den Eindruck nicht los, dass diese schlechten Kenntnisse auch darauf beruhen, dass die Leute ständig die App verwenden (übrigens auch die Austauschschüler*innen; auf die Art verbessert sich natürlich auch nichts).

Fazit

Zusammenfassend würde ich China als ein "hochgradig funktionierende Diktatur" bezeichnen. Anders als die realsozialistischen Dikaturen ist auffällig, wie gut diese Systeme - zumindest für mich als Außenstehenden - funktionieren. Die aus dem Realsozialismus bekannte Tendenz, Systemkonformität nur zu performen, ist nirgendwo sichtbar, schon alleine, weil solche Performance gar nicht verlangt wird. Es ist aus meiner (einmal mehr: extrem begrenzten) Erfahrung nachvollziehbar, warum der chinesische Staat mit solcher Selbstsicherheit den Anspruch erhebt, einen dritten Weg gefunden zu haben, der das westliche Wohlstandsniveau und Wirtschaftswachstum mit traditionell autokratischen Methoden verknüpft (was gerne als kulturell chinesisch geframet wird, was ich aber für Kokolores halte; es ist Standard Autokratie). Ich bleibe skeptisch, ob sich das tatsächlich endlos in die Zukunft reproduzieren lässt; gleichwohl ist das System aber unzweifelhaft wesentlich funktionsfähiger, als es der Sowjetkommunismus selbst zu seinen besten Zeiten war.

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