Im Rahmen eines Schüler*innenaustauschs habe ich im April 2024 meine erste Reise außerhalb Europas hingelegt (natürlich eine Dienstreise :D): es ging nach China, genauer nach Beijing. Für eine Woche sind eine Kollegin und ich mit 24 Schüler*innen dorthin und konnten das Land unmittelbar erleben. Ich will im Folgenden meine Eindrücke aus einer politisch-gesellschaftlichen Analyseperspektive teilen. Ich teile das Ganze in verschiedene Bereiche auf. All das ist auf Basis einer sehr dünnen Kenntnisbasis, einem siebentätigen Besuch in Beijing und damit notwendig super, super subjektiv. Caveat Emptor.

Sicherheit

Sicherheit war in China ein Dauerthema. Es ist das zentrale Legitimitätsargument der Diktatur für all ihre Maßnahmen. Stets hat man uns versichert, wie sicher alles sei und wie die ganzen Überwachungsmaßnahmen keinesfalls gegen die Bevölkerung gerichtet seien, sondern vielmehr deren Sicherheit dienten. Soweit ich das beurteilen kann, war diese Sicht genuin und entsprach nicht einem aus Furcht nachgeplapperten Narrativ. Es ist auch nicht schwer zu verstehen, wieso: die Bereiche, in denen wir unterwegs waren, waren tatsächlich sehr sicher. Besonders eindrücklich wurde mir dies durch die Perspektive meiner Kollegin und der Schülerinnen, die übereinstimmend erklärten, sich auf den Straßen, in der Metro etc. sehr viel sicherer zu fühlen als in Deutschland.

Erreicht wird dies durch eine geradezu absurde Präsenz von Sicherheitspersonal. Überall sind uniformierte Wachleute. Allein der Zugang zu unserer Gastschule wurde - wie bei allen Schulen, die wir gesehen haben - neben den schweren Toren, Kameras und Gesichtsscannern von mehreren Sicherheitsleuten bewacht. In den Malls und vielen anderen Geschäften sind Sicherheitsleute (die meist auch gleichzeitig Serviceaufgaben wie das Aufhalten von Türen und Informationspunkte übernehmen). Wenn ich es richtig verstanden habe, gehören sie zu einem privaten Sicherheitsdienst, sofern diese Unterscheidung in China überhaupt von Relevant ist. Sie trugen alle dieselben Uniformen.

Aber auch Polizei und Militär sind sehr präsent. An öffentlichen Orten - Malls, Einkaufsstraßen, etc. - finden sich alle hundert Meter große Schirme, unter denen ein Polizist steht. Dieser trägt entweder einen hüfthohen Metallnüppel oder eine hüfthohe Mischung aus Schaufel und Gabel, mit der sich Leute wegschieben lassen. Dazu trifft man immer wieder auf Militär. Ob im Bahnhof oder im Outletstore, ein Soldat in Habachtstellung ist ein gängiger Teil des Straßenbilds.

Dazu kommen ständige Kontrollen. Wohin man auch geht, überall muss man sich ausweisen. Als Ausländer muss der Reisepass vorgezeigt werden und wird registriert; ob im Sommerpalast, bei der Großen Mauer oder im Hotel. Chines*innen geben ihre Passnummer auf einem Keypad ein. Nicht einmal eine SIM-Karte kann man kaufen, ohne dass dieser Kauf direkt mit dem Reisepass verknüpft wird. Bei Ankunft in Beijing mussten wir auf die Polizeiwache und uns dort registrieren lassen, mitsamt ausführlichen Angaben, welche chinesische Person für uns "verantwortlich" ist. Betritt man einen Bahnhof, muss man an mehreren uniformierten Sicherheitsleuten durch einen Metalldetektor; das Gepäck wird durch einen Scanner geschickt. Es sind dieselben Sicherheitsmaßnahmen wie am Flughafen - für jede einzelne U-Bahnfahrt!

Das Argument mit der Sicherheit ist eines, das die Chines*innen verinnerlicht haben. Immer wieder betonten sie, wie sicher das Land und die Stadt seien und dass die Überwachung keinesfalls gegen uns oder sie gerichtet sei, sondern einzig in unserem Interesse geschehe. Es sei ein großes Missverständnis bis hin zu westlicher Propaganda, dass dies der Machtsicherung diene. Und tatsächlich wirken diese Maßnahmen auch; das Land ist, wie gesagt, sicher. Nur ein Beispiel für die positiven Auswirkungen: ein Schüler vergaß abends im Taxi sein Handy. Das Taxi war bar bezahlt worden, Nummernschild oder Firma unbekannt. Unser Reiseleiter schaffte es, binnen 20 Minuten über die Überwachungsaufnahmen des Hotels und einiges Herumtelefonieren den Wagen ausfindig zu machen. Stolz präsentierte er dieses Ergebnis als Beweis für die positiven Effekte der allgegenwärtigen Kameras. Und das ist auch unabweislich korrekt! Allein, das alles hat natürlich eine Schattenseite. Eine Schülerin erkundigte sich etwa, ob es in China keine Obdachlosen gäbe (denn die sieht man genauso wenig wie Bettelnde). Die Antwort war, dass es die schon gäbe - aber sie werden von den Sicherheitsorganen an die Peripherie gedrückt, in wenige Distrikte an Stellen, an denen sie unsichtbar sind. Und wie es Menschen ergeht, die aus irgendwelchen Gründen in das Visier der Obrigkeit gelangen, will man sich gar nicht ausmalen.

Sitten

Wenig überraschend ist China ein fremdes Land mit einer fremden Kultur, weswegen man immer wieder auf Überraschungen stößt. Hier gilt noch mehr als bei den anderen Themen meine Warnung vom Anfang: es ist ein sehr, sehr subjektiver Einblick auf einer extrem schmalen und wenig repräsentativen Basis.

Was mir bezüglich der Sprache aufgefallen ist ist die ständige Verwendung des Adjektivs "wunderschön". Alles ist immer wunderschön: die Bäume, die Blüten, die Straßen, der Schulcampus, die Mall, die Pekingoper, die Zeichnungen, die Menschen. Letzteres war besonders merkwürdig, weil wir ständig ungefragt verkündet bekamen, dass wir "beautiful" seien. Bis heute kann ich das nicht richtig einordnen, aber ich bin ziemlich zuversichtlich, dass da eine Bedeutungsverschiebung in der Übersetzung verloren geht; ich kann mir kaum vorstellen, dass in China damit dasselbe gemeint ist, wie wenn man das hierzulande verwenden würde, denn andernfalls wären Achtklässlerinnen, die einem sagen wie "beautiful" man ein wenig creepy.

Für mich war es ebenfalls schwer auszumachen, wo die Grenze zwischen Übertreibungen aus Höflichkeit und Ernst war. Egal was man tat, es wurde überschwänglich gelobt. Gerade als Schwabe, der Heimat der Litotes, tut man sich damit recht schwer. In Gesprächen über Land und Leute war fiel es mir deswegen nicht leicht, ein Gefühl dafür zu haben, ob man dem jeweiligen Gegenüber gerade auf die Füße tritt. Vermutlich war es für die Chines*innen auch befremdlich, wie kritisch wir im Gespräch über unser eigenes Land und unsere eigene Regierung sind; sicher kann ich mir aber auch da nicht sein.

Eine weitere sprachliche Auffälligkeit war die starke Verwendung von positiven, aber letztlich bedeutungslosen Adjektiven. Egal welchen Aspekt wir erklärt bekamen, ob Pekingoper, Große Mauer, ein Museum oder irgendeine Baustelle, alles war immer irgendwie bedeutsam, kulturell tief, etc., aber diese Bedeutung und der kulturelle Reichtum blieben immer Behauptung ohne Erklärung. Das verlieh den Formulierungen einen hölzernen, propagandistischen Klang, der aber natürlich zu einem guten Teil auch den (oft miesen) Übersetzungen geschuldet sein dürfte.

Das bringt uns zu den Fremdsprachenkenntnissen. Funktional war der Chinabesuch wie eine Reise nach Frankreich: niemand spricht auch nur einen Brocken Englisch. In Beijing war es besonders krass. Schilder und Etiketten sind selten zweisprachig, die Leute verstehen nicht einmal primitivste Vokabeln. Auch in den Schulen und im Lehrkörper sind Englischkenntnisse deutlich unterdurchschnittlich (siehe "Bildung" weiter unten). Ohne unsere Begleitung wären wir aufgeschmissen gewesen. Die Leute nehmen auch immer an, dass selbst offenkundige Ausländer wie ich Chinesisch sprechen und schreiben können. Ich betrat einmal einen Laden und wollte mich nur umsehen, hatte aber sofort eine Verkäuferin vor mir, die auf mich einredete. Ich versuchte ihr begreiflich zu machen, dass ich sie nicht verstand, woraufhin sie dasselbe noch einmal wiederholte. Im dritten Anlauf zückte sie ihr Handy, tippte das Gesagte ein und zeigte es mir, als ob chinesische Schriftzeichen die Sache klarer machen würde.

Bemerkenswert war die Gastfreundschaft. Unsere Gastgebenden bestanden darauf, uns alles zu bezahlen (zumindest am Anfang, als wir sie besser kennenlernten war es uns manchmal auch erlaubt, eine Rechnung zu übernehmen, wenn wir offensiv genug darauf bestanden; ob sie das als Beleidigung nehmen, kann ich nicht wirklich sagen). Sie opferten sich praktisch völlig für uns: sie standen jederzeit zur Verfügung, begleiteten uns selbst auf Taxifahrten. Auch wenn man Kunde war, wurde man wie ein König behandelt. Demgegenüber stand eine umso krasser auffallende Indifferenz aller anderen; ohne persönlichen Bezug oder direktes Geschäftsverhältnis waren die Leute eher schroff und kurz angebunden und wenig hilfreich.

Normal aber im Alltag natürlich trotzdem auffällig sind kulturelle Unterschiede. So spucken die Menschen in China ständig aus und ziehen das Zeug vorher sehr geräuschvoll in Nase und Rachen zusammen. Gleichzeitig gilt es als unhöflich, sichtbar oder hörbar die Nase in ein Taschentuch zu schneuzen, was bei uns genau ungekehrt wäre. Damit ist emphatisch keine Wertung verbunden; andere Länder, andere Sitten. Dasselbe gilt für's Essen: da fast alles mit Stäbchen oder einem kleinen, tiefen Löffel (der ohne Schlürfen praktisch nicht nutzbar ist) gegessen wird, beugt man sich immer tief über den eigenen Teller und zieht das Essen, besonders die Nudeln, in den Mund - ein absolutes No-Go im Westen. Der Umgang mit Messer und Gabel ist fast unbekannt, was im Pizza-Hut zu einer witzigen Beobachtung führte, wo einerseits die Pizza wie alle anderen chinesischen Gerichte portionsweise von einem Teller auf einen anderen gepackt wurde (was hier völlig sinnlos war) und andererseits ein Kind am Nebentisch mit der Gabel die Spaghetti auf wie mit Stäbchen zu essen versuchte; das einzige mal, dass wir einen Heimvorteil hatten.

Nationalismus und Propaganada

Obwohl China formell immer noch ein kommunistisches Land ist, merkt man davon im Alltag nichts. Die typischen Zeichen sozialistischer Diktaturen sind fast nirgendwo sichtbar; Mao-Bilder, Arbeitermützen, Anstecknadeln etc. findet man eigentlich nur in Touristenshops als Ramschware. Der Große Vorsitzende dürfte sich angesichts dieser kapitalistischen Resteverwertung im Grab umdrehen. Stattdessen herrscht eine eher generischer Nationalismus vor: China ist eine großartige Nation, ein Leuchtturm für alle anderen Nationen. Ständig wird die Vorbildwirkung betont und dass man die Geschenke der eigenen (überlegenen) Kultur mit dem Rest der Welt teilen möchte, ohne dass das je über eine Phrase hinausgehen würde.

In allen Bereichen wird die Homogenität der Han-Chinesen betont. Nie wird ein Zweifel daran gelassen, dass China eine einige Nation ist. Die Minderheiten werden zwar hervorgehoben und positiv besetzt, aber stets auf eine Exotisierende Art, die eine Art paternalistischen Rassismus bildet. Immer wieder wurden traditionelle Kleidungen und Gebräuche der Minderheiten als Teil des kulturellen Erbes Chinas dargeboten, aber stets mit einer Art Karl-May-Brille: es sind "noble Wilde", die an der Peripherie des modernen Chinas durch dessen Großzügigkeit geschützt ihre traditionelle (und touristisch ausgebeutete) Lebensweise pflegen können. Die Uiguren werden dabei völlig ohne Kommentar neben Mongolen und anderen Gruppen genannt.

Das führt auch zu der Frage von Propaganda. Diese ist allgegenwärtig, aber auf eine subtile Art und Weise. Für mich als Historiker war dies der spannendste Teil, weil ich Propaganda nur aus den Geschichtsbüchern, nicht aber aus persönlicher Anschauung kenne. Die Funktionsweise ist subtiler als erwartet, wohl auch, weil die kommunistische Ikonographie und Sprachregelung praktisch vollkommen aus dem Alltag verschwunden ist. Sie funktioniert weniger über Parolen oder platte Lügen als vielmehr über geschickte Auslassungen. Ein Praxisbeispiel: wir haben das Weltraumfahrtmuseum in Beijing besucht. Das vollbringt das Kunststück, China als vorrangige Weltraumnation der Erde darzustellen, indem wahnsinnig selektiv Dinge gezeigt werden. So erfahren wir, dass er erste Satellit Sputnik war und sehen ein maßstabsgetreues Modell, dem dann aktuelle chinesische Satelliten entgegengestellt werden (die auf einem Schaubild die einzigen Satelliten im Orbit sind). Oder man erklärt, dass China gerade ein Teleskop baut, das viel besser als das Hubble-Teleskop sei und übersieht geflissentlich die Existenz des Webb-Teleskops. Und so weiter. Zurückkehrende Austronauten, die winken, ihre Liebe zum Vaterland verkünden und ihren Flug in den Orbit als Dienst an der Menschheit erklären, runden das Bild ab.

Dieses ständige Auftrumpfen steht in einem direkten Kontrast zu einem permanenten Minderwertigkeitskomplex. Irgendwie muss der Abstieg Chinas im 19. und 20. Jahrhundert ja auch erklärt werden. Permanent wird betont, wie friedfertig China ist - so seien etwa die Opiumkriege darauf zurückzuführen, dass China kulturell so viel höher stand als Europa, dass es gar nicht den Gedanken an Krieg hatte und deswegen der imperialistischen Aggression Europas schutzlos ausgesetzt war. Auch heute wolle das Land nichts so sehnlich wie den Weltfrieden. Demgegenüber steht dann das ständige Auftrumpfen; alles ist im Größer und Prächtiger als im Rest der Welt. Diese Mentalität hat für mich starke Vibes des wilhelminischen Kaiserreichs.

Diese Propaganda durch Auslassung hilft auch dabei, das kulturell-historische Selbstbild zu konstruieren. Schließlich muss das System einerseits seine Selbstbehauptung als kommunistisch mit den modernen kapitalistischen Strukturen unter einen Hut bringen und andererseits irgendwie die Desaster des 19. und 20. Jahrhunderts erklären und gleichzeitig einen Bezug zur Geschichte des Kaiserreichs und der "Warring States" vorher schaffen. Auch hier geschieht wahnsinnig viel über Auslassung: die Mao-Zeit wird weitgehend ignoriert; 1949 ist der Beginn des "neuen China", und das nächste Ereignis, über das man spricht, ist die Öffnung unter Deng Xiaoping. Das "alte China" ist politisch gescheitert, wobei die Erklärung hierfür die Schizophrenie des "zu gut für diese Welt" ist, um sich nicht negativ über das eigene Land äußern zu müssen. Auf diese Art und Weise stellt der Staat eine Kontinuität her, in der man total stolz auf die Kulturgeschichte aus über 3000 Jahren sein und sich als älteste Kulturnation der Welt inszenieren kann, gleichzeitig aber politisch einen doppelten Bruch zu Kaiserzeit und Revolutionswirren hinzulegen und ein merkwürdig undefiniertes "neues China" zu bejubeln.

Manche negativen Phänomene werden direkt geleugnet und als westliche Propaganda abgetan, während andererseits Fake News in Masse verbreitet werden. So existiert Umweltverschmutzung in China etwa effektiv nicht (die gelebte Erfahrung der Luftqualität spricht eine ganz andere Sprache) und auch das Social-Credit-System diene ausschließlich dazu, einige wenige hochrangige Wirtschaftsverbrecher zu bestrafen. Umgekehrt wurden uns Schauergeschichten von Verbrechen an Chines*innen im Westen erzählt, die sich mit einer kurzen Suche widerlegen ließen. So etwa erfuhren wir, dass der Mörder einer vor fünf Jahren verschwundenen chinesischen Studentin in Berlin immer noch frei herumlief, weil es zwar Zeugenaussagen gäbe, aber - leider, leider - keine Kameraüberwachung und unser absurdes Rechtssystem ihn deshalb nicht belangen könnte (Unschuldsvermutung und ähnlicher liberaler Kram). In Wirklichkeit sitzt der Täter seit fünf Jahren wegen Mordes; 15 Jahre Haft.

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