"Die Gossenpressenvertreter haben sich  ihre journalistischen Aktivitäten in den Unterhosen von Dieter Bohlen,  Udo Jürgens und zahlloser Vergewaltigungsopfer als  »Boulevardjournalismus« schöngeredet, aber was hätte solcher Schmodder  auf einem Boulevard zu suchen? Von einem Boulevard erwarte ich, daß dort  Charles Aznavour Arm in Arm mit Lino Ventura flaniert und daß sie beide Simone Signoret zu einem Café au Lait oder Schlimmerem einladen. Was  die Bild-Zeitung an Puff-Geständnissen aus Knalltüten wie Heiner  Lauterbach und Ottfried Fischer herausleiert, hat damit herzlich wenig  zu tun. Das ist kein »Boulevard«. Das sind glipschige Speichelbatzen." (Gerhard Henschel)

Zu  den tröstlicheren Dingen des Lebens gehört es, dass Narzissten früher  oder später auf die Fresse fallen, und zwar so ziemlich alle. Irgendwann  macht jeder einen Fehler und dann beginnen maßloses Selbstbild und  Realität langsam auseinanderzuklaffen. Eine Zeitlang wird das System  noch aufrechterhalten. Durch Rumbrüllereien, Schmeicheleien,  Entlassungen, Korruption, aber irgendwann stürzt jedes Kartenhaus  zusammen. Jetzt hat es Julian Reichelt erwischt, der bis gestern die  Redaktion von Springers Meistverkaufter leitete. Ein Breitreifenmensch,  eine Dauererektion von Mann, dem permanent das Testosteron aus allen  Ritzen quillt. Der ein Feldbett in seinem Büro aufstellte, um zu  signalisieren: Hier ist ein Krieger. Und ein Stecher.

Was seine Vögeleien mit deutlich jüngeren Mitarbeiterinnen angeht, sollte man  nicht den Fehler machen, diese allzu genüsslich breitzutreten. Denn das  hieße, sich exakt auf das Niveau jenes Blattes zu begeben, für das er  verantwortlich zeichnete. Normalerweise sollten intime Dinge, die erwachsene Leute miteinander treiben, Privatsache sein. Wenn es da nicht  Hinweise gäbe, dass Reichelt Sex gegen Jobs gedealt und  Scheidungspapiere gefälscht hätte, um sie einer seiner Amouren vorzulegen. Straftaten sind keine Privatsachen. Die alte  Besetzungscouch-Nummer mag noch als atavistisches Relikt aus  Prä-Metoo-Zeiten durchgehen und davon zeugen, dass da einer den Knall par tout nicht hören wollte. Urkundenfälschung ist eine Straftat.

Und  wenn, ja wenn, das Ganze nicht so perfekt zur Blattlinie passen täte  wie der sprichwörtliche Arsch auf Eimer. Denn die war schon immer die "größte europäische Anstalt für die Befriedigung des allgemeinen  Bedürfnisses nach Fickgeschichten und übler Nachrede" (Henschel).  Man hat dort noch nie einen Widerspruch gesehen, auf Seite eins den  Papst zu beschleimen und das christliche Abendland zu verteidigen, um  auf Seite acht dann private "Bumskontakte mit Abspritzgarantie" (ebd.) zu verkobern.

Ein  System, das sein Lieblingskind gefressen hat, könnte man sagen. Dabei war Reichelt weniger Chef denn Erfüllungsgehilfe. Ein wadenbeißender Dackel Döpfners, der selbstverständlich eine politische Agenda verfolgt und jederzeit im Bilde gewesen sein musste über das, was lief. Sonst hätte er seinen Job schlecht gemacht.

Nach der unauffälligen und  wohl auch überforderten Tanit Koch sollte Reichelt das Blatt fit machen für das Zeitalter der Asozialen Netzwerke. Also (wieder) einen Brachialjournalismus etablieren, der sich nicht der Wahrheit  verpflichtet fühlt und sich seine eigenen Realitäten schafft. Und der  genügend politischen Einfluss hat, die politische Meinung im Land  mittels Artikelserien maßgeblich in eine genehme Richtung zu steuern. Ferner sollte er BILD TV an den Start und auf den Weg bringen. Das soll  auf lange Sicht ein deutsches Fox News werden. Bedenkt man, dass Fox News in den USA seit langem die wichtigste Informationsquelle für einen gerüttelten Teil der Bevölkerung ist und sieht man sich an, welche politische Rolle das Murdochsche Desinformations- und Indoktrinationsmedium bei der Wahl und während der Amtszeit Donald Trumps gespielt hat, dann müssten sie bei Springer einen Nagel im Kopf haben, wenn sie das nicht auch versuchen würden.

Mathias Döpfner nannte diesen Prozess in einer Erklärung  zur Demission seines Chefredakteurs übrigens "kulturelle Erneuerung".  Nun ja, der erweiterte Kulturbegriff war schon immer ein weites Feld.

Es blieb der New York Times vorbehalten, Döpfners Rolle offenzulegen. Eigentlich hatte das ein Team  investigativer Journalisten von Ippen Media gemacht, das in den  vergangenen Monaten die Recherchen in Sachen Reichelt betrieben hatte.  Bis Dirk Ippen persönlich im letzten Moment die Veröffentlichung stoppte, angeblich nachdem Springer-Vertreter direkt bei ihm interveniert hatten. Folgende Passage des NYT-Artikels sollte man sich einrahmen:

"Axel  Springer forwarded a letter from lawyers stating that Bild was not  legally obliged to fire Mr. Reichelt. [...] Mr. Döpfner wrote that »we  have to be especially careful« in the investigation, because Mr.  Reichelt »is really the last and only journalist in Germany who is still  courageously rebelling against the new GDR authoritarian state«"

(Und  so überrascht es auch nicht, dass Reichelt von diversen Kommentatoren  als Held der Meinungsvielfalt gefeiert wird, der nun abgesägt wurde,  weil es es gewagt hat, die Corona-Maßnahmen zu kritisieren. Apropos: Es  gehört auch zu den tröstlichen Dingen im Leben, dass echte  Verschwörungen wie die Döpfnersche normalerweise schnell auffliegen.)
Dass  die Postille hier und da mal eine Breitseite gegen einen CDU-Kanzler  abfeuerte, wenn sich daraus populistische Funken schlagen ließen, war schon zu Helmut Kohls Zeiten kein Tabu.  Dass aber einer Unionskanzlerin quasi von höchster Stelle komplett die  Zusammenarbeit gekündigt wird, man sich Pegida-Narrative zueigen macht  und sich rechtsoffen in die (sachlich unbegründete) Pose des einzig  verbliebenen heldenhaften Widerstandskämpfers gegen Merkels autoritäre  DDR 2.0 wirft, überraschst nicht mehr wirklich, hat aber noch einmal  eine neue Qualität.

Ergibt aber durchaus Sinn. Einer aktuellen Studie des Kölner Rheingold-Institutes zufolge, sieht erstmals eine Mehrheit der Deutschen pessimistisch in  die Zukunft, sieht Deutschland gar im Niedergang. Solche Leute sind  nicht selten empfänglich für kulturpessimistische Schwarzmalereien und  Widerstands-Narrative. Vom Compact-Magazin lernen heißt siegen lernen.

Der  Vollständigkeit halber muss hier noch erwähnt werden, dass Reichelts Abgang,  so erfreulich man ihn finden mag, an den Verhältnissen natürlich nichts  ändern wird.





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