In einem kürzlich erschienenen Artikel haben einige US-Ärzte, darunter der berühmte US-Guru Andrew Weil, die Idee propagiert, dass alternative Therapien für Menschen, die sich von Covid-19-Infektionen erholen, viel zu bieten habe [1]. Ich halte diese These für unbewiesenen Unfug, aber darauf will ich heute nicht eingehen. Was mir in dem Artikel jedoch auffiel, war eine neue Definition der Integrativen Medizin (IM):

Integrative Medizin ist definiert als eine heilungsorientierte Medizin, die den ganzen Menschen, einschließlich aller Aspekte des Lebensstils, berücksichtigt. Sie betont die therapeutische Beziehung zwischen Behandler und Patient, ist Evidenz-informiert und bedient sich aller geeigneten Therapien.

Hoert sich einleuchtend an?

Nein, das finde ich nicht!

Seitdem der Begriff IM vor ein paar Jahren in Mode gekommen ist, hat es Dutzende von Definitionen gegeben (fast so, als wären sich die IM-Befürworter selbst nicht ganz sicher, was sie eigentlich propagieren). Und seit ich das erste Mal von IM gehört habe, hatte ich das Gefühl, dass es sich dabei um einen Versuch handelt, unbewiesene Behandlungen in die Routine der evidenzbasierten Medizin (EBM) zu schmuggeln. Im Jahr 2002 veröffentlichte ich meinen ersten Kommentar zu diesem Thema. Darin warnte ich, dass die IM nicht zu einer Ausrede werden darf, um unter dem Banner der Ganzheitlichkeit jede erdenkliche ungetestete Behandlung einzusetzen [2]. Neunzehn Jahre später ist genau das passiert, und eine Definition von IM nach der anderen ist getränkt mit Plattitüden, Unwahrheiten und Missverständnissen.

Schauen wir also, wie vernünftig diese o.g. neue Definition ist. Ich werde versuchen, dies zu tun, indem ich kurz auf jedes Element dieser Definition eingehe.

IM ist eine heilungsorientierte Medizin: Kennt jemand eine Medizin, die nicht auf Heilung ausgerichtet ist? Heilung ist das, worauf die Medizin schon immer ausgerichtet war und immer sein wird. Mit anderen Worten: Es ist nicht etwas, was IM von anderen Formen der Gesundheitsversorgung unterscheidet. Dieser Satz ist also Blödsinn.

IM berücksichtigt den ganzen Menschen: Dies ist ein Trick, den IM-Befürworter gerne anwenden. Er impliziert, dass die konventionelle Medizin nicht ganzheitlich sei. Diese Annahme ist jedoch nachweislich falsch. Jede gute Medizin ist ganzheitlich, und wenn ein Bereich der Gesundheitsversorgung nicht den ganzen Menschen berücksichtigt, müssen wir ihn reformieren. Die Schaffung eines Zweiges der Medizin, der wie IM vorgibt, ein Monopol auf Ganzheitlichkeit zu haben, kann diesen Prozess nur behindern.

IM schließt alle Aspekte des Lebensstils ein: Wirklich, alle? Gute Ärzte berücksichtigen die RELEVANTEN Aspekte des Lebensstils ihrer Patienten. Wenn mein Patient mit Claudicatio intermittens (intermittierendem Hinken aufgrund einer Durchblutungsstörung der Beine) zum Beispiel Briefträger ist, wird ihn seine Erkrankung deutlich anders treffen als einen Patienten, der an einem Schreibtisch sitzt. Dementsprechend muss ich als Arzt auch anders handeln. Aber alle Aspekte des Lebensstils? Nein! Ich fürchte, diese Aussage zeigt nur, dass IM-Vertreter Schwierigkeiten haben, das Wichtige vom Trivialen zu unterscheiden.

IM betont die therapeutische Beziehung: Aber das tun doch auch alle anderen Ärzte (außer vielleicht Pathologen). Als Medizinstudenten wurde uns das eingebläut, einige Ärzte haben Bücher darüber geschrieben (erinnern Sie sich an Balint?), und viele von uns haben Kurse zu diesem Thema besucht. Einige konventionelle Kliniker könnten sich vielleicht sogar durch die Unterstellung beleidigt fühlen, dass sie die therapeutische Beziehung nicht betonen. Auch hier beschlagnahmen die IM-Vertreter ein wesentliches Element jeder guten Gesundheitsversorgung als ihr Monopol. Es scheint fast eine böse Angewohnheit von ihnen zu sein, sich ein Kernelement der Medizin unter den Nagel zu reißen und es als ihre Erfindung zu deklarieren.

IM ist Evidenz-informiert: Endlich zeigt sich ein echter Unterschied zwischen IM und evidenzbasierter Medizin (EBM)! Während die konventionelle Medizin auf Evidenz basiert, ist IM lediglich INFORMIERT durch die Evidenz. Der Unterschied mag trivial erscheinen, aber er ist fundamental. Er erlaubt es IM-Vertretern, jeden widerlegten Quatsch einzusetzen. Die Evidenz zur Homöopathie z.B. zeigt nicht, dass sie wirksam ist? Macht nichts, IM ist ja nicht evidenzbasiert, sie ist nur evidenzinformiert. IM-Ärzte wissen, dass Homöopathie eine Placebo-Therapie ist (wenn nicht, wären sie schlecht informiert, was die medizinische Ethik verletzen würde), aber sie verwenden trotzdem Homöopathie (versuchen Sie, eine IM-Klinik zu finden, die keine Homöopathie anbietet!), weil IM nicht EBM ist. IM ist evidenzinformiert, und evidenzinformiert ist eine ‚carte blanche‘, die jedem Quacksalber schlichtweg alles erlaubt.

IM bedient sich aller geeigneten Therapien: Dieser letzte Punkt ist der Gipfel. Wollen die IM-Vertreter ernsthaft behaupten, dass konventionelle Ärzte ungeeignete Therapien anwenden? Kennt jemand einen Zweig der Medizin, in dem Behandler systematisch Therapien einsetzen, die nicht angemessen sind? Sind IM-Vertreter die einzigen, die Therapien anwenden, die für eine bestimmte Situation geeignet sind? Dieser letzte Punkt scheint vorauszusetzen, dass jeder, der auf IM hereinfällt, auf den Kopf gefallen ist.

Meine kurze Analyse bestätigt einmal mehr, dass IM kaum etwas anderes ist als ein Deckmantel, hinter dem IM-Befürworter versuchen, Unsinn in die medizinische Routine zu schmuggeln. Die Tatsache, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten die Definition ständig geändert hat, während keine halbwegs akzeptable Version auftauchte, deutet darauf hin, dass IM-Vertreter selbst nicht so recht wissen, was IM ist. Sie verschieben gerne den Torpfosten, scheinen sich aber nicht sicher zu sein, in welche Richtung. Da ist es schwer, zu einer anderen Schlussfolgerung zu gelangen, als zu folgender:

INTEGRATIVE MEDIZIN IST UNSINN!

[1] Integrative medicine considerations for convalescence from mild-to-moderate COVID-19 disease (nih.gov)

[2] Integrative medicine: not a carte blanche for untested nonsense - PubMed (nih.gov)

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