Warum Nahrungsergänzungsmittel keine Medikamente sind.

Auf den ersten Blick kann man die Schachteln von Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln kaum unterscheiden.

Woher wissen Sie eigentlich, ob Sie ein Medikament oder ein Nahrungsergänzungsmittel gekauft haben?

Könnten Sie spontan sagen, wo genau der Unterschied liegt?

Arzneimittel sollen Krankheiten heilen, Nahrungsergänzungsmittel sollen – wer hätte es gedacht – die Ernährung ergänzen. Deshalb dürfen letztere auch nicht mit Aussagen, die sich auf die Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beziehen, beworben werden.

Aber können wir den Unterschied auf der Packung erkennen?

Theoretisch sollten wir das, denn der Gesetzgeber hat Richtlinien für die Unterscheidung von Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln erstellt.

Die sagen etwa, dass Nahrungsergänzungsmittel nicht wie Arzneimittel aufgemacht sein dürfen, um eben gerade nicht den Anschein zu erwecken, dass sie Krankheiten heilen können.

Die Praxis sieht so aus: Sowohl Arzneimittel als auch Nahrungsergänzungsmittel liegen meist als Tabletten oder Kapseln vor, die der Hersteller in eine medikamententypische Umverpackung steckt. Häufig findet man darin sogar eine Art Beipackzettel.

Werden Nahrungsergänzungsmittel amtlich geprüft?

Nehmen wir mal an, Sie möchten ein Arzneimittel auf den Markt bringen. In diesem Fall kommen Sie nicht um das Arzneimittelgesetz herum, das detailliert vorschreibt, wie Sie vorzugehen haben. Arzneimittel müssen unzählige Prüfungen durchlaufen. Die Hersteller sind verpflichtet, die Wirksamkeit und gleichzeitig die Sicherheit des neuen Medikaments durch klinische Studien zu belegen.

Richten Sie sich also auf einen aufwändigen und kostspieligen Prozess ein. Laut Verband Forschender Arzneimittelhersteller kostet die Entwicklung eines neuen Medikamentes zwischen 1,0 und 1,6 Milliarden US-Dollar und dauert im Schnitt etwas länger als 13 Jahre. So viel Zeit und Geld muss man ja auch erstmal übrighaben. Soll das Arzneimittel dann auch noch für Kinder zugelassen werden, können Sie ein paar Monate und Dollar dranhängen.

Fertig entwickelt, muss das Arzneimittel durch das BfArm (das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) oder die Europäischen Zentralbehörde (EMA) zugelassen werden. Dabei werden alle Inhaltsstoffe geprüft. Auch die sogenannten Hilfsstoffe, die etwa zum Tablettenpressen benötigt werden, oder das Material der Kapsel, in die der Arzneistoff gefüllt wird.

Vor allem die Mengenangaben werden mit kritischem Auge begutachtet: Die Mengenangaben, die Sie auf der Verpackung angeben, dürfen um höchstens fünf Prozent von der tatsächlichen Menge im fertigen Arzneimittel abweichen. Schließlich existieren Arzneistoffe, die eine sehr genaue Dosierung erfordern, wie Hormone oder Mittel gegen Bluthochdruck. Menge „Pi mal Daumen“ funktioniert da nicht.

Ist das nicht alles sehr kompliziert?

Sie haben Recht. Stellen Sie lieber ein Nahrungsergänzungsmittel her.

Dann müssen Sie Ihr neues Mittel nämlich lediglich beim BVL (Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit) anzeigen.

Und das war’s auch schon.

Sie müssen weder die Wirksamkeit noch die Sicherheit einer Behörde gegenüber nachweisen. Letztendlich tragen Sie zwar die Verantwortung, aber Sie müssen vorab keine Belege dafür liefern.

Beim Abfüllen brauchen Sie es dann auch nicht ganz so genau zu nehmen: Die Mengenangaben, die Sie auf die Verpackung drucken, können bis zu sage und schreibe 50 Prozent vom tatsächlichen Inhalt abweichen.

Na, das ist ja einfach, denken sich die Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln wohl von Jahr zu Jahr aufs Neue und haben alleine in Deutschland im Jahr 2018 unglaubliche 8000 neue Präparate kreiert. Insgesamt gingen 172 Millionen Packungen im Wert von 1,2 Milliarden Euro über den Ladentisch oder wurden vom Paketboten ausgeliefert: Fünf Prozent mehr als im Jahr zuvor.

An diesem Erfolg sind die sozialen Medien nicht ganz unschuldig. Sie nutzen, dass es für viele von uns etwas Erquickendes hat, zu wissen, mit welchen Pülverchen und Pillen sich andere Menschen in einsame Hochform bringen. Besonders zufriedenstellend empfinden wir es, wenn dieser jemand berühmt ist oder zumindest eine stattliche Anzahl an Followern hat.

Der Markt ist riesig, weckt Begehrlichkeiten und ist nahezu unkontrollierbar. Denn das BVL prüft gar nicht alle Produktanmeldungen, die dort eingehen.

Wozu das führen kann, hat eine Reportage des TV-Wissenschaftsmagazins QUARKS (Ausstrahlung April 2021, noch in der wdr Mediathek) eindrucksvoll gezeigt:

Reporter Ben Bode und ich haben gemeinsam ein Fake-Produkt erfunden (das angegebene Präparat wurde nie hergestellt und gelangte selbstverständlich auch nicht in den Handel), das das Immunsystem „stärken“ sollte. Natürlich haben wir, wie unzählige andere Nahrungsergänzungsmittelproduzenten das aktuell ebenfalls tun, die Pandemie als Marketingargument genutzt.

Als brisanten Inhaltsstoff haben wir neben Vitaminen und Spurenelementen zusätzlich „Aztekisches Traumkraut“ angegeben. Dieses Kraut (Lateinisch: Calea ternifolia) ist eine giftige Pflanze. Je nach Dosis wirkt das Zeug halluzinogen, nierenschädigend, aber ziemlich sicher nicht positiv auf unsere Abwehr.

Ben Bode und ich haben also ein auffallendes Etikett entworfen, Kapseln abgefüllt, das zweifelhafte Produkt beim BVL angemeldet und dann sogar angeboten (NICHT ausgehändigt. Versteht sich von selbst.).

Jetzt sollte man doch meinen, das müsste bei den Behörden irgendjemandem aufgefallen sein!

Die Sache ist die: Wenn ein Hersteller ein neues Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt bringen will und dieses beim BVL anzeigt, leitet dieses die Anzeige an das jeweilige Bundesland weiter, in dem der Hersteller sitzt. Für die anschließende Kontrolle sind die entsprechenden Landkreise bzw. kreisfreien Städte zuständig.

Diese müssen aber nur stichpunktartig prüfen.

Daher fiel den zuständigen Behörden ein giftiger Zusatz im Nahrungsergänzungsmittel bei der Anmeldung nicht auf, obwohl er von uns deklariert wurde. Unser Etikett hatte nichts verschwiegen.

Genauso verhängnisvoll sind gepanschte Nahrungsergänzungsmittel, deren Inhalt sich oft als bedrohlicher Überraschungscocktail entpuppt, weil die Produzenten eben nicht alle Zutaten auf dem Etikett angeben. Allesamt Präparate, die einen interessanten Markt bedienen: Gewichtsverlust und Potenzsteigerung verkauft sich immer.

„Slimix“ oder „Minimal“ heißen die Mittel, die auf ganz natürliche Weise schnelle Schlankheit versprechen. Sie enthalten neben ein paar pflanzlichen Alibizutaten jedoch den Anti-Adipositas-Arzneistoff Sibutramin, der 2010 in Deutschland vom Markt genommen wurde, weil unter der Einnahme gravierende Nebenwirkungen wie Herzinfarkte und Schlaganfälle auftraten. Darüber hinaus hat man herausgefunden, dass der Gehalt des Sibutramins von Pille zu Pille höchst unterschiedlich war – das ist nicht nur riskant für die Gesundheit, sondern ein weiterer klarer Hinweis auf die mangelnde Seriosität des Herstellers. Das Mittel kann hierzulande übrigens nicht im Handel erworben werden; es ist allerdings in den Untiefen des Internets erhältlich.

Ebenfalls nur im Netz erhältlich sind „Black King Kong“ und „Rammbock“, deren Indikation Sie sich wahrscheinlich denken können. Ob sich die Käufer beim Klick auf den Warenkorb das Produkt genau angesehen hatten? Hier werben die Hersteller ebenfalls mit Pflanzenkraft. Tatsächlich steht die Wirkung mit dem Wirkstoff Sildenafil, besser bekannt als Viagra®. Sildenafil kann für sich alleine schon recht unangenehme Nebenwirkungen hervorrufen, darunter Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel und Sehstörungen. In Kombination mit einer Reihe von Herzmedikamenten kann es zu lebensbedrohlichen Wechselwirkungen kommen.

Amtliche Sicherheit? Fehlanzeige. Der Nahrungsergänzungsmittelmarkt ist undurchsichtig und Vorsicht ist durchaus angebracht. An dieser Stelle also ein wichtiger Hinweis:

Augen auf beim Pillenkauf!

Die Geschäfte mit der Gesundheit laufen in Apotheken, Drogerien, Supermärkten, beim Arzt, aber auch in Online-Shops und sogar in den eigenen vier Wänden beim Direktvertrieb recht gut. Plastikschüsseln waren gestern, heute verkauft man seinen Nachbarn gesunden Lifestyle. Entsprechende Offerten flattern zudem per Katalog oder gerne auch durch das Telefon ins Haus. Überflüssig zu erwähnen, dass sich bei vielen Vertriebswegen der Bauernfängerei bedient wird. In Vertragsangelegenheiten – oft tappt man in eine Abo-Falle – können beispielsweise die Verbraucherzentralen weiterhelfen. Besser jedoch Sie fallen auf die unhaltbaren Versprechen der Anbieter gar nicht erst herein.

Ich persönlich würde (natürlich!) in die Apotheke gehen, denn da bekommen Sie – wenn gewünscht – die nötige Beratung. Dort kann man auf eventuelle Wechselwirkungen mit Ihren Medikamenten eingehen und Fragen zur Einnahme (nüchtern, zum Essen etc.) eingehen. Außerdem erhalten Sie dort keine gefährlichen Wundermittelchen, sondern Produkte von seriösen Herstellern. Und wenn Sie jetzt sagen „Das schreibt sie halt, weil Sie selbst Apothekerin ist!“, liegen Sie vollkommen richtig. Weil Nahrungsergänzungsmittel einer entsprechenden Beratung bedürfen. Und das haben wir drauf.

Nachtrag:

Dieser Text stammt – bis auf die Passage mit dem Quarks-Experiment – aus meinem Buch „Ist das gesund oder kann das weg? Wirklich alles über Nahrungsergänzungsmittel“, das im Mai 2020 erschien.

Fast gleichzeitig haben Bündnis 90/die Grünen einen Antrag im Deutschen Bundestag zur Forderung einer Zulassungspflicht für Nahrungsergänzungsmittel gestellt. Völlig zurecht bemängeln sie eine massive Verbraucherschutzlücke. Wie ist der Stand?

Kurz gesagt: Leider hat dieses Buchkapitel seine Aktualität inzwischen noch immer nicht verloren.


 

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