Woher kommt unsere Moral, und wie wird sie legitimiert? Es ist eine Frage, die nicht oft gestellt wird. Viele sehen ihre Moralvorstellung als objektiv, eine unabdingbare moralische Vorgabe die ohne Zweifel korrekt ist und absolut gilt. Durch die inhärente Moralität der Vernunft soll sie legitimiert sein, als wäre es ein Instinkt der dem Menschen inne wohnt.

Andere Betrachtungen gehen davon aus, dass Moralität letztlich subjektiv ist, ein gesellschaftliches Konstrukt welches dem Menschen auferlegt wird. Entsprechend benötigt die Moralität dann eine externe Legitimation. Die traditionelle Sicht der europäischen Kulturen ist es, dass unsere Moral christlich ist, biblisch vorgegeben und göttlich legitimiert. Wenn hingegen die Moral subjektiv aber die Legitimation nicht transzendental ist, so wäre die Legitimation der zwischenmenschliche Konsens über die Moralität.

Für erstere Auffassung, dass Moralität ein Produkt von Vernunft ist, gibt es keine klaren Nachweise. Reist man durch Zeit und Raum, so findet man eine Plethora an unterschiedlichen Moralvorstellungen. Die alten Römer, für damalige Verhältnisse keineswegs ein primitives Volk, verbrachten zumal ihre Freizeit damit, im Kolosseum zuzuschauen, wie zum Tode verurteilte Verbrecher den Löwen zum Frass vorgeworfen wurden. Sie erteilten den Menschen auch unterschiedliche Grundrechte, je nach dem ob sie römische Bürger waren oder nicht, und ob sie Freie Menschen oder Sklaven waren.

Im Mittelalterlichen Japan (welches bis ins 19. Jahrhundert andauerte), war es gang und gebe, einen Menschen von niederem Stand an Ort und Stelle zu köpfen, wenn er sich nicht vor einem Samurai verbeugte. Und wieder andere Kulturen sahen es als moralisch korrekt an, den Göttern Menschenopfer zu erbringen, so z.B. die Azteken oder die alten Babylonier, welche bevorzugt Kleinkinder dem Götzen Moloch opferten.

Es ist eine schwer zu haltende Behauptung, dass Moralvorstellungen, welche auf diese Art und Weise mit dem menschlichen Leben umgingen, einem der für uns höchsten moralischen Werte, aus der gleichen Vernunft entstammen, aus welcher unsere heutige Moralvorstellung entstammt. Vergleicht man nun hingegen den Sinn für Ästhetik, so ist die Situation gänzlich umgekehrt: Die Bauten des alten Roms vor zwei Jahrtausenden erscheinen uns heute noch schön; ein Tempelbau im fernen Orient ist zwar stilistisch ungewohnt, aber trotzdem ästhetisch ansprechend; und anders herum kommen die Touristen von Nah und Fern um sich an den traditionellen Barock- und Fachwerkhäusern der mitteleuropäischen Altstädte zu ergötzen. Der Sinn für Ästhetik wohnt dem Menschen inne. Der Sinn für Moralität nicht.

Dies erklärt auch, weshalb man einem Kind erst beibringen muss, sich moralisch zu verhalten. Dass er dem kleinen Bruder nicht die Süssigkeiten wegnimmt, nur weil er grösser und stärker ist. Dass er die Katze nicht am Schwanz ziehen soll, weil wir Tierquälerei nicht dulden. Ein Instinkt wohnt dem Menschen inne, welcher für die Moralität bedeutsam ist: Die Empathie. Der Mensch hat einen fast natürlichen Reflex, mit anderen mitzufühlen, sich in den Anderen hineinzuversetzen. Ein Sinn, der einen Ansatz für Moralität gibt, aber bei weitem nicht das ganze komplexe Konstrukt einer Moralvorstellung hergibt oder legitimiert.

Die Idee, dass Moralität objektiv, vernünftig und absolut ist, stammt schlussendlich aus der Normalisierung der geltenden Moralvorstellung. Vor allem im Fall der westlichen Kulturen, sind deren Moralvorstellung aufgrund der kolonialen und kulturellen Verbreitung zu einem fast weltweiten Standard geworden, wenn auch zumal nur oberflächlich beachtet. Ebenso wie man vielleicht den Wert, die örtliche Sprache zu kennen, niemals schätzt bis man einstmals mit der Situation konfrontiert wird, die Sprache nicht zu kennen, ja bis dahin niemals überhaupt das Konzept einer Sprache beachtet hatte, da im Fehlen eines Kontrastes diese auch als absolut und vernünftig gesehen wurde; so verhält es sich schliesslich auch mit der Moralität: Wer sich niemals mit dem Konzept, Ursprung und der Legitimation der Moralität auseinandersetzt, sieht auch nicht ein, dass es ein subjektives Konstrukt ist, welches keineswegs eindeutig aus einer dem Menschen innewohnenden Vernunft entstammt.

Die Moralität der europäischen Kulturen ist ursprünglich christlich geprägt. Der christliche Glaube war die Grundlage für die „westliche“ Moralvorstellung, welche manch einem heute nur noch als logisch und vernünftig erscheint. Und so sehr sich dieser Kontinent (wie auch seine kulturellen Ableger) über die Geschichte hinweg gegen viele der moralischen Vorgaben des Christentums gesträubt hat, so tendierte er mit der Zeit stets wieder dorthin zurück, ein „moralischer Kompass“ welcher gerade durch seine Missachtung stärker zur Deutung kam.

Das 20. Jahrhundert war insofern ein kultureller Übergang, als dass die universelle Vorherrschaft des christlichen Glaubens in der europäischen Kultur abnahm. Folglich würde auch die grundlegende göttliche Legitimation der christlichen Moralität in Frage gestellt. Wer nicht christlichen Glaubens ist, würde auch nicht die Bibel als Gottes Wort verstehen, und hätte entsprechend keinen Wert auf eine höhere Legitimation der christlichen Moralität zu legen. Eine logische Folgerung ist die, der zwischenmenschlichen Legitimation einer Moralität: Es gilt die Moralvorstellung, auf welche man sich einigt, dem Grundkonzept der Demokratie folgend.

Die Auffassungen des Menschen sind allerdings wandelbar, immer in Bewegung. Was gestern noch galt, mag heute passé sein; und schlussendlich gibt es keinen soliden Grundstein, keinen Nullpunkt auf der Moralischen Achse, welcher nicht verschoben werden sollte. Und hier kommt eventuell die Frage auf: Ist Menschenleben heilig?

Das Menschenleben gilt als das wohl höchste Gut unserer Gesellschaft. Geschieht ein Unfall, so verkündet man erleichternd, dass niemand sein Leben verloren hat. Wenn das eigene Haus abbrennt und man sein Hab und Gut verliert, so schätzt man sich Glücklich, doch noch mit dem Leben davongekommen zu sein. Fast alle Länder von europäischer Kultur besitzen einen Organismus, welcher jedem Bürger medizinische Versorgung garantiert, auch wenn dieser es nicht selber bezahlen könnte. Während vieles andere keine Garantie hat, so wenigstens die Gesundheit als Inbegriff des menschlichen Lebens.

Wenn nun die Moralität nur noch als Produkt eines zwischenmenschlichen Konsens agieren soll, welchen Grund gibt es dann, diese Auffassung des Lebens als höchstes Gut zu erhalten? Was hält den Menschen davon ab, zu entscheiden, dass das menschliche Leben vielleicht doch nicht so wichtig ist, wie andere Überlegungen?

Man mag sagen, die Empathie wäre hier der Ausdruck inhärenter moralischer Vernunft. Doch tatsächlich kann solche Empathie unter Einwirkung der Richtigen Anreize schnell verloren gehen. Während der sog. Pandemie las man zu Hauf Kommentare von Leuten, die anderen einen qualvollen Erstickungstod wünschten, weil sie sie als Mitverantwortlich für die Virusverbreitung sahen. Ungeachtet dessen, ob dies nun zutreffend wäre oder nicht, hat die christliche Moral zuvor selbst den übelsten Kriminellen und Massenmördern nicht ihr Anrecht auf das Leben abgesprochen, oder zumindest nicht vor dem Zeitpunkt der durch die Justiz gesellschaftlich sanktionierten Todesstrafe.

Die Abwertung des menschlichen Lebens ausserhalb einer christlichen Moralität ist auch in der Betrachtung des Selbstmordes zu sehen. Selbstmord war in der westlichen Welt teilweise noch bis in die 50er Jahre strafbar, auf der moralischen Grundlage des Gebotes „Du sollst nicht töten“, auch nicht sich selber. Während Sterbehilfe bei todkranken Menschen noch eine nachvollziehbare Überlegung ist, hat Kanada ein Sterbehilfeprogramm auf alle möglichen Fälle ausgeweitet, Menschen mit Behinderungen, die mit den knappen Sozialleistungen Mühe haben, wird kurzerhand Suizid angeboten. Ein Angebot, das künftig auch auf geistig Gestörte Menschen ausgeweitet werden soll. Was uns als moralischer Abgrund des dritten Reiches gelehrt wurde, wird nun, zumindest in Kanada, nach und nach zur Normalität. Und warum auch nicht, so lange es einen zwischenmenschlichen Konsens darüber gibt, dass dies moralisch ist?

Es gibt keinen Grund, diese Überlegungen nicht weiterzuführen. Wenn das menschliche Leben nicht mehr heilig ist, als dass man auf Berufung einer transzendentalen Wahrheit unter keinen Umständen akzeptieren wollte, dass dieses Verachtet wird, was hält uns davon ab, in zwischenmenschlichem Konsens, Kleinkinder wieder an den Götzen Moloch zu opfern? Ist es wirklich ein so grosser Schritt, von der Abtreibung ungeborener Kinder und der physischen Verunstaltung der Geschlechtsorgane, zu solchen primitiven, blutrünstigen Zuständen? Wahrlich, inzwischen ist diese Fragestellung bereits polemischer, als die Handlungen, welche in der christlichen Moralität als aberrant gegolten hätten, und inzwischen zur moralischen Tugend erhoben worden sind.

Ohne einen moralischen Haltepunkt, der über den Menschen hinaus geht, wird jegliche Moral relativ. Wenn die nächste Grenze überschritten wurde, ist eine weitere Grenze so nah, als dass sie alsbald auch überschritten wird. Die abstrusesten, perversesten Ideen, sind nur solche, weil sie hinter einer Reihe moralischer Grenzen stehen. Sobald diese moralischen Grenzen nicht mehr existieren, sind es auch keine abstrusen, perversen Ideen mehr, sondern reine Normalität. Keine Grenze ist mehr unantastbar, nicht einmal das menschliche Leben.