Auswertung der Entscheidung des neunten Zivilsenats zu den Anforderungen an den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners im Rahmen der Vorsatzanfechtung gemäß § 133 Abs. 1 bis 3 InsO

Der neu besetzte neunte Zivilsenat am Bundesgerichtshof hat mit dem Urteil vom 6. Mai 2021 (IX ZR 72/20) zunächst für viel Aufsehen unter Insolvenzverwaltern, Prozessanwälten aber – wie dem Verfasser aus Gesprächen bekannt ist – auch bei Sozialversicherungsträgern und einzelnen Finanzämtern gesorgt.

  • Die Entscheidung erschwert die Insolvenzanfechtung in wenigen Fällen.
  • Der Insolvenzverwalter wird die präzisierten Anforderungen an die Darlegungslast in der überwiegenden Zahl der Fälle nach sorgfältiger Ermittlung erfüllen können.
  • Gelingt dem Insolvenzverwalter dies, wird sich die Abwehr berechtigter Anfechtungsbegehren für die Gegenseite als schwieriger erweisen.

I.

Der Entscheidung des Bundesgerichtshofs lag – stark verkürzt – der folgende Sachverhalt zugrunde:

Der klagende Insolvenzverwalter begehrte auf Grundlage von §§ 143 Abs. 1, 133 Abs. 1 InsO a.F. die Rückgewähr eines niedrigen vierstelligen Eurobetrages. Der Schuldner war in Verzug geraten, verzögerte die Zahlung mit einer Hinhaltetaktik und bat schließlich um eine ratierliche Begleichung bei der es schließlich zu Verzug kam.

Das die bisherigen Grundsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung anwendende Berufungsgericht verneinte die Voraussetzungen des Rückgewähranspruchs. Der Bundesgerichtshof verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück, da der geltend gemachte Anspruch des Insolvenzverwalters nicht mit der Begründung des Berufungsgerichts abgewiesen werden könne.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes ist daher insbesondere im Lichte des ihr zu Grunde liegenden Sachverhaltes zu bewerten. Der Entscheidung lag ein schon nach bisheriger Rechtsprechung vergleichsweise unspektakulärer und – soweit die Entscheidungsgründe die Einschätzung gestatten – mit danach eher unterdurchschnittlichen Erfolgsaussichten gesegneter Anspruch zugrunde. Schon in der Vergangenheit stellte der Bundesgerichtshof klar, dass aus einem einmaligen Geschäftskontakt in der Regel kein Schluss auf die Bonität und den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz möglich ist. Obwohl der Bundesgerichtshof mit der Entscheidung die subjektiven Anforderungen des § 133 Abs. 1 Satz 1 präzisiert und (scheinbar) verschärft hat, gelangt er zu dem Ergebnis, dass die (mittelaussichtsreiche) Klage mit der Begründung des Berufungsgerichts nicht abgewiesen werden konnte.

II.

Der neunte Senat präzisiert im Wesentlichen die Anforderungen an den Vollbeweis der subjektiven Tatbestandsmerkmale des § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO mit folgender Begründung:

  1. An den Nachweis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes (und die Kenntnis hiervon im Sinne des Vollbeweises) können nicht die gleichen Anforderungen wie an die Beweiserleichterung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO ggf. i.V.m. § 133 Abs. 3 Satz 1 InsO gestellt werden.
  2. Die Anforderungen an den Tatbestand des § 133 InsO können sich im Falle einer Anfechtung kongruenter Deckungen nicht in den Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 InsO erschöpfen. Daher genügt die vom Schuldner und Gläubiger erkannte Zahlungsunfähigkeit (§ 17 Abs. 2 InsO) i.d.R. nicht für den Vollbeweis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes und die Kenntnis hiervon.
  3. Die Fortdauervermutung der einmal eingetretenen Zahlungsunfähigkeit gilt auch weiterhin. Wichtig sei aber, die Intensität der zutage getretenen Zahlungsunfähigkeit zu berücksichtigen, um unbillige Härten zu vermeiden.

1.

Dies vorausgeschickt stellt der Bundesgerichtshof klar, dass von Gläubigerbenachteiligungsvorsatz in der Regel nur bei bereits eingetretener Zahlungsunfähigkeit ausgegangen werden kann. Bei lediglich drohender Zahlungsunfähigkeit müssten besondere Umstände hinzutreten, die die Annahme rechtfertigen. Aber die Zahlungsunfähigkeit selbst lasse in der Regel nicht den Schluss zu, dass der Schuldner bei der Rechtshandlung die Benachteiligung der übrigen Gläubiger billigend in Kauf nehme. Insoweit gilt nunmehr:

  1. Der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz ist anzunehmen, wenn der Schuldner absehen kann, dass er die erkannte Zahlungsunfähigkeit nicht beseitigen kann.
  2. Liegt Zahlungsunfähigkeit nicht erst zum Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung, sondern – wie dies oft zu beobachten ist – seit Monaten vor, ohne dass sich etwas an der Lage geändert hat oder absehbar ändern wird, besteht in der Regel keine begründete Aussicht auf Beseitigung der Deckungslücke.
  3. Bestehen ausnahmsweise Aussichten auf die nachhaltige Beseitigung der Liquiditätslücke, muss der Schuldner, um den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz ausschließen zu können, davon ausgehen dürfen, dass ihm die benötigte Zeit zur Behebung der Illiquidität angesichts des Verhaltes seiner übrigen Gläubiger auch tatsächlich verbleibt.
  4. Dieser Zeitraum fällt umso kleiner aus, je größer die Liquiditätslücke oder je höher der Druck der Gläubiger ist.

In zahlreichen Fällen wird es auf die Punkte 3. und 4. nicht ankommen, da sich zum Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung Mahnungen, Vollstreckungsandrohungen und -Maßnahmen, verspätete Lohn- und Mietzahlungen, deckungsbedingte Rücklastschriften, nicht eingehaltene Ratenzahlungsvereinbarung oder andere Indizien einer Zahlungseinstellung zeigten.

2.

Ist der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz unter den vorgenannten Voraussetzungen dargelegt und kennt der Anfechtungsgegner die Umstände, die zur Annahme des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes führen, ist der Vollbeweis der Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz erbracht.

Gelangt das Gericht im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung gemäß § 286 Abs. 1 ZPO zu dem Ergebnis, dass der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners als erwiesen anzusehen ist und verneint es den Vollbeweis, dass der Anfechtungsgegner hiervon Kenntnis hatte, muss das Gericht nach der Entscheidung vom 6.5.2021 (IX ZR 72/20, Rn. 49) prüfen, ob die Voraussetzungen der gesetzlichen Vermutung (§ 133 Abs. 1 Satz 2 InsO, § 133 Abs. 3 Satz. 1 InsO) vorliegen. Dies hat das Gericht zu bejahen, wenn an den Grundsätzen des § 286 Abs. 1 ZPO gemessene Indizien für eine Zahlungseinstellung (§ 17 Abs. 2 Satz 2 InsO) zur Kenntnis des Anfechtungsgegners gelangt sind.

Der Anfechtungsgegner muss dann darlegen und beweisen, aus welchen Gründen er trotz dieser ihm bekannten Anzeichen einer Zahlungseinstellung davon ausging, dass der Schuldner die Zahlungsunfähigkeit in absehbarer Zeit nachhaltig würde beseitigen können und somit ohne Gläubigerbenachteiligungsvorsatz handelte.

Hat sich dem Anfechtungsgegner zum Zeitpunkt der ersten angefochtenen Rechtshandlung (§ 140 InsO) das Bild eines nicht nur punktuell oder vorübergehend zahlungsunfähigen Unternehmens gezeigt, wird die Fortdauer der einmal eingetretenen Zahlungseinstellung vermutet. Anderes gilt aber, wenn sich die Zahlungseinstellung nur bezogen auf eine einzige verhältnismäßig geringfügige Forderung zeigt.

3.

Für die Praxis bedeutet dies: Hat der Anfechtungsgegner zum Zeitpunkt der ersten angefochtenen Rechtshandlung Kenntnis von wiederholt verspäteten Zahlungen mit einem erheblichen Teil der Forderungen, Teilzahlungen auf größere Rückstände oder weiteren Umständen, wie etwa Vollstreckungsmaßnahmen über einen Zeitraum, der auch die zeitlichen Grenzen des § 130 Abs. 1 InsO sprengt, weiß er um die andauernde Unfähigkeit des Schuldners, die erkannte Liquiditätslücke nachhaltig und in absehbarer Zeit zu schließen. Dieser Anfechtungsgegner kennt die Erforderlichkeit eines Insolvenzverfahrens. Er muss dann darlegen und beweisen, dass die ihm zur Kenntnis gelangte Zahlungsunfähigkeit später wieder entfallen ist. In diesen Fällen besteht auch kein Anlass, dass der Anfechtungsgegner annehmen darf, in Kenntnis dieser Umstände Zahlungen behalten zu dürfen, da der Schuldner für ihn erkennbar nicht nur außerhalb der Grenzen des § 15a InsO, sondern auch außerhalb der des Drei-Monats-Zeitraumes operiert.

III.

Was sich als Erleichterung für Anfechtungsgegner präsentiert, wird nach genauerer Analyse die Abwehr von Anfechtungsansprüchen erschweren. Erfüllt der Insolvenzverwalter die ihn treffende und erhöhte Darlegungslast – was häufig bereits außergerichtlich gelingen wird – erscheint die Annahme, dass der Anfechtungsgegner den Benachteiligungsvorsatz wird entkräften können, unwahrscheinlich. Es ist schwer vorstellbar, dass dem Anfechtungsgegner der Gegenbeweis von der Kenntnis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes gelingen wird.

Die Anforderungen an den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz wurden so präzisiert, dass dieser zu verneinen ist, wenn der zahlungsunfähige Schuldner im Zeitpunkt der Rechtshandlung annehmen darf, dass er die Illiquidität nachhaltig beseitigt. In diesem Fall handelt der Schuldner bei Bezahlung eines Gläubigers nicht mit der wissentlichen Gleichgültigkeit, andere Gläubiger zu benachteiligen. Ist dem Anfechtungsgegner nicht nur punktuell ein Bündel an Indizien zur Kenntnis gelangt, ist dessen Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz zu bejahen, jedenfalls aber zu vermuten. Dabei hebt der Senat in der Entscheidung hervor, dass an der Rechtsprechung festzuhalten ist, wonach auch dann Zahlungseinstellung vorliegt, wenn der Schuldner tatsächlich nur zahlungsunwillig ist, aber sich die typischen Indizien einer Zahlungsunfähigkeit zeigen (BGH, Urteil vom 06.05.2021 – IX ZR 72/20; vom 12.10.2017 – IX ZR 50/15). Weder der Anfechtungsgegner noch das Tatgericht können dann argumentieren, dass sich das als Zahlungseinstellung äußernde Verhalten auch anders erklären lasse.

Ist also ein beharrlich die Zahlungseinstellung nach außen tragendes Zahlungsverhalten erkennbar, zwingt der Blick in die Vergangenheit – bei sonst gleichen Umständen – zum Schluss auf den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz. Für die Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Vorsatz des Schuldners hat sich – soweit es auf die gesetzliche Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 InsO ankommt – nichts Substanzielles geändert. Die Vermutung der Fortdauer setzt zukünftig voraus, dass die erkannten Umstände ein Gewicht erreicht hatten, dass über die punktuelle Unfähigkeit, eine relativ geringfügige Verbindlichkeit zu begleichen, hinaus geht.

  • Die Entscheidung hilft somit bei der Abwehr wenig substantiierter anfechtungsrechtlicher Rückgewähransprüche.
  • Mit den bekannt kurzen Anfechtungsschreiben und häufig oberflächlich ermittelten Sachverhalten dürfte die Durchsetzung von Rückgewähransprüchen zukünftig schwerer fallen.
  • Hat der Insolvenzverwalter den Sachverhalt hingegen sorgfältig ermittelt und auf dieser Grundlage eine zum Zeitpunkt der ersten Rechtshandlung bereits andauernde Zahlungsunfähigkeit dargelegt, ändert sich nichts.
  • Es ist davon auszugehen, dass der nun erhöhte Ermittlungsaufwand dazu führt, dass es dem Anfechtungsgegner (eines berechtigten Begehren) schwerer fallen wird, den Anspruch außergerichtlich zurückzuweisen oder im Falle einer streitigen Auseinandersetzung eine Klageabweisung zu erreichen.