Diese Frage stellt man sich weit häufiger, als man landläufig denkt. Besonders an sonnigen Wintertagen, wenn alles Puderzuckerweiß verschneit ist, begeistert sich die deutsche Hausfrau und Mutter für einen familiären Sonntagsspaziergang. Würde sie den alleine anstreben, so ließ man sie einfach ziehen. Vorausgesetzt, sie ist zum Abendbrot, deren Erstellung ihre Aufgabe ist, wieder zurück. Der Vater und Ehemann, ein eher häuslich orientierter Mensch, der die Natur nicht unnötig mit seiner Anwesenheit belästigen möchte. Die beiden Kinder, geschlechtlich genau abgewogen und eingeteilt in Mädchen und Jungen, haben gute Gründe, sich dem Wunsche der Mutter entgegenzustellen. Wegen des schlecht ausgebauten WLAN-Netzes, wofür Wald und Wiesen bekannt sind, sehen sie eine Teilnahme an einem harmonischen Familienausflug nicht nur skeptisch, nein sie opponieren entschieden dagegen, weil es sie abschneiden würde von der virtuellen Zivilisation.
So sieht es aus unter den Hausdächern und hinter den dicken gedämmten Wänden von Häusern, wo sich glückliche Familien verschanzen.
Doch Glück ist ein filigranes empfindliches Konstrukt, was in erster Linie aus einer Behauptung besteht. Eine Familie hat glücklich zu sein. Wenn schon nicht innen, dann wenigstens nach außen. Alleine schon wegen der Nachbarn. Und so baut sich jede Familie eine Fassade auf, die eine glückliche Familie suggerieren soll. Hin und wieder bröckelt zwar diese selbstgeschaffene Illusion, doch man widerspricht vehement neugierigen Nachfragen, wegen eines angeblichen Streits, vom Vorabend.
„Wir gestritten? Aber nein. Das war nur der Fernseher.“
„Ach ja? Was habt ihr denn geguckt?“, lässt die Nachbarin nicht locker und bringt die Mutter in arge Bedrängnis.
„Einen Film.“
„Was denn für einen Film?“
„Wo zwei sich gestritten haben.“
„Worüber haben die denn gestritten?“
„Wer von beiden die neugierige Nachbarin erwürgt.“
So oder so ähnlich oder völlig anders verlaufen solche Gespräche am Gartenzaun, an der Fleischtheke im Supermarkt oder während der Dauerwellenaufbereitung beim Frisör.
Einen häuslichen Krach einzugestehen, undenkbar. Die heile Familienwelt muss gewahrt bleiben. Sonst gerät man sofort in Verruf. In manchen Familien wird, ehe man zum Streit ansetzt, erst einmal das Fernsehprogramm durchforstet, wo es zu heftigen lautstarken kontroversen kommen könnte. Erst wenn das schuldige Programm gefunden ist, kann man dann ungehemmt streiten. Zumindest in dem Punkt ist man sich wenigstens einig. Natürlich gibt es auch Familien, die sind schon einen Schritt weiter. Die sprechen überhaupt nicht mehr miteinander.
Doch wenden wir uns nun wieder unserer Ausgangsmodellfamilie zu. Geben wir ihr noch rasch einen Namen, denn keine auch noch so zerstrittene Familie sollte namenlos bleiben. Nennen wir sie, typisch deutsch, Brodczansky. Rekapitulieren wir noch einmal die Ausgangssituation. Mutter Brodczansky möchte, anhand eines gemeinsamen Ausflugs in die waldreiche Natur, der gesamten Nachbarschaft ein Bild der Geschlossenheit vorspielen. Vater Brodczansky möchte biertrinkend den Fernseher nicht alleine lassen. Die Brodczansky-Kinder möchten sich weder mit ihren Eltern sehen lassen und im Umfeld ihres WLAN-Routers verbleiben.
Vier Individuen mit individuellen Interessen und einer gesunden Portion Dickköpfigkeit ausgestattet, treffen so, während eines semiprofessionellen Frühstücks, aufeinander. Bewusst karg gehalten, denn Mutter Brodczansky verfolgt damit einen ausgeklügelten, geradezu hinterhältigen Plan. Raffinesse, List und Tücke, Hauptmerkmale ihres mütterlichen Charakters.
Bereits in den frühen Morgenstunden hat sie gebacken, gebraten, geschnippelt und Diverses angerührt. Zwei Rucksäcke und einen Bastkorb mit feinsten Leckereien bestückt, die später zu einem fulminanten Picknick auf einer Waldlichtung aufgefahren werden sollen. Mit dieser ausgeklügelten Strategie zieht sie nun in den Kampf, um ihre Familie zu bewegen, sich zu bewegen. Doch Vater Brodczansky und auch die Früchtchen seiner Lenden sind nicht auf den Kopf, geschweige denn auf den Mund gefallen. Sie riechen sofort den Braten. Sowohl den im Rucksack, als auch den allzu offensichtlichen Versuch, ihnen gehörig den Sonntag zu vermiesen. Das geplante Attentat, in Familie zu machen, musste dringend vereitelt werden, so die Ansicht von Vater und dem Anhang, auch ohne sich vorher abzusprechen.
Noch bevor Mutter Brodczansky ihr diplomatisches Geschick zum Ausdruck bringen konnte, fuhr ihr der Ehemann bereits in die Parade, um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen, noch ehe die Segel überhaupt gehisst wurden. Gut verschanzt hinter seiner Sonntagszeitung, improvisiert er eine Empörung.
„Heute gibt es noch ein Gewitter, was sich zu einem Unwetter mit Sturmböen entwickeln kann.“, prophezeit er mit Düsternis in der Stimme.
Innerlich jubeln und klatschen die Kinder ausgelassen. Äußerlich legen sie traurige Mienen auf ihre blassen Gesichter, die die sonne nur aus dem Physikunterricht, als eine von vielen Planeten her kennen. Wie eine dunkle schwarze Wolke hing über dem Küchentisch das drohende Unheil eines gemeinsamen Ausflugs.
„Unsinn. Ich habe den Wetterbericht auch gelesen. Sonne satt, steht da.“, entgegnet die Mutter.
„Die Zeitung wurde heute Nacht bereits gedruckt. Die Meldung ist veraltet. Außerdem, wer glaubt schon, was in der Zeitung steht.“, zweifelt der väterliche Kopf hinter dem Käseblatt.
„Du offensichtlich.“, entgegnet die Mutter, mit dem Versuch ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
„Sonne heißt Sonnenbrand. Sonnenbrand bedeutet Hautkrebs.“, meldet sich der neunmalkluge Hauptschüler, der aus seiner zweijährigen Erfahrung der achten Klasse spricht.
Die Mutter, die sich in die Enge getrieben fühlt, erhebt sich und setzt zu einem Befreiungsschlag aus, indem sie vier Flaschen Sonnenschutzmilch vor jeden stellt. Lichtschutzfaktor 50, geeignet auch in Gletschergebieten, steht groß darauf.
Die Tochter, die sich bislang aus allem herausgehalten hat und nur auf ihr Smartphone starrte, meldet nun auch ihrerseits Bedenken an.
„Draußen, in der Wildnis gibt es jetzt Unmengen tödlicher Zecken.“
Vater und Bruder solidarisieren sich und nicken ihr beipflichtend zu.
„Es gab bereits Zeckentote!“, unterstützt der Vater seine besorgte Tochter, die nur die Vermeidung der Ausrottung ihrer Familie im Sinn hat.
„Daran habe ich selbstverständlich gedacht und eine Zeckenzange für jeden besorgt.“, triumphiert die Mutter.
„Man ist die gut.“, denken unisono die Ausflugsgegner, denen langsam die Argumente ausgehen.
Doch noch geben sie nicht auf, denn eine Kapitulation würde zugleich einen innerfamiliären Gesichtsverlust bedeuten. Der Vater sieht seine Stellung als natürliche Autoritätsperson und unangefochtenes Familienoberhaupt schwinden. Diese Degradierung kann und will er nicht hinnehmen. Eine Düpierung, vor den Augen der versammelten Kinder, würde unweigerlich zu einem Autoritätsverlust führen. Womöglich würden sie daraufhin verdiente Ohrfeigen nicht mehr akzeptieren und als Worstcase sich dagegen auflehnen. Seiner Meinung nach stärken Ohrfeigen nachhaltig den Charakter und fördern einen rosigen Teint. Die Durchblutung wird angeregt. Widerspenstige Widerstände werden so ausgemerzt und ein kindgerechtes Verhalten gefördert. Wenn das mal nicht schlagkräftige Argumente sind. Alle diese Gedanken treiben den Vater um, doch behält er sie vorsorglich für sich, denn seine Frau, die Mutter seiner Kinder, ist eine geborenen Pazifistin. Damals, vor der Heirat, kannte er sie noch als Maria Pazifistin. Erst mit dem „Ja“ vor dem Standesbeamten legte sie den Namen, aber nicht die gleichnamige Gesinnung ab. Deshalb gibt es Ohrfeigen nur, wenn Mutter beim Frauenturnen ist. Aus Rücksicht auf ihre Gefühle. Mütter können ja sehr empfindsam reagieren, wenn Väter ungefragt sich auf die Seite der Kinder schlagen.
Doch nun sah es so aus, als würde Mutter auf ganzer Linie siegen. Verzweifelt sah der Vater hilfesuchend hinter seiner Zeitung hervor, in Richtung seiner Kinder. Doch auch die waren mit ihren nichtvorhandenen Lateinkenntnissen am Ende. Aber er war noch nicht bereit, die weiße Fahne der Kapitulation zu schwenken, die Mutter ihm vorsorglich, in Form einer frisch gestärkten Stoffserviette, hingelegt hatte.
„Es gibt gute Gründe heute keinen Ausflug zu machen.“, setzte Vater an, brach jedoch ab, denn ihm fehlte es zwar nicht am guten Willen, diese Gründe auszuführen, nur mangelte es ihm an Ideen dazu.
„Nenne mir einen nachvollziehbaren und ich blase den Ausflug sofort ab.“, versprach die Mutter, wohlwissend, ihm würde nichts einfallen.
Minutenlanges peinliches Schweigen des männlichen Elternteils, schien ihr Erfolg zu bescheren. Gebannt starrte er in die Zeitung, als ob dort die Lösung zu finden sei.
Die beiden zu erziehenden Kinder sahen hypernervös auf ihren Erzeuger, hoffend auf weitere Intervention und die kraft seiner Fürsorgepflicht.
„Vater, entkräfte Mutters Argumente, pro unserer Gesundheit.“, flehte die Tochter.
Auch der Sohn, dem bereits die Klammer ging, setzte seine ganze Hoffnung auf ihn, denn auf Verständnis seiner Mutter wagte er nicht mehr, zu hoffen. Er befürchtete, wenn der Vater ihn nicht retten würde, könnte er, weil er dessen Gene ja in sich trug, später seine Kinder ähnlich leiden müssten, wie es ihm nun bevorstand.
„Na, fällt dir nichts ein um das Unausweichliche noch zu torpedieren?“, erhöhte nun die Mutter zusätzlich den Druck.
„Dräng mich nicht. Unter Druck kann ich nicht denken.“, forderte das Gesicht hinter der Zeitung.
Seelenruhig, den Sieg vor Augen, goss sich Mutter Kaffee nach.
Sofort griff Vater blitzschnell den Strohhalm auf, den Mutter unbeabsichtigt ihm hingehalten hat.
„Im Wald gibt es doch sicher Toiletten? Ich frage nur wegen deiner schwachen Blase. Dein Wohl liegt mir sehr am Herzen.“
„Keine Sorge, ich gehe vorher und im Wald halte ich aus, bis wir wieder zuhause sind.“
Man konnte deutlich das Verpuffen eines schwachen Arguments wahrnehmen. Die beiden heranwachsenden Kinder hielten sich krampfhaft an den Händen. Schweigend und den Atem anhaltend, stießen sie Gebete gen Himmel. Auch der Blick aus dem Küchenfenster versprach nichts Gutes. Sonne satt! Kein Monsun, keine Springflut, nicht einmal ein kleines Wölkchen am Firmament, was bereit war sich zu entleeren. Auch ein Schneesturm würden sie dankbar annehmen, selbst jetzt im August. Die traurige Erkenntnis des Küchenfensterblicks, der Hochsommer hatte sie alle in ihrer Gewalt.
Plötzlich ein Schrei! Die ganze Zeitung erzitterte. Dahinter der Mann, der für die verbale Detonation verantwortlich war.
„Unglaublich. Empörend. Skandalös.“, rief er und legte die Zeitung zur Seite.
Alle sahen erstaunt den Vater an.
„Du hast ja einen Bart.“, rief das Mädchen überrascht, denn schon lange hatte sie ihn nicht mehr ohne Zeitung vor dem Gesicht gesehen.
„Warum schreist du so? Sollen denn die Nachbarn denken, wir hätten Streit?“, rief die Mutter besorgt um das Ansehen ihrer glücklichen Familie.
„Hast Du die Zeitung gelesen?“
Fordernd sah der Vater seine Frau und die Mutter seiner Kinder an.
„Nur den Wetterbericht.“, antwortete sie.
„Typisch. Unwichtiges liest du. Aber das Bedeutsame, dass Bedrohliche für uns alle, das ignorierst du. Was bist du nur für eine Mutter.“
Ein drastischer Vorwurf, den die Mutter so nicht stehenlassen wollte.
„Ich bin eine schlechte Zeitungsauswerterin, aber eine gute Mutter.“, behauptete sie dreist.
Jedoch stand sie mit dieser Einzelmeinung alleine auf weiter Flur. Entsprechend erhielt sie auch keinen familiären Rückhalt.
Ganz im Gegenteil. Der Vater witterte Morgenluft und packte seine soeben recherchierte Bazooka hervor.
„Hier steht es eindeutig. In Deutschland haben die Hauseinbrüche um 7% zugenommen. Waldbrände um 9% und Morde innerhalb der Familie um 0,4%. Wenn das keine alarmierenden Zahlen sind.“
Die Mutter erschrak zutiefst. Die Kinder bangten um ihre Computer, Spielekonsolen und Alexa. Der Vater, auf dem Höhepunkt seines Triumphs angelangt, stach nun das Messer noch tiefer in die Wunde, die er bewusst seiner Frau zugefügt hatte, im Sinne des Familienfriedens.
„Und du willst uns in ein flammendes Inferno verschleppen, während unser Haus ausgeraubt wird, du Rabenmutter.
Die Mutter reagierte auf die Kritik angefasst, etwas was ihr Mann schon länger nicht mehr getan hatte.
„Dann bleiben wir eben hier, aus Sicherheitsgründen.“, schluchzte sie tränenreich.
Der Vater verzog keine Miene, obgleich er innerlich eine Polonaise aufführte. Die Kinder sahen ungläubig die Mutter an. Hatte sie tatsächlich klein bei gegeben? Wer war diese fremde Frau, deren Dickschädel in der Stadt weltberühmt war? War womöglich eine außerirdische Macht in sie eingedrungen und hat ihre körperliche Hülle übernommen? Was auch immer zutreffend war, dieses seltsame Wesen konnte unmöglich ihre Mutter sein. Nun sah die ganze Familie auf die Frau, deren bedingungslose Kapitulation bevorstand und vollumfänglich erwartet wurde. Doch es kam ganz anders, als man erwarten konnte. Die Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn es dauerte noch eine Weile, ehe sich Mutter ausgeweint hatte. Dann zog sie undamenhaft die Nase hoch, beziehungsweise dessen Innenleben, räusperte sich mehrfach dramatisch, ehe sie zu dem ansetzte, was erwartet wurde.
„Wir bleiben zuhause!“, flüsterte die Familienunterlegene, froh, noch nicht ausgestoßen zu sein.
Grenzenloser Jubel, war die adäquate Reaktion der alliierten Verbündeten.
Doch dann trat etwas ein, was alles wieder auf den Kopf stellte. Die Mutter, eine gedemütigte Frau, griff nun zu einer Geheimwaffe, die das bisherige Kriegsgeschehen relativieren und umkehren sollte.
„Dann rufe ich jetzt meine Mutter ein und lade sie zum Essen.“, verkündete sie ganz nebenbei, als sei es eine Petitesse.
Doch diese Ankündigung erzeugte Panik, Furcht und eine plötzliche Aufbruchstimmung. Niemand hatte mit dieser ernsthaften Drohung gerechnet. Flugs hatten sich die nun Unterlegenen angezogen, die Rucksäcke auf ihre Rücken gepackt und standen bereits ungeduldig in der Diele. Die Vorfreude auf einen Familientag im Wald war ihnen deutlich anzusehen.
Als geschlossener Familienverbund verließen sie die Wohnung, ein fröhliches Liedchen auf den Lippen, wozu Mutter sie animierte, damit auch keinem aus der Nachbarschaft entgehen sollte, welch eine glückliche Familie sich gerade aufmacht, den Sonntag gemeinsam in Gottes freier Natur zu verbringen. An Türen und Fenstern standen all diejenigen, denen es nicht vergönnt war, sich als glückliche Familie zu zeigen.
Mutter trottete zufrieden voran. Mürrisch, aber ein Volkslied nach dem anderen mitsingend, folgten ihr die gemachten Kriegsgefangenen.
Bereit zwei Stunden später hatten sie die Betonwüste der Stadt hinter sich gelassen und vor ihnen stand der Wald in voller Größe da. Bedrohlich und Dunkel, aber wenigstens brannte er nicht. Noch nicht. Aber was war schon ein Flächenbrand gegen den Besuch der Groß- und Schwiegermutter in Personalunion. Die Mutter trieb ihre störrische Bande an und zaghaft folgten sie ihr.
„Bis zur Lichtung ist es nicht mehr weit.“, verkündete die Reiseleiterin.
Gut vorbereitet in Flora und Fauna, erklärte Mutter jeden Halm, jeden Strauch, jeden Baum. Und das klang in etwa so: „Schaut mal, eine Eiche. Und da, noch eine Eiche. Und was ist das für ein Baum? Na, wer weiß es? Das ist auch eine Eiche.“
Die mütterliche Begeisterung kannte keine Grenzen. Besonders Eichen schienen ihr ans Herz gewachsen zu sein.
„Und was hängt an Eichen?“, kontrollierte die Mutter das eben Erlernte.
„Blätter.“, antwortete der Vater, auf den der Fingerzeig gerichtet war.
„Und was noch?“, bohrte seine Frau nach.
„Ich weiß es. Aber ich komme gerade nicht drauf.“
Die Kinder sahen zu Boden. Zum Teil wegen der Peinlichkeit so einen ungebildeten Vater zu haben. Zum Teil aus Angst, jetzt selbst rangenommen zu werden.
Und ihre Befürchtungen waren nicht unbegründet.
Der Zeigefinger an dem ausgestreckten Arm traf die Tochter.
„Na was hängt da hinten an dem Baum?“
Das Mädchen, auf dem nun die ganze Verantwortung liegt, die ehre der Familie zu retten, blickt nervös in die angezeigte Richtung. Hochkonzentriert, die Aufgabe fest in den Blick nehmend, erkennt sie, was dort hängt und ruft dann begeistert, wie eine, von ihr zu vor verhasste Streberin: „Da hängt der alte Müller-Gerdes!“
Diese Antwort überraschte nun alle. Sie richteten nun alle ihre Blickrichtung und sie waren erstaunt, wie treffend doch die Antwort war, die ihre ansonsten wenig biologisch bewanderte Tochter und Schwester, gegeben hatte.
In der Tat hing dort, neben Blättern und den eigentlich gesuchten Eicheln, der alte Müller-Gerdes. Und als wäre dies nicht schon ungewöhnlich genug, saß auf seinem Kopf, der in einer Schlinge hing, ein Specht, der sich fleißig abmühte, seiner Familie ein neues zuhause einzurichten.
Des Lebens überdrüssig, hatte sich der alte Müller-Gerdes ein ruhiges Plätzchen gesucht, nicht ahnend, das die Familie Brodczansky ausgerechnet heute sich zu einem Ausflug aufmachen würde. Sonst hätte er sicher, der als Menschenfreund bekannte Kioskbesitzer, einen Warnhinweis angebracht oder wenigstens ein Schild aufgestellt mit der Warnung vor einem herumhängenden Lebensmüden. Da er jedoch davon ausging, wie zu Vermuten ist, ein launiges einsames Plätzchen gefunden zu haben, ließ er sich entspannt hängen. Sicher auch wegen des schönen Panoramaausblicks.
Die gesamte Familie sah sich das seltsam anmutende Mobile an, was zärtlich im Wind sich wiegte. Es strömte eine meditative Ruhe aus, die sich auf die ganze Familie übertrug.
Dann war es der Vater, der als Erster die einzig wahre Frage stellte, die man angesichts des herabhängenden Müller-Gerdes wohl stellen konnte.
„Wie ist der denn da raufgekommen?“
„Mit einer Leiter. Eine, mit der ich auch meine Gardinen aufhänge.“, beantwortete die Mutter die, für sie unsinnige Frage und breitete bereits die Decke für das Picknick aus.
„Und wo ist die Leiter?“
„Im Keller, gleich neben der Waschmaschine.“, erklärte sie ihrem Mann.
„Nicht unsere. Die, mit der er da raufgekommen ist.“
„Was geht uns das an. Schaut mal, Hähnchenschenkel.“
Die Mutter war begeistert von den Köstlichkeiten, die sie gerade aus Tupperdosen, Alufolie und warmhaltenden Thermogefäßen befreite und dekorativ auf Pappteller auftrug.
„Warum hat er denn seine Zunge raushängen?“, stellte die Tochter eine berechtigte Frage.
„Wahrscheinlich ist ihm warm. Bei Hunden ist das doch auch so.“, erklärte der Vater freudig, weil sich die Tochter für ihre Umwelt plötzlich zu interessieren schien.
Der Sohn hatte sich bereits einen Hähnchenschenkel gesichert und schmatzend kam er noch einmal auf die vermisste Leiter zu sprechen, während ihm das Fett am Kinn herunterlief.
„Vielleicht hatte er ja gar keine Leiter dabei. Ich würde ja einen guten Freund bitten eine Räuberleiter zu bilden, an der er sich dann hochhangeln kann. Der Rest war dann ganz einfach. Der Strick an einen Ast geknotet, sich die Schlinge umlegen und sich fallenlassen. Dann hat man das gewünschte Ergebnis.“
Mit dieser von ihm entwickelten Kausalkette traf er auf Zustimmung der anderen, die ein solches Szenario für möglich fanden.
„Dann lasst uns nun, da wir wissen wie es wahr, mit dem Picknick beginnen.“
Man setzte sich auf die vorbereitete Decke und genoss die Leckereien. Doch nun war es der Vater, der noch nicht restlos zufrieden war.
„Der alte Müller-Gerdes hatte, so mürrisch er immer daherkam, keine Freunde, so weit ich weiß.“
„Dann hat er vielleicht jemanden vom Studentendienst angefordert oder einen Taxifahrer. Jedenfalls hat er es irgendwie da hoch geschafft und hängt da, glücklich und zufrieden. Und jetzt wird gegessen.“
Damit erklärte die Mutter das Thema für beendet.
„Schaut mal“, rief plötzlich die Tochter und zeigte auf den baumelnden Leblosen.
„Boah, ja cool!“, rief ihr Bruder, als er das sah, was sie meinte mit ihrem aufgeregten „Schaut mal“.
Nun waren auch die Eltern von Neugierde geplagt und sahen nach oben, zu dem sich selbst erhängten.
„Wie niedlich.“, entfuhr es der Mutter, unter stetigem kauen an einem verkohlten Frikadellenbällchen, was eine Herausforderung für Dritte Zähne darstellte.
Selbst dem Vater, sonst eher ein hartgesottener Hund, ging das Herz auf bei dem Anblick. Zum ersten Mal konnte sich die ganze Familie gemeinsam für etwas begeistern. Dass, was ihre Aufmerksamkeit erregte, war die plötzliche Beliebtheit des alten Müller-Gerdes. Der emsige kleine Specht hatte endlich die Schädeldecke zertrümmert und stieß mit seinem fleißigen Schnabel, mitten ins Hirninnere vor, um eine komfortable Nisthöhle für seinen Nachwuchs, nebst Gattin, zu errichten. Daneben bevölkerten inzwischen viele Insektenarten den alten Müller-Gerdes und freuten sich des Lebens. Eine kleine Eidechse schaute frech aus dem Hemdenkragen und genoss die Sonnenstrahlen. Bienen, Bremsen und eine übergewichtige Hummel, fanden in seinen Körperöffnungen etwas Schatten. Auf seinen Schuhen saßen jeweils zwei kleine Amseln, die noch vor dem angedachten Liebesspiel etwas Distanz wahrten. Ein kleines Eichhörnchen hüpfte ungeduldig auf dem leblosen Spielplatz, den die Leiche ihr bot. Besonders putzig war, wie sich ein kleiner Frosch im linken Ohr sich übergab und hunderte kleiner Kaulquappen ausspie. Es war ein einziges Kommen und Gehen. So frequentiert war der alte Müller-Gerdes früher nie. Jetzt stand er im Mittelpunkt des Geschehens. Aus dem mürrischen alten wurde nun ein beliebter Ausflugsort mit angegliedertem Insektenhotel. Und wenn es erst einmal regnen wird, dann können sich Pilze und Moose ansiedeln. Spätestens dann wird er mit der Natur eins.
Langsam ging der Tag zur Neige und Familie Brodczansky packte zusammen. Die Pappteller wurden rasch in der Jackentasche von Müller-Gerdes entsorgt. Und dann ging ein spannender und lehrreicher Ausflug zu ende. Sie versprachen sich gegenseitig, am nächsten Sonntag wieder herzukommen.
„Das war viel besser als der Biounterricht in der Schule.“, meinte ganz beseelt die Tochter.
Selbst ihr Bruder pflichtete ihr bei, den besonders die Maden fasziniert hatten.
Selbst der Vater hatte seinen geliebten Fernseher nicht vermisst und hielt sogar Händchen mit seiner Frau.
Aber die Fröhlichste von allen war Mutter Brodczansky. Diesmal kehrten sie heim in ihre Straße, als eine vereinte, reale und glückliche Familie. Manchmal braucht es eben nur ein kleines unbedeutendes Erlebnis, was eine Familie zusammenschweißen kann.
Nachtrag:
Zwei unsensible ledige Waldarbeiter entfernten Montags den alten Müller-Gerdes, weil es ihnen einfach an Verständnis und Respekt für seine Entscheidung mangelte.
Dieser Frevel an dem unnötigen rigorosen Eingreifen in die Natur, hatte die Scheidung der Familie Brodczansky zur Folge. Die beiden Kinder gerieten daraufhin suboptimal und ohne Perspektive.
Glück ist eben eine filigrane Konstruktion menschlichen Miteinanders, welches nur kurz währt.

Dir gefällt, was Rolf Bidinger schreibt?

Dann unterstütze Rolf Bidinger jetzt direkt: