Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Rechtspopulistisches Comeback auf YouTube?

"Grüne lassen uns fürs Klima hungern!", "Energiekrise: Darum sollen Deutsche jetzt im Müll wühlen", oder "Faeser hetzt ARD gegen die eigenen Bürger auf!" So lauten einige aktuelle Videotitel vom neuen YouTube-Kanal des ehemaligen "Bild"-Chefredakteurs Julian Reichelt: "Achtung, Reichelt!". Nach seinem Rausschmiss bei der "Bild"-Zeitung hatte Reichelt angekündigt, mit einer neuen Plattform eine Marktlücke in der deutschen Medienlandschaft schließen zu wollen. Tatsächlich haben mittlerweile 119.000 Menschen den Kanal abonniert, seine Videos wurden insgesamt bereits mehr als fünf Millionen Mal aufgerufen. Kann Reichelt also mit seinem im Juli gestarteten Kanal die für sich auserkorene Lücke zwischen boulevardistischen oder konservativen Medien und den sogenannten Alternativen Medien schließen und erfolgreich bedienen? [...] Wie Reichelt auf YouTube schreibt, will er "zu einer der klarsten und unüberhörbarsten Stimmen dieses Landes werden - zur Stimme der Mehrheit." So heißt es in der Kanalinfo: "Wir sind der schärfste Widersacher von Spin, erdrückenden Narrativen, Ideologien, Bigotterie und Scheinheiligkeit in der Politik. Wir wollen furchtlos und respektlos über das sprechen, was in unserem Land passiert." [...] Im verschwörungsideologischen Milieu kommt Reichelts YouTube-Kanal gut an. Seine Videos werden von reichweitenstarken Telegram-Accounts aus der Szene geteilt, wie etwa den Kanälen von Eva Herman, Bodo Schiffmann oder Oliver Janich, der kürzlich auf den Philippinen festgenommen wurde. [...] Von der Aufmachung als auch inhaltlich weisen die Sendungen von Reichelts YouTube-Kanal starke Parallelen zu der Show des Fox-News-Moderators Tucker Carlson auf. (Carla Reveland/Pascal Siggelkow, Tagesschau)

Kann irgendjemand überrascht davon sein, welchen Weg Reichelt einschlägt und in welcher Nachbarschaft er dabei herumsitzt? Kaum etwas dürfte vorhersagbarer gewesen sein als das. Auch die Inszenierung als Opfer gehört da natürlich mit dazu. Und während 119.000 Abos sicherlich nicht zu verachten ist, ist das glücklicherweise weit weg von der kritischen Masse, die er benötigen würde, um aus dem Milieu auszubrechen. Die Mitte hält in Deutschland, noch. Aber das ist, fürchte ich, genauso wie der Aufstieg der AfD nur eine Frage der Zeit. Noch haben wir die genau richtige Mischung aus Geld, Skrupellosigkeit und Charisma noch nicht beisammen. Reichelt eignet sich nicht wirklich als Galionsfigur eines neuen rechtsradikalen TV, das den Konsens der Mitte im deutschen Fernsehen bricht. Ich fürchte den Tag, an dem es soweit sein wird.

2) Im Gewirr der Klimapolitik

Am Klimawandel ist der Mensch schuld. Das schlechte Gewissen plagt viele, aber was kann man tun? Das Buch „Klima muss sich lohnen“ des Mannheimer Ökonomen Achim Wambach ist ein Plädoyer für mehr Klimaschutz, aber vor allem für mehr ökonomische Vernunft in dieser Angelegenheit. [...] In seinem Buch analysiert Wambach, welche Maßnahmen wirken und welche nicht. Wenig hält er von der bürokratischen EU-Taxonomie, auch das Beziehen von Ökostrom und eine Pflicht zum Bau von Solardächern helfe wenig. Eine intelligente Straßenmaut, der Verzicht auf Flüge ins außereuropäische Ausland, der Bau von Radschnellwegen, ein geringerer Fleischkonsum und die Ausweitung des Emissionshandels dagegen helfe viel mehr. CO2 müsse genau dort eingespart werden, wo die Kosten der Einsparung am niedrigsten seien. [...] Anders als viele, die den Kapitalismus für die Verschmutzung verantwortlich machen, argumentiert Wambach genau umgekehrt: Mit wettbewerblichen Märkten sei im Klimaschutz schon viel erreicht worden: „Im Vergleich zu 1990 sind die Emissionen in Europa bis 2019 um 24 Prozent gesunken, während die Wirtschaft um gut 60 Prozent gewachsen ist. (Tillmann Neuscheler, FAZ)

Grundsätzlich ist das eine gute Perspektive, aber ich habe ein zentrales Problem damit. Oder vielmehr: eine Ergänzung. Denn natürlich ist es super, wenn wir ökonomische Effizienz im Klimaschutz haben. Aber wir sind über den Punkt weit hinaus, an dem das irgendeine Priorität sein kann. Die Forderung, den Klimaschutz ökonomisch effizienz zu gestalten, gehört gefühlt in die 1990er Jahre, als wir noch Zeit hatten. Jetzt, 30 Jahre später, muss Effektivität, nicht Effizienz, der leutende Maßstab sein. Ich habe das in meinem Plädyoer für mehr Realismus im Klimaschutz bereits beschrieben. Wir brauchen einfach ALLE Maßnahmen. Überall, so viel wie möglich. Die Zeit, in der wir den Luxus hatten, einige Sektoren ausnehmen zu können und unsere Anstrengungen auf einige ausgewählte, möglichst angenehme Bereiche zu konzentrieren, ist vorbei.

3) Belastende Entlastung

Die Frage, an deren Beantwortung keine Regierung vorbeikommt, lautet: Wer kann sich das leisten? Die Ampel-Koalition ist momentan mit der Tatsache konfrontiert, dass sie mehrere große Probleme gleichzeitig lösen muss: Sie muss erhebliche finanzielle Anstrengungen für die äußere Sicherheit unternehmen (und das heißt auch, die Ukraine mit Waffen und Geld unterstützen); sie muss gewaltige Finanzmittel für die Anpassung an den Klimawandel bereitstellen (also für unsere tägliche Sicherheit); sie muss die ökologische Transformation der Wirtschaft anstoßen und mithilfe der Unternehmen vorantreiben; sie muss verhindern, dass die finanzielle Klemme von etwa einem Viertel der Gesellschaft nicht zu einer existentiellen Not anwächst; und sie muss eine Rezession verhindern und gleichzeitig die Schuldenbremse einhalten. Nicht jedes dieser Probleme ist neu und wäre jeweils wahrscheinlich auch nicht zu einem riesigen Problem angeschwollen, wenn die vergangenen 16 Jahre politisch nicht solch eine sträflich verschluderte Zeit gewesen wären. [...] In diesen Zweikampf eingemischt haben sich nun Finanzminister Christian Lindner und Kanzler Olaf Scholz selbst. Es gibt da eine Gemeinsamkeit zwischen diesen Regierungspartnern: Beide wollen retten, was nicht zu retten ist: unseren bisherigen Wohlstand. Der Kanzler selbst gibt da die Richtung mit einer von ihm immer wieder gern verwendeten Phrase vor: dass er der Kanzler aller Bürgerinnen und Bürger sei. Ja, was denn sonst? Aber zunächst einmal ist Scholz der Kanzler dieses Landes, dieses Staates, dieses Gemeinwesens – und das Wohlergehen dieses Landes muss nicht bedeuten, dass jedem ein Geschenk gemacht wird. (Bernd Rheinberg, Salonkolumnisten)

Ich hoffe, dass Rheinberg falsch liegt, und fürchte, dass er nicht falsch liegt. Die jetztige Gaskrise und die enormen Kosten, die sie verursacht - Kosten, die der Staat nicht übernehmen und voll abfedern KANN - wird wahrscheinlich nur das erste Mal sein, das wir solche Schocks erleben. Wie Rheinberg in jedem Fall völlig korrekt beschreibt, wurden die letzten 16 Jahre völlig vergeudet. Ich würde sogar noch viel härter formulieren: in den letzten 16 Jahren wurde aktiv verhindert, dass etwas passiert.

Deswegen sehe ich diese Belastungen auch aus dem Blickwinkel einer gewissen karmatischen Gerechtigkeit. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung, mich eingeschlossen, stand dieser Politik mit einer Mischung aus unfreundlichem oder freundlichen Desinteresse bis hin zu aktiver Unterstützung gegenüber. Wir bezahlen jetzt den Preis für unsere demokratischen Entscheidungen. So sieht es aus, wenn der Demos sich irrt.

4) Bundesrechnungshof sieht in der 630 Millionen Euro teuren Nationalen Bildungsplattform eine „drohende Förderruine“

Scharf geht der Bundesrechnungshof dabei mit der Rolle des Bundesbildungsministeriums ins Gericht: „Das BMBF hat ohne eigene Zuständigkeit versucht, strukturbildend und übergreifend die Digitalisierung an den Schulen zu fördern. Es hat dabei versäumt, mit den Ländern den Bedarf und die gemeinsamen Voraussetzungen für übergreifende IT-Infrastrukturen zu klären. Hierdurch ist es schon bei der Vorbereitung des ‚DigitalPakts Schule‘ nicht gelungen, technische Synergien, z. B. über gemeinsame Cloud Strukturen, zu realisieren. Da alle Länder im Rahmen ihrer Möglichkeit bemüht sind, ihren Aufgaben gerecht zu werden, geht der Bundesrechnungshof davon aus, dass sich keines der BMBF eigenen Projekte durchsetzen wird.“ [...] In der Kritik steht dabei vor allem die „Nationale Bildungsplattform“, eine Weiterentwicklung der „Bundesschulcloud“, die das Bundesbildungsministerium vom Hasso-Plattner-Institut, hinter der die Hasso-Plattner-Foundation des SAP-Gründers steckt, entwickeln ließ – ein Flop aus Sicht des Bundesrechnungshofs: „Die vom BMBF angebotene ‚Bundes‘-Schulcloud nahmen die Länder mehrheitlich nicht an.“ (News4Teachers)

Das ist alles so ein unendlicher Clusterfuck. Die vorsintflutlichen Strukturen des Bildungsförderalismus auf der einen Seite und die mindestens genauso vorsintflutlichen Struturen der Bildungsbürokratien und entsprechenden Verantwortlichen andererseits produzieren Murks am laufenden Band, gegen den die Gasumlage geradezu als Musterbeispiel von good governance daherkommt. Diese fixe deutsche Idee von der Absolutsetzung einer maximalistischen Interpretation von "Datenschutz" verhindert den flächendeckenden Einsatz absolut geeigneter, getesteter und weithin genutzter Tools wie Microsoft Teams, die nebenbei auch den Vorteil eines verlässlichen ständigen Supports haben. Stattdessen produziert jedes Bundesland seinen eigenen Dreck, der mehr schlecht als recht funktioniert, und dazu mischt auch noch der Bund ein bisschen mit und verbrennt Fördermillionen im Dutzend billiger. Das ist im Endeffekt die Bildungs-Version vom BAAINBw.

5) Germany needs its very own Marshall Plan

Internationally, German austerity risks worsening trade imbalances and straining transatlantic unity. Tensions between the west and China — a key export market for German products — had already put the brakes on Germany’s export-led economy. China’s push for self-sufficiency alongside global supply chain fragmentation will further challenge Germany’s business model. That’s why Germany must embrace the fact that trade with the EU is seven times larger than with China, and recognise that it needs to invest at home and in its key trading partners first. The EU is the world’s largest and most open trading bloc. But the full benefit of the union will remain unexploited unless Germany steps up to a leadership role. Instead of austerity, to actively offset the damage to supply and mitigate the impact of inflation from the war in Ukraine, German policymakers should engineer a positive shock. Instead, Germany could invest in public infrastructure, on a scale reminiscent of the Marshall Plan. In particular, investment in energy infrastructure, like the Next Generation EU plan that Germany supported during the pandemic, would enhance the country’s security, accelerate its green transition and generate positive innovation spillovers. More fiscal spending across Europe could also provide further impetus for common eurobonds. German public opinion would be less reluctant to embrace such an initiative because some of the funds would be spent at home. It would also be a step towards fiscal union in the euro area. [...] Self-interest favours investment as well. Given Germany’s large economy, higher spending at home would boost the entire EU. In turn, the country’s deep integration with the EU economy would see those economic benefits flow back to Germany itself. (Katharine Neiss, Financial Times)

Ich bin ehrlich gesagt kein Fan von dieser inflationären Verwendung des Marshall-Plan-Vergleichs; gefühlt hat sich das totgelaufen. Aber inhaltlich bin ich voll bei Neiss. Die EU ist der für uns entscheidende Markt, und mit dem Durchschlagen der Klimakrise umso mehr, weil damit auch das Zeitalter eines billigen Transports um den Globus dank externalisierter Kosten enden wird. Dass wir uns wirtschaftspolitisch ständig einen Klotz ans Bein binden, nur um die moralische Überlegenheit des ständig erhobenen Zeigefingers bezüglich der Außenhandelsbilanz und Maastrichtkriterien zu wahren, ist einfach bescheuert.

6) Der Sender mit der höchsten Einfaltsquote

Machen wir es kurz: Das Debakel um den rbb und seine geschasste Intendantin Patricia Schlesinger ist ein GAU in der Geschichte von ARD und ZDF. Dabei geht es nicht nur um Dienstlimousinen, Beraterverträge und Massagesitze. Es geht um die Frage, inwieweit sich das gebührenfinanzierte Fernsehen von seinen ursprünglichen Werten und Ideen abgekoppelt hat. Anspruchsvolle Programminhalte hat man in die Spartenkanäle wie Arte oder 3sat abgeschoben. Dafür fließt viel Geld in den Einkauf von Sportrechten und grenzdebiles Unterhaltungs-Trallala. Ansonsten werden alte Filme abgespult, die rechtemäßig meist abgegolten sind. [...] Vor etlichen Jahren hielt Apple-Chef Steve Jobs bei einer internationalen Konferenz der Fernseh-Gewaltigen eine Keynote-Rede: „Ich sehe tote Menschen“, begrüßte er die leicht irritierten Anwesenden – in Anlehnung an den Film „The Sixth Sense“. Ganz so schlimm ist es nicht gekommen. Die meisten haben Steve Jobs überlebt. Aber der Count Down läuft – vor allem in Deutschland. ARD und ZDF haben nur dann eine Chance, wenn sie den Programmauftrag ernst nehmen und mit guten Sendungen punkten und nicht mit schlechter Presse. (Karl-Hermann Leukert, Salonkolumnisten)

Gleich zu Beginn möchte ich deutlich machen, dass ich die Existenz der Öffentlich-Rechtlichen zur Verhinderung eines Senders wie FOX News (siehe auch Fundstück 1) für essentiell halte. Kaum etwas hilft so sehr bei der Reproduktion des deutschen Mitte-Konsens wie die Tagesschau. Auch das Podcast- und Radioprogramm der Öffentlich-Rechtlichen ist über jeden Zweifel erhaben. Aber damit bin ich auch am Ende des Positiven.

Denn tatsächlich ist das Programm dieser Sender überwiegend scheiße. Claudius Seidl sieht in der FAZ die "wahre Verschwendung im Programm". Die im obigen Artikel genannten ständigen Wiederholungen sind ja nur das eine. Der qualitativ bestenfalls durchschnittliche Kram, den die Sender selbst produzieren - von den furchtbaren Polittalkshows zu Rosamunde Pilcher - ist unglaublich teuer, vor allem wenn man bedenkt, was man dafür bekommt.

Übrigens, als ein Nebenfundstück: Beim NDR lebt man in panischer Furcht vor der CDU. Vermutlich dürfte das beim WDR und der SPD zumindest zu deren Hochzeiten ähnlich ausgesehen haben. Aber die Kontrolle durch Parteiinstitutionen ist auch bestenfalls mittelprächtig. Ich sehe sie als sehr zweischneidiges Schwert: der Parteiproporz hilft zum einen, den Mitte-Konsens aufrechtzuerhalten, aber auf der anderen Seite können die Parteien ungebührlichen Einfluss nehmen. Einen guten Ausweg aus diesem Dilemma habe ich nicht.

7) Die Worst-Case-Szenarien der Militärs, die von Ampel-Politikern ausgeblendet werden

Die entscheidende Frage für Regierung und Parlament müsste also eigentlich lauten: Wie lässt sich die Produktion der Rüstungsgüter beschleunigen? Eine Steigerung der in den vergangenen Jahrzehnten reduzierten Kapazitäten erforderte Investitionen in Werkhallen, genügend Fachpersonal, Rohstoffe wie Panzerstahl und Chips. Doch die Lieferketten sind gestört, was jeder weiß, der nur ein Auto bestellen will. Und Rüstungsgüter sind um einiges komplexer. Nun fordern auch die Abgeordneten der Ampel, die Leistungsfähigkeit der Verteidigungsindustrie „signifikant zu steigern“ und zu diesem Zweck einen „nationalen Rüstungsgipfel“ einzuberufen. Letztlich ist das der Ruf nach einer Kriegswirtschaft. Das zuständige Wirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) aber teilte dazu mit, es gebe „in der Richtung derzeit keine Planungen“. Solange das so bleibt, werden Rufe nach weiteren Waffen aus den eigenen Beständen in der Armee als unredliches politisches Schauspiel wahrgenommen. „Wir sollen das letzte Unterhemd geben“, so sagt es ein Militär, „und darauf vertrauen, irgendwann eine Decke zu bekommen. So war es immer seit 1990. Aber es ist nie eine gekommen.“ (Thorsten Jungholt, Welt)

Wir sehen hier dieselbe Dynamik wie bei der Klimakrise: man müsste eigentlich richtig in die Vollen greifen, aber man zögert und hofft, die Angelegenheit werde sich irgendwie mit den bestehenden Mitteln, Institutionen und Prozessen erledigen lassen. Ein bisschen hier, ein bisschen da, vielleicht reicht es ja und/oder jemand anderes übernimmt die eigentliche Arbeit. Und genau wie bei der Klimakrise wird das nicht ausreichen.

Der Artikel eignet sich übrigens auch gut für eine kleine Metaanalyse. Es ist ja hinreichend bekannt, dass die Autor*innen eigentlich nie die Überschriften schreiben, sondern dass das irgendwelche deutlich weiter unten in der Verlagshierarchie angesiedelten Hilfskräfte machen. Und oft sind die Überschriften auf click bait angelegt und irreführend. So auch hier: es sind ja nicht "die" Ampel-Politiker*innen, denn die Überschrift erweckt den Eindruck, die ganze Koalition blende aus. Dabei geht es nur um einige nicht einmal in der ersten oder gar zweiten Reihe stehenden Politiker*innen. Solche Sachen sind einfach ärgerlich, weil viele Leute (ich auch oft genug, Gruß an Wächter!) nur die Überschrift lesen.

8) Anywhere but here

When Alice Hughes downloaded a preprint from the server Research Square in September 2021, she could hardly believe her eyes. The study described a massive effort to survey bat viruses in China, in search of clues to the origins of the COVID-19 pandemic. A team of 21 researchers from the country’s leading academic institutions had trapped more than 17,000 bats, from the subtropical south to the frigid northeast, and tested them for relatives of SARS-CoV-2. The number they found: zero. [...] But the paper meshed with a growing political reality in China. From the start of the pandemic, the Chinese government—like many foreign researchers—has vigorously rejected the idea that SARS-CoV-2 somehow originated in the Wuhan Institute of Virology (WIV) and escaped. But over the past 2 years, it has also started to push back against what many regard as the only plausible alternative scenario: The pandemic started in China with a virus that naturally jumped from bats to an “intermediate” species and then to humans—most likely at the Huanan Seafood Market in Wuhan. Beijing was open to the idea at first. But today it points to myriad ways SARS-CoV-2 could have arrived in Wuhan from abroad, borne by contaminated frozen food or infected foreigners—perhaps at the Military World Games in Wuhan, in October 2019—or released accidentally by a U.S. military lab located more than 12,000 kilometers from Wuhan. Its goal is to avoid being blamed for the pandemic in any way, says Filippa Lentzos, a sociologist at King’s College London who studies biological threats and health security. “China just doesn’t want to look bad,” she says. “They need to maintain an image of control and competence. And that is what goes through everything they do.” (John Cohen, Science)

Es ist wirklich völlig lächerlich, wie China hier Propaganda betreibt. Aber leider ist es relativ effektiv. Die KPCh sieht das Thema offenbar als so entscheidend an, dass sie bereit ist, große Priorität auf die Erhaltung dieser Lüge zu legen, und kein anderes Land wird, gerade in diesen Zeiten, seine wirtschaftlichen Beziehungen zu China riskieren, nur um das anzuzweifeln oder aufzuklären.

Generell aber ist bemerkenswert, wie irrelevant in den ganzen zwei Jahren der Pandemie die Frage des Ursprungs war. Trump versuchte kurz, rassistisches Politikheu zu dreschen, indem er Covid als China-Virus betitelte, aber seine Inkompetenz im Umgang mit der Pandemie war das stärkere Thema. Und hierzulande wurde auch über alles mögliche gestritten, von Masken über Impfungen zu Lockdowns, aber nie über die Schuldfrage. Schon allein das ist ein echter Erfolg Chinas: die Pandemie wird weltweit als Naturereignis betrachtet, das sich quasi jeder Prävention und Schuld entzieht. Kudos.

9) Kaminholz ist teuer – und begehrt bei Dieben

Brennholz ist das neue Klopapier. Viele wollen es haben, aus Angst vor einem Gasengpass. Doch immer weniger Interessenten kommen zum Zuge. Die Preise für kaminfertiges Brennholz steigen weiter. Händler klagen bereits über Nachschubprobleme. Sie kaufen derzeit alles, was noch auf dem Markt zu kriegen ist, um die hohe Nachfrage zu befriedigen. [...] Hauseigentümer, die einen Kamin haben, wollen sich mit Brennholz gegen die hohen Gaspreise wappnen. [...] Allerdings leiden auch die Holzproduzenten unter steigenden Energiepreisen. Diesel für Lkws und Erntemaschinen ist teurer. Auch das Trocknen von Frischholz mit Hilfe von Erdgas ist kostspieliger geworden. Denn die meisten Kunden wollen ihr Brennholz kaminfertig. Frisches Holz müsste erst mindestens sechs Monate lang trocknen, bevor es den richtigen Wassergehalt hätte. Das wäre zu spät für den Beginn des Winters. (Martin Gerth, Wirtschaftswoche)

Angesichts solcher Meldungen kann man nur den Kopf schütteln und sich fragen, ob wir nicht irgendwie die dümmste Gesellschaft sind, die je Gottes Erdboden besiedelt hat. Wir sind in einer Gaskrise und trocknen Kaminholz mit Gas, damit Leute die klimaschädlichste Methode, Wärme zu erzeugen, nutzen können, nachdem wir den ineffizientest möglichen Brennstoff über die ineffizientest möglichen Transportmethoden über die Republik verteilen. Jörg Kachelmann ist ja ein Dauerkämpfer gegen die deutsche Manie der Holzöfen; das gehört echt komplett verboten. Was für ein Bullshit.

10) Ungarns Rechnungshof beklagt hohen Frauenanteil an Unis

Die Behörde geht davon aus, dass das Bildungssystem des Landes derzeit »weibliche Eigenschaften« wie »emotionale und soziale Reife« begünstigt. Dadurch werde die Geschlechtergleichheit »erheblich geschwächt«. [...] Der ungarische Rechnungshof fürchtet, Männer könnten im Bildungsbereich gegenüber Frauen ins Hintertreffen geraten – und warnt vor Konsequenzen für die Zukunft des Landes. In einem bereits im Juli veröffentlichten Bericht der Behörde, über den ungarische Medien nun berichteten, wird eine »rosa Bildung« kritisiert. Sorge bereitet dem Rechnungshof demnach etwa die starke Präsenz von Frauen an den Universitäten des Landes. Wie die Zeitung »Nepszava« unter Berufung auf die Analyse berichtete, sei der Anteil der Frauen in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Inzwischen seien Frauen an den Hochschulen prozentual in der Überzahl. Sie erlangten zudem öfter höhere Schulabschlüsse. Die Behörde geht davon aus, dass das Bildungssystem des Landes derzeit »weibliche Eigenschaften« wie »emotionale und soziale Reife« begünstigt. Dadurch werde die Geschlechtergleichheit »erheblich geschwächt«. In dem Bericht des Rechnungshofes werden Jungen als von Natur aus risikofreudig und unternehmerisch interessiert beschrieben. Wenn sie diese Eigenschaften aufgrund von zu viel weiblichem Einfluss nicht entfalten könnten, könnten sie »psychische Probleme« bekommen, warnen die Rechnungsprüfer. Erwähnt wird in dem Zusammenhang auch, dass viele Frauen in Lehrberufen tätig sind, was Ursache der vermeintlich problematischen Schieflage sein könne. Der hohe Anteil an Akademikerinnen könne letztlich auch zu »demografischen Problemen« führen, heißt es in dem Bericht weiter. Die Argumentation der Rechnungsprüfer geht so: Gebildete Frauen könnten es schwer haben, einen ähnlich gebildeten Ehepartner zu finden. Es sinke die Heiratswahrscheinlichkeit und damit auch die Chance auf Kinder, zitierte »Nepszava« aus dem Bericht. Der Rechnungshof sehe es demnach als gerechtfertigt, das »Phänomen« weiter zu untersuchen, schrieb die Zeitung. (AFP, SpiegelOnline)

Man würde sich wünschen, dass die Vorgänge in Ungarn (oder auch Polen) dieselbe Aufmerksamkeit erhalten würden, die das Feuilleton hierzulande irgendwelchen Aktivist*innen an amerikanischen Unis angedeihen lässt. Mitten in Europa werden hier mit brachialer staatlicher Gewalt Geschlechterbilder durchgesetzt, die man eigentlich seit 50 Jahren überwunden glaubte. Das ist und bleibt die wesentlich gefährlichere Cancel Culture als der Protest irgendwelcher Demonstrierenden, weil hier der Staat selbst aktiv wird. Wenn es schon soweit ist, dass der Rechnungshof, eine der wohl langweiligst-möglichen Institutionen, aktiv Kulturkampf betreibt, dann ist das in allen Ebenen der Regierung verankert.

Und was für ein Kulturkampf! Ich finde das Männerbild, das in diesen Aussagen steckt, auf dunkle Art faszinierend. Der ungarische Rechnungshof sagt hier nichts anderes, als dass die Männer so fragil sind, dass sie eine kluge Frau nicht ertragen können und dass sie nicht in der Lage sind, ohne "psychische Probleme" gleichberechtigte Frauen zu akzeptieren. Und das soll das starke Geschlecht sein? Masculinity, so fragile, sag ich da nur.

Resterampe

a) Das Ausmaß der Zerstörung der Erneuerbaren ab 2011 durch Schwarz-Gelb ist echt irre.

b) Vernünftige Parkgebühren in Freiburg sind endlich durch.

c) Absolut vernünftiger Vorschlag zur Finanzierung der Krankenkassen. Eigenverantwortung ftw.

d) In der Sache bin ich voll bei Wilk, aber dieses Interview ist wild. Seine Antworten passen meist gar nicht zu den Fragen, und er wirft allen möglichen Kram zusammen und rührt das in einen ungenießbaren Argumentationsbrei.

e) Ich liebe es einfach, wenn Lindner und die FDP sich endlich Dingen annehmen, die unter Merkel und der SPD ewig liegengeblieben sind. So hätte ich die Ampel gerne immer.

f) Sieht für Deutschland ähnlich aus, möchte ich meinen.

g) Der Lehrkräftemangel nimmt immer bedrohlichere Formen. Thüringen ist ein Extremfall.

h) Cancel Culture bei HBO, damit sie den Schöpfer*innen keine Tantiemen zahlen müssen.

i) Ein Republican ist total entsetzt, was die Folgen der Abtreibungsverbote sind, für die er gestimmt hat, und ich teile den Zorn Jeet Heers darüber völlig.

j) Sehr guter Thread von Marcel Schütz über die Natur der deutschen Politik.

k) Beim Verfassungsblog gibt es eine gute Übersicht über die rechtlichen Möglichkeiten einer Laufzeitverlängerung. Kurzversion: es ist kompliziert.

l) Volker Wissing weigert sich, seinen Auftrag zu erfüllen, für sein Ministerium Pläne für das Klimasofortprogramm zu entwerfen. Jonas Schaible vermutet dahinter den Versuch der FDP, die Sektorziele zu kippen. Zu den Hintergründen hat Jonas Schaible mehr.

m) Kretschmer ist stabil an Russlands Seite. Widerlich, dieser Typ.

n) Kalifornien verbietet, in Deutschland "völlig unmöglich", die Neuzulassung von Verbrennern ab 2035.

o) Beispiel für völlig kranke Autofixierung.

p) Diese Umfrageergebnisse zur Beliebtheit Stalins in Russland und der Ukraine sind für Russland mit Vorsicht zu genießen, kommunizieren aber immerhin klar, wie Putin das Land gerne sehen und gesehen haben möchte.

q) Großartiger Thread, der erklärt, wie Ideologien bei Erfolg einer Bewegung heruntergedummt werden, was dann zu Inneren Säuberungen führt.

r) Japan hat seine Obdachlosigkeit seit 2002 radikal reduziert. Die Lösung? Wohnraum bauen.

s) Chris Hayes kann zurecht stolz auf eine Prognosefähigkeiten bezüglich des Streits zwischen Biden und Summers vor 13 Jahren sein.

t) Nachdem Olaf Scholz letzthin beim Tankrabatt die Unternehmen aufgerufen hatte, doch bitte das Geld, das die Regierung ihnen in den Rachen wirft, nicht anzunehmen, macht Habeck jetzt dasselbe mit der Energieumlage. Ich hätte eine total abwegige Idee. SCHREIBT VERNÜNFTIGTE GESETZE, IHR KNALLDACKEL!

u) Frankreich fördert steuerlich den Umstieg von Auto auf eBike.

v) Die Zahlen der Reallohnentwicklung sind katastrophal.

w) Großartiger Artikel darüber, warum das Römische Reich keine Industrielle Revolution hatte.

x) Der texanische Verfassungsgerichtshof hat ein Gesetz gekippt, dass automatische Waffen erst ab 21 statt ab 18 erlaubt. Die totale Radikalisierung der Judikative wird die USA so in den Po beißen, genauso wie bei der Abtreibung auch.

y) Die grundsätzliche Kritik teile ich, aber "the FOX News viewership" ist mir viel zu pauschal für eine so große Gruppe. Das hat viel us vs. them.

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