"Aus  der Geschichte der Völker können wir lernen, dass die Völker aus der  Geschichte nichts gelernt haben." (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

Wenn  Feuilletonisten die 'Sinnlosigkeit des Krieges' bzw. die 'ganze  Sinnlosigkeit des Krieges' anprangern wollen, dann greifen sie gern zum  historischen Vergleich. Ziehen Parallelen. Kramen zum Beispiel die Schlacht von Verdun hervor. Dort gingen sich Deutsche und Franzosen von Februar bis  Dezember 1916 auf das Grausamste an die Gurgel. Am Ende waren zirka  700.000 tot, verwundet, verstümmelt, traumatisiert. Ergebnis: Die Front  verlief nach zehn Monaten ziemlich genau wieder dort, wo man im Februar  angefangen hatte. Herzlichen Glückwunsch!

Als  eine internationale Koalition im Gefolge des 11. September 2001 in  Afghanistan einzumarschierte, weil man das Taliban-Regime verdächtigte,  Osama bin Laden und andere Al Quaida-Bosse zu beherbergen, schien die  Sache sich gut anzulassen. Die Taliban waren mithilfe örtlicher Warlords bald entmachtet, man machte sich daran, das Land wieder aufzubauen.  Besonders in Deutschland betonte man besonders eilfertig, dass da keine  kämpfende Truppe unterwegs sei, sondern vielmehr Entwicklungshelfer,  Brunnenbauer und Ausbilder, die eben auch Tarnanzüge trugen. Ein fataler  Selbstbetrug.

Als auf dem Höhepunkt des Selbstbetrugs  Deutschlands damals ranghöchste Protestantin Margot Käßmann es in ihrer  Neujahrspredigt 2010 wagte zu sagen, gar nichts sei gut in Afghanistan,  zog sie sich den Zorn großer Teile der politischen Klasse zu, die ihr  Defätismus und Naivität vorwarfen. Und nun? Frau Käßmann mag viel  Frommes geschwurbelt haben in ihrem Berufsleben, aber in dem Punkt hat  sie recht behalten. Fast genau zwanzig Jahre nach dem Einmarsch der  Koalition, im August 2021, nach etlichen zehntausend Toten, lautet das  Ergebnis: Die Taliban haben die Macht wieder übernommen. Herzlichen  Glückwunsch!

Armeen zu unterhalten ist sicher nicht schön, aber  so lange es immer wieder Akteure in der Weltpolitik gibt, die einen ohne  militärische Drohkulisse im Rücken nicht ernst nehmen, ein notwendiges  Übel. Auch die Armee einzusetzen kann unter Umständen als ultima ratio  infrage kommen. Es ist komplett illusorisch zu glauben, die Welt würde  nur einen Deut friedlicher, wenn Deutschland aus der NATO austräte, die  Bundeswehr abschaffte oder per Unterfinanzierung zur reinen Lachnummer  degenerieren ließe. Demilitarisierung allein mag gut gemeint und von  edlen Absichten getragen sein, ist aber kein politisches Konzept.

Auch  ist die deutsche Empörung darüber, dass internationale Handelswege von  bewaffneten Kräften notfalls mit Gewalt freigehalten werden müssen (ein  entsprechendes Bekenntnis hat Horst Köhler einst das Amt gekostet), wenn  schon nicht schizoid, dann zumindest verlogen. Viele von denen, die das  unmoralisch finden, wären sofort auf den Barrikaden, wenn ihre dank  freier internationaler Handelswege spottbilligen Konsumgüter Made in  China oder die in Bangladesch gefertigten Billigklamotten deutlich  teurer oder gar nicht erst lieferbar wären. Ist wie mit  Bio-Lebensmitteln: Bis zu 50 Prozent der Deutschen behaupten artig,  regelmäßig welche zu konsumieren. Die tatsächlichen Marktanteile sprechen eine andere Sprache. Macht sich halt gut.  

Setzt  man die Armee für etwas anderes als zur reinen Verteidigung in Marsch,  dann sollte man sich genau im Klaren sein, warum und wozu. Es muss ein  klares Ziel geben, das mit den vorhandenen Mitteln erreichbar ist. Und  spätestens wenn es erreicht ist, schlägt die Stunde der Politik, die  eine einigermaßen kohärente Idee haben muss, was weiter zu geschehen  hat. Wenn dann welche am Werk sind, die nicht wissen, was sie eigentlich  genau wollen, geht es schief. Immer.

Der  aktuelle Afghanistan-Krieg wurde begonnen kurz nach der  Jahrtausendwende, als die Militarisierung der US-Politik einen Höhepunkt  erreicht hatte. Neokonservative Falken quatschten den ungebildeten,  außenpolitisch weitgehend ahnungslosen George W. Bush in militärische  Abenteuer hinein und machten ihm weis, nach siegreichem Feldzug würde  alles gut und die Demokratie würde sich ausbreiten. Tat sie nicht.

Die  großartigsten militärischen Siege bringen einem nichts, wenn man sie  politisch nicht zu nutzen versteht. Bestes, da berühmtestes Beispiel:  Hannibal. Hat die gefürchtete römische Armee ein ums andere Mal blutig  gedemütigt. Aber der brillante Taktiker, vielleicht der brillanteste  aller Zeiten, hatte keine Strategie. Die hatten die Römer. Deswegen  verlor Hannibal am Ende trotz all seiner Siege den Krieg. Zwei  Generationen später waren vom einst prächtigen Karthago nur noch  rauchende Trümmer übrig. Hannibal hatte für seinen Italienfeldzug kein  erkennbares Ziel gehabt, außer Rache für die demütigende Niederlage im  ersten Punischen Krieg. Wenn er die Römer erst einmal besiegt hätte,  glaubte er, würde sich alles weitere schon finden. Tat es nicht.

Apropos  erster Weltkrieg: Auch Erich Ludendorff dachte 1918, ein Loch in die  Front hineinzuhauen, würde genügen, alles weitere fände sich dann. Tat  es nicht. Das Loch wurde zwar hineingehauen,  man brachte der Entente eine Reihe schwerer Niederlagen bei und verlor  am Ende trotzdem. Nicht nur, weil die Kräfte erschöpft waren, sondern  weil die Militärs keinen Plan hatten, was man mit den taktischen  Erfolgen machen sollte. Sei hielten Politik für verzichtbar und hatten  die Regierung in Berlin weitgehend kaltgestellt. Einem Georges  Clemenceau war das nicht passiert. Mahnende Beispiele allesamt.

Ziel  der Afghanistan-Kampagne war ursprünglich, Osama bin Laden zu fangen,  den maßgeblichen Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001. Die  USA fühlten sich gedemütigt und wollten Rache. Was machen, wen  bestrafen. Weil das allein nicht rechtfertigte, ein ganzes Land, zumal  eines, das die USA im völkerrechtlichen Sinne gar nicht angegriffen  hatte, mit Krieg zu überziehen, zog man gegen das Taliban-Regime zu  Felde. Man verkündete, Afghanistan von Joch der frommen Fanatiker, die  bin Laden beherbergt hatten, befreien zu wollen. Und die Frauen von der  Burka. Beides gelang recht schnell. Um Osama bin Laden aufzuspüren und  zu liquidieren, bedurfte es am Ende einer besseren Polizeiaktion.  Allerspätestens damit gab es keinen Grund mehr für ein Engagement in  Afghanistan und man hätte die Sache beenden müssen. Aber man hatte  keinen Plan.

Jener 'Westen', dessen Gerede von humanitären  Werten und Menschenrechten spätestens nach dem moralischen Totalbankrott  von Guantanamo und Abu Ghraib auf der halben Welt zur bloßen Lachnummer  geworden war, eierte auch in Afghanistan herum. Irgendwie wollte man da  wieder raus, brachte es aber nicht zuwege. Man verlegte sich aufs Nation Building,  wohl auch aus Ratlosigkeit. Schließlich war es der außenpolitisch  komplett unbedarfte, zu weitsichtiger strategischer Planung unfähige Donald Trump,  der sich von den Taliban für ein paar wolkige Zusagen um den Finger  wickeln ließ und sich verpflichtete, Afghanistan binnen Jahresfrist  komplett zu räumen. Das war kein 'Deal', wie der notorische Lügner sich  brüstete, sondern eine Kapitulation, die unabsehbare Folgen haben wird.  Der unrühmliche Abzug aus Kabul ist nicht das Vietnam unserer Zeit. Es  ist schlimmer.

Denn damit "[...] reißen die [USA die] Fundamente  ihrer globalen Macht aus freien Stücken selber ein, nämlich die  Gewissheit, dass es etwas nützt, auf ihrer Seite zu stehen. Wer auf der  Welt soll jetzt noch dem Westen vertrauen? Das Debakel von Kabul ist  eine Schande und der Schaden unermesslich." (Dominic Johnson)  Viele, gerade Linke, mögen sich mehr oder minder klammheimlich freuen  über diese Selbstverzwergung der Amerikaner. Dafür gibt es jenseits  reiner Schadenfreude leider keinen Grund. Antiamerikanismus ist ein  Ressentiment und kein politisches Konzept. Absolut nichts deutet darauf  hin, dass das, was kommt, wenn die USA als Hegemon wegfallen, besser,  zivilisierter oder friedlicher sein wird.

"Erwartet euch nicht zu viel vom Weltuntergang." (Stanisław Jerzy Lec, 1977)

Wir  haben es mitverkackt. Es ist Teil westlicher Hybris zu glauben, eine  politische Kraft wie die Taliban sei nichts weiter als eine Ansammlung  verpeilter "Kameltreiber" (Moster),  die unfähig sind zu strategischer Analyse und Planung. So wie man schon  den Vietcong für Hobbykrieger in Flipflops gehalten hatte. Islamisten  auf der ganzen Welt, die natürlich die strategischen Fehler und  Versäumnisse des Westens genauestens verfolgen, werden durch den Sieg  der Taliban erheblichen politischen Auftrieb erhalten. All jene vor  allem jungen Menschen in Afghanistan, die sich Hoffnungen gemacht hatten  auf Menschenrechte, Emanzipation, Bildung, Demokratisierung wurden  verraten und im Stich gelassen. Sie werden sich ihre Gedanken machen und  ihre Konsequenzen ziehen. Der nächste Bankrott.

Die Kabinette  Merkel haben den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr 2005 von der  Vorgängerregierung quasi geerbt. Man tut Angela Merkel aber sicher nicht  unrecht, wenn man davon ausgeht, dass auch sie, hätte sie 2001 vor der  Entscheidung gestanden, einem Einsatz der Bundeswehr ohne Zögern  zugestimmt hätte. Viel anders machen konnte man nicht die Jahre über,  die Operationen standen unter dem Kommando der US-Truppen. Das Verhalten  gegenüber den afghanischen Ortskräften aber, die den  Bundeswehreinheiten jahrelang Lebensversicherung waren, wegen ihrer  Kollaboration mit dem Feind auf Todeslisten der Taliban landeten und nunmehr ihrem Schicksal überlassen werden, ist zutiefst beschämend. Wie auch das zynische Herumprahlen mit Abschiebungen nach Afghanistan.

Einmal  dort, hätte man entweder schnell wieder raus gemusst oder man hätte es  zu Ende bringen müssen. Das Land aufbauen, entwickeln, organisieren,  mitverwalten, polizeilich und militärisch absichern. Das hätte noch  Jahrzehnte gedauert, wäre teuer und unpopulär gewesen. Ein  Generationenprojekt. Aber ein stabiles, friedliches, weltlich regiertes,  funktionierendes Afghanistan wäre eine echte Chance gewesen. Nicht  mehr, aber auch nicht weniger. Die wurde ohne Not vertan, indem man auf  halber Strecke umdrehte. Das wird uns einholen. Denn das Ende des  Afghanistan-Einsatzes ist nicht das Ende des Krieges, in dem wir uns  seit 2001 befinden.


Auch lesenswert zum Thema:

Claudia Klinger: Das Afghanistan-Desaster
Stefan Sasse: Der große Verrat
Horst Schulte: Mitgefühl, Empathie. Alles gut und schön.
Matthias Eberling (Kiezschreiber): Dschihad: 1 - Westliche Werte: 0

Dir gefällt, was Stefan Rose schreibt?

Dann unterstütze Stefan Rose jetzt direkt: