Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Die Widerstandslüge

Die Gelöbniszeremonie der Bundeswehr am 20. Juli erinnert an das Attentat auf Hitler, wurde jedoch erst 1999 etabliert. Diese Symbolik diente dazu, den deutschen Widerstand als Teil der Bundesrepublik zu präsentieren. In Wahrheit wurden die Attentäter um Stauffenberg nach dem Krieg oft als Verräter betrachtet. Der Mythos des 20. Juli wurde jedoch schnell Teil der bundesdeutschen Identität, um das Ausland zu überzeugen und die Souveränität Deutschlands zu stärken. Doch die Anfänge der Bundesrepublik wiesen mehr Verbindungen zum Nationalsozialismus als zum Widerstand auf. Der politische Widerstand hatte wenig Einfluss auf die Gründung der Bundesrepublik, und sogar der erste Bundeskanzler Adenauer war dem Widerstand gegen Hitler abgeneigt. Die Anerkennung des Widerstands kam erst später, aber wurde politisch instrumentalisiert und diente eher als Alibi für die Bundesrepublik. (Ruth Hoffmann, Spiegel)

Wie ich in meinem eigenen Artikel zum Thema bereits angesprochen habe, halte ich die Vorstellung eines Erfolgs der Attentäter vom 20. Juli für kein sonderlich positives Szenario. So sehr es auch zu begrüßen ist, dass es Deutsche gab, die das moralische Rückgrat hatten, sich dem Nationalsozialismus voll entgegenzustellen - das Attentat ist zutiefst ambivalent. Nicht nur wegen der Folgen, die ein Erfolg vermutlich gehabt hätte (siehe mein Artikel), sondern auch - und hier kommen wir zur gegenwärtigen Geschichspolitik - weil die Verschwörer so schlecht als politische (sehr wohl aber als charakterliche!) Vorbilder taugen. Auch wenn gerne versucht wird, Stauffenberg und Co das anzudichten, die Leute waren keine Demokraten und sind nicht wirklich mit einer pluralistischen Demokratie kompatibel. Das gilt in beschränkterem Umfang auch ihre bürgerlichen Verbündeten.

Ein anderes Thema bei der geschichtspolitischen Betrachtung ist diese wirre Ansicht, dass irgendwie alle im Widerstand waren. Wie im verlinkten Artikel erklärt halte ich da überhaupt nichts von den ganzen popkulturellen Verarbeitungen, aber auch ohne die ist die Vorstellung weithin verbreitet, dass man selbst damals auf jeden Fall irgendwie im Widerstand gewesen wäre, die eigene Familie aber ganz sicher keine überzeugten Nazis waren. Überhaupt ist es immer wieder faszinierend, dass es in 12 Jahren Nazidikatur keine Nazis gab, außer denen, die tot sind und bequemerweise nie protestieren konnten. Wahnsinnig nervig und dem Erkenntnisgewinn nicht eben zuträglich.

2) Deutschland ist nur ein Leichtgewicht

Die Außenpolitik der deutschen Ampelregierung steht im Fokus, da sie sich intensiv in Krisendiplomatie engagiert. Trotzdem sind die Ergebnisse bisher bescheiden. Ein Beispiel hierfür ist der Besuch von Kanzler Scholz in China, der sich hauptsächlich um den Export von Rindfleisch und Äpfeln drehte, statt um geopolitische Themen. Inmitten globaler Krisen wie dem Ukraine-Konflikt und den Spannungen im Nahen Osten wirft dies die Frage auf, welche außenpolitische Bedeutung Deutschland noch hat. Die Regierung unternehmen viele Reisen und diplomatische Initiativen, doch die Wirkung bleibt fraglich. Einige Experten kritisieren, dass Deutschland seine geopolitische Rolle überschätzt und stattdessen stärker auf die EU setzen sollte. Besonders in Handelsfragen hat die EU oft das letzte Wort. Scholz' Verhalten gegenüber der EU wird als distanziert wahrgenommen. Trotzdem setzt die deutsche Regierung Druck auf, vor allem in der Unterstützung der Ukraine im Konflikt mit Russland. Doch ob Deutschland tatsächlich als geopolitischer Akteur agiert oder seine Hilfsbemühungen eher Ausdruck von Ohnmacht sind, bleibt umstritten. (Markus Becker/Matthias Gebauer/Martin Knobbe/Marina Kormbaki/Christoph Schult, Spiegel)

Dass sich die relative wirtschaftliche Stärke Deutschlands im Speziellen und der EU im Allgemeinen nicht in außenpolitische Stärke niederschlägt, ist ja nicht gerade eine bahnbrechende Erkenntnis. Ich fürchte, dass die Konzentration der EU und Deutschlands auf "soft power" da eine gehörige Prise des selbst Belügens war: ohne die "hard power", gegebenenfalls die eigenen Interessen verteidigen zu können, besitzt man einfach wenig Drohpotenzial, und die wirtschaftliche Bedeutung hat sich in Krise um Krise, Akteur um Akteur als weitgehend bedeutungslos für außenpolitische Durchsetzungsfähigkeit erwiesen. Weder der Iran noch Venezuela, weder Russland noch China lassen sich von der Vorstellung von Wirtschaftssanktionen abschrecken, im Gegenteil: wenn der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine auf dem Feld etwas bewiesen hat, dann, wie verwundbar wir selbst gegenüber wirtschaftlichen Verwerfungen selbst auf vergleichsweise harmlosem Niveau sind. Das wird sich sicherlich auch nicht ändern, solange Europa nicht in der Lage ist, seine eigenen Interessen zu verteidigen. Und das ist es schlicht nicht.

3) Karl Lauterbach und die Professoren

Die Krankenhausreform in Deutschland kommt nicht voran, was auf die Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Politik hinweist. Gesundheitsminister Professor Karl Lauterbach hat ein fachlich fundiertes Konzept vorgelegt, aber es fehlt an politischem Geschick, um es umzusetzen. Politiker müssen nicht unbedingt Experten sein, sondern vor allem Mehrheiten organisieren und Kompromisse finden. Die Forderung "Follow the Science" stößt zwar auf Zustimmung, führt aber auch zu gesellschaftlichen Spaltungen und stockenden Vorhaben. Wissenschaftler beklagen sich über mangelnde politische Unterstützung und veranstalten Workshops zur besseren Kommunikation. Doch die Werte und Prioritäten der Wissenschaft sind nicht immer deckungsgleich mit den Ansichten der Bevölkerung. Dies zeigt sich besonders in der Ökonomie und anderen Fachgebieten. Gute Wissenschaftskommunikation erfordert daher einen Dialog in beide Richtungen. Im Gegensatz zu Lauterbach wird Wolfgang Schäuble als politisches Talent beschrieben, das auch ohne tiefe Expertise erfolgreich war. (Patrick Bernau, FAZ)

Warum sollte für Lauterbach etwas anderes gelten als für jeden anderen Bereich auch? Die fixe Idee, dass Fachleute in die entsprechenden Ministerien sollten, war schon immer das: eine fixe Idee. Es hat noch nie funktioniert. Soldat*innen machen keine guten Verteidigungsminister*innen, Unternehmer*innen keine guten Wirtschaftsminister*innen und natürlich Mediziner*innen nicht zwingend gute Gesundheitsminister*innen. Ich wiederhole das seit Jahren mantraartig: Fachkompetenz ist keine Schlüsselqualifikation für ein Ministerium. Der Job ist ein völlig anderer.

Dass "follow the science" immer schon ein Schlagwort war, das von denen gebraucht wird, denen "die Wissenschaft" gerade in den Kram passt, ist auch keine große Überraschung. Wie immer, wenn sich auf Fakten, Studien oder Autoritäten berufen wird, müssen diese immer genau dann unbedingt beachtet werden, wenn sie sich mit den eigenen Prioritäten decken, spielen aber keine große Rolle, wenn sie das nicht tun. Nichts neues im Politikland. Es wäre hilfreich, wenn man sich da einfach ehrlich machen würde.

4) It’s time to lift the veil on incompetence

Der Tod von O.J. Simpson letzte Woche erinnerte daran, wie die Polizei von Los Angeles versagte, ihn für einen Doppelmord zu verurteilen. Inkompetenz zeigt sich in verschiedenen Bereichen, wie bei Boeing, das Schwierigkeiten hat, sichere Flugzeuge herzustellen. In der Soziologie ist Inkompetenz wenig erforscht, obwohl sie als unbefriedigende Leistung im Vergleich zu Standards definiert werden kann. Inkompetenz kann auch eine Form von Voreingenommenheit sein und hat negative Auswirkungen, besonders wenn sie Institutionen oder dem Staat nützt, aber dem Gemeinwohl schadet. Während wir besser wissen, wie man damit umgeht, wenn es dem Täter schadet, ist es schwieriger, damit umzugehen, wenn es einer Institution oder dem Staat nützt. Dies wird besonders deutlich bei Regierungsentschädigungsprogrammen, die oft als bürokratisch und ineffektiv kritisiert werden. Diese Art von Inkompetenz, die Institutionen oder Regierungen zugutekommt, aber dem Gemeinwohl schadet, muss genauer untersucht werden, um ihre Instrumentalisierung zu verhindern. (Stephen Bush, Financial Times)

Bush macht einen wichtigen Punkt, wenn er darauf verweist, wie sehr manche Institutionen von Inkompetenz profitieren. Das betrifft nicht nur den politischen Bereich. Wer je mit dem Kundenservice eines beliebigen Unternehmens zu tun hatte, kennt das Thema zur Genüge. Nirgendwo ist es offensichtlich profitabler, komplett inkompetent zu sein. Dasselbe gilt natürlich auch für die Politik. So profitiert ein Volker Wissing massiv davon, völlig inkompetent bei der Verkehrswende zu sein; er will sie ja auch gar nicht. Auch das beständige Scheitern jeder Entbürokratisierungsinitiative hat System. Und der Verdacht, dass eher linksgerichtete Minister*innen gar nicht so viel wert auf ökonomische oder finanzielle Kompetenz legen, die dann zu "unabsichtlichen" Verstößen gegen Ausgabenregelungen führt, liegt auch relativ nahe. Auch hier: in Unternehmen findet sich das genauso. Strategische Inkompetenz findet sich auf allen Ebenen vom CEO zur kleinsten Arbeiterin. Wir finden es in Schulen und Familien. Wenn meine Kinder sich absichtlich blöd anstellen beim Spülmaschine Ausräumen, mache ich es das nächste Mal vielleicht selbst und belästige sie nicht. Produzieren meine Schüler*innen bei der Aufgabe nur Mist, stelle ich das nächste Mal vielleicht keine mehr. Und so weiter. Auf irgendeinem Level gibt es immer ein Interesse an absichtlicher Inkompetenz.

5) Die EU-Osterweiterung fußte auf einer Illusion

Die Erweiterung der Europäischen Union vor 20 Jahren wurde von Naivität begleitet, da sie die Gefahr aus Moskau übersah. Die feierliche Aufnahme von neun osteuropäischen Staaten und Zypern am 1. Mai 2004 wurde von gemischten Gefühlen begleitet. Trotz langwieriger Verhandlungen und Volksabstimmungen in den Beitrittsländern war die Euphorie begrenzt. Besonders in Westeuropa wurden Bedenken laut, dass die neue Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt wirtschaftliche Nachteile mit sich bringen könnte. In einigen osteuropäischen Staaten herrschte ebenfalls Uneinigkeit über die Bedingungen des Beitritts, insbesondere in Bezug auf Deutschland. Die EU-Erweiterung wurde als politischer Ost-Transfer wahrgenommen, der die historisch-kulturelle Vielfalt Mitteleuropas ignorierte. Die Folgen dieser Erweiterung, insbesondere in Bezug auf die Beziehungen zu Russland, wurden nicht ausreichend berücksichtigt. Die EU muss sich nun zu einem geopolitischen Akteur entwickeln, um den Dauerkonflikt zwischen Ost und West zu entschärfen. (Thomas Schmid, Welt)

Ich weiß nicht, inwieweit ich der These zustimmen möchte. Die osteuropäischen Staaten waren sich ja immer ziemlich darüber im Klaren, was und warum sie möchten; die schnelle NATO-Integration und der große Druck der USA, die EU-Erweiterung folgen zu lassen (die die alten 15 EU-Staaten wahrlich nicht haben wollten) sind ja genau eine Folge des osteuropäischen Misstrauens gegenüber Russland und dem dringenden Bedürfnis, Sicherheit zu erlangen. Ich bin aber völlig bei Schmid, dassdas kein Beitritt auf Augenhöhe war. Die Osterweiterung wurde, wie der Name ja schon suggeriert, als eine Eingemeindung Osteuropas in ein bestehendes System betrachtet; die Vorstellung, dass für die EU außer günstigen Produktionsbedingungen (oder Lohndumping, je nach Sichtweise) allzu viel zu gewinnen war, war eine absolute Minderheitenposition. Dass, siehe Fundstück 2), die EU ein geopolitischer Akteur werden muss, ist indessen ein Binse, die sich aber nur sehr schwer in die Praxis überführen lässt.

Resterampe

a) Zum Soundtrack von "The Zone of Interest".

b) Söders Flexibilität ist schon immer wieder erstaunlich.

c) Meinungsfreiheit und »Cancel Culture«: Hilfe, ich werde gecancelt! - Kolumne. Zeigt in meinen Augen wie schwer sich Leute tun zu erkennen, dass das ein allgemeines Phänomen ist.

d) Volkswagen könnte erst der Anfang sein. Hoffentlich. Spannend, dass die Welt das auch so positiv sieht.

e) Plädoyer für einen "radikalen Linksliberalismus".

f) Zum Thema "republikanische Policies kosten Leben".

g) Gewerbsmäßiger Betrug.

h) Thema "Queer-Panik".

i) Wie Adultismus zu Diskriminierung führen kann.

j) Being around nonsmokers is good for you.

k) Books are trash too: Remember to throw them away during spring cleaning. Total! Ich bin meine Bücher fast komplett losgeworden.

l) So true!

m) Tarifverträge ftw.

n) Deutscher Bürokratieirrsinn. Ein völlig außer Rand und Band geratenes Schutzsystem.


Fertiggestellt am 25.04.2024

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