Vor einigen Wochen wurde ich auf Twitter kontaktiert und gefragt, ob ich mir nicht vorstellen könnte, auch für publikum.net zu schreiben, nachdem ich auf meinem Profil einen Thread über die negativen Seiten des Kaufrausches beim alljährlichen sogenannten "Black Friday" veröffentlicht habe. Sehr gerne nutze ich diese Gelegenheit. Doch wozu etwas schreiben? Nachrichten kann ich kaum verlässlich regelmäßig reproduzieren, dafür bin ich nicht oft genug in der Nähe von relevanten Ereignissen. Also muss es in die Richtung eines Meinungsartikel gehen. Und da ich Student des Fachs Philosophy, Politics and Economics bin, wird sich mein erster Essay heute um ein Thema drehen, das eng mit meinem Studium verknüpft ist.
Es geht um die Ideologie von Menschen, die sich selbst als "jungliberal" bezeichnen. Diese sind in der Regel bei den jungen Liberalen (JuLis), der Jugendorganisation der deutschen Partei FDP organisiert. Wie häufig bei jungen Menschen, die sich (partei-)politisch engagieren, sind einige der JuLis auf Twitter aktiv und erreichen dort mit ihren Inhalten Follower im Zehntausenderbereich. Das ist auch in jeglicher Hinsicht legitim, die Mitglieder sehen sich selbst als Motor hinter der Politik der FDP und einige ihrer ehemaligen Mitglieder haben es in bedeutende gesellschaftliche und politische Positionen geschafft (z.B. Guido Westerwelle, Birgit Homburger oder Daniel Bahr). Die Organisation beschäftigt sich mit Themen wie z.B. Bildung, Generationengerechtigkeit, Gründer in der Wirtschaft und einem vereinten Europa. So weit so gut. Warum also dieser Artikel?
Weil ich sehr häufig über Forderungen der JuLis als Verband oder einzelner Mitglieder stolpere, die mir die Haare zu Berge stehen lassen. Die mit ihren Inhalten so dermaßen gegen meine grundlegendsten politischen Überzeugungen gehen, dass ich im ersten Moment gar nicht weiß, wo ich anfangen soll, diese zu widerlegen. Meine Sprachlosigkeit regt sich dann aber in der Regel und zuweilen lasse ich mich dazu verleiten, einzelne Argumente zu diskutieren. Dass dies in der Regel sinnlos ist, liegt nicht an einer besonders sturköpfigen Art der JuLis, sondern am Wesenskern von sogenannten Ideologien: sie sind als Weltanschauungen so allumfassend, dass bestimmte Sachverhalte, die ihnen gegebenenfalls widersprechen würden, nicht wahrgenommen werden. Und doch habe ich das Gefühl, dass ein bisschen Kontext zu der einen oder anderen Forderung der JuLis nicht schaden kann. Daher nehme ich einen Twitter-Thread, der die wichtigsten Forderungen und Positionen der JuLis auflistet, als Anlass, einige ihrer Inhalte genauer zu beleuchten. Ganz konkret geht es in diesem Artikel um das BAföG für Alle.
Elternunabhängiges BAföG
Eine der Forderungen, die mir als eine der ersten ins Auge gesprungen ist, ist das sogenannte elternunabhängige BAföG. Das Bundesausbildungsförderungsgesetz hat als zentrales Instrument eine staatliche Transferzahlung, die für Schüler und Studenten eine Beihilfe zum Lebensunterhalt bereitstellt. Im Jahr 2019 erhielten nach Angaben des statistischen Bundesamts ca. 680.000 Menschen (489.000 Studierende, 191.000 Schüler*innen) diese Zahlung und dabei durchschnittlich 503 € pro Monat. Legt man die Anzahl der Studierenden 2019 zugrunde, haben ca. 17 % aller deutschen Studenten im Jahr 2019 BAföG bekommen.
Dass das zu wenig ist, sollte klar sein. Denn ironischerweise sinken die BAföG-Empfängerquoten seit Jahren, obwohl die Anzahl der Studierenden insgesamt beständig wächst. Dafür wurden lange die zu niedrigen Beitragssätze verantwortlich gemacht, also die Grenzen, ab denen man weniger oder kein BAföG bekommt, weil die Eltern gut genug verdienen. Doch wie der Tagesspiegel berichtet, sinken die Zahlen auch nach den Reformen von 2019 weiterhin. Das liege laut Bundesbildungsministerin Karliczek an der guten Wirtschaftslage von 2019, die noch mehr Menschen über die Beitragsgrenze gehoben habe, für 2020 sei aufgrund der Pandemie aber mit mehr BAföG-Beziehern zu rechnen. Aber ist das ein zukunftsträchtiges Modell? Einfach darauf hoffen, dass wieder genug Menschen arm genug für das BAföG sind?
Die JuLis sind da – genauso wie ich – anderer Meinung. Nur gießen sie aus meiner Sicht das Kind mit dem Bade aus. Denn ihre Forderung lautet verkürzt: BAföG für Alle! So können und sollen in Zukunft alle "Schüler, Auszubildende und Studenten [...] ihren Talenten folgen". Im Konzept soll jedes Kind ab der 1. Klasse 500 € pro Monat erhalten, bis es seine Ausbildung abgeschlossen hat. Dabei würden andere Transferzahlungen wie das Kindergeld oder Unterhalt entfallen.
Dass dieser Vorschlag kein guter ist, zeigt sich auch dann, wenn man außen vor lässt, dass 500 € BAföG für die meisten Studierenden viel zu wenig ist. Auch wenn wir unterstellen, dass in einer konkreten Umsetzung des Vorschlags Erwachsene BAföG-Empfänger mehr als zu Hause lebende Kinder empfangen, bleibt ein Problem: die Gerechtigkeit. Denn diese Transferzahlung ist ein Instrument der Chancengerechtigkeit. Es soll unterprivilegierten Menschen helfen, sich soweit auf ihre schulische und später akademische Ausbildung zu konzentrieren, sodass sie am Ende mit annähernd gleichen Voraussetzungen in das Berufsleben starten können, wie Kinder, die ihr gesamtes Leben, dank ihrer Eltern, sorgenfrei leben konnten.
Und dass das bitter nötig ist, zeigt die aktuelle Entwicklung der sogenannten Schere zwischen Arm und Reich. Die Einkommensungleichheit bleibt in Deutschland ein zentrales Problem. So verdient laut statistischem Bundesamt das obere Fünftel der Deutschen seit zehn Jahren durchschnittlich 5,1 mal so viel wie das untere Fünftel. Und der Gini-Koeffizient, ein Maß, das die Einkommensungleichheit angibt, bewegte sich in den letzten zehn Jahren schwankend zwischen 28,3 und 31,1. Damit sind wir zwar immer noch weit entfernt von bspw. Südafrika mit einem Koeffizienten von 63,0, aber bemerken doch reale Probleme: so schrumpft das Vertrauen innerhalb der Gesellschaft und der gesellschaftliche Zusammenhalt. Der Ökonom Peter Grüner wies schon 2011 im Handelsblatt darauf hin, dass "der soziale Zusammenhalt gefährdet" sei, wenn sich die Einkommen zu stark unterscheiden. Der Artikel weist auch auf eine wissenschaftlich vertretene Meinung hin, dass "quasi alle sozialen und gesellschaftlichen Übel in einem engen Zusammenhang mit der Einkommensverteilung in einem Land stünden". Zudem ist es offensichtlich, dass in verkrusteten Systemen mit institutionalisierter Ungleichheit, die Aufstiegsmöglichkeiten für junge Menschen aus schwachen sozio-ökonomischen Verhältnissen kaum vorhanden sind.
Es muss sich also was tun und ein gutes Mittel dazu ist die Verbesserung der Chancengerechtigkeit. Niemand sollte dafür schlechter gestellt werden, dass seine Eltern nicht gut verdienen (sei es, weil sie nicht gut Deutsch sprechen oder selbst aus schwachen sozio-ökonomischen Verhältnissen stammen). Eine Umstellung auf ein elternunabhängiges BAföG würde dieser Gerechtigekeitskonzeption zuwiderlaufen. Ja man könnte sogar sagen, dass es – langfristig gesehen – ein weiterer Stein im Weg von sich nach oben kämpfenden, unterprivilegierten Menschen ist.
Denn ein elternunabhängiges BAföG träfe natürlich nicht nur Studenten, denen nicht von den Eltern geholfen werden kann. Sondern es käme auch denen zugute, die ohne Frage von ihren Eltern unterstützt werden. Ist doch nicht schlimm, könnte man einwerfen, wenn auch die Reichen ein bisschen mehr Geld haben. Doch, sehr sogar. Denn aus volkswirtschaftlicher Sicht bedeutet mehr Geld für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe eine einseitige Nachfrageerhöhung. Die klassische Volkswirtschaftslehre ist sich relativ klar darüber, was auf so eine Nachfrageerhöhung zwangsläufig folgt: die Preise steigen. Es bildet sich mittelfristig ein neues Marktgleichgewicht, in dem Angebot und Nachfrage auf einem höheren Niveau stehen bleiben (mehr verkaufte Produkte und höhere Preise).
Doch damit steigt dann auch gleichzeitig das allgemeine Preisniveau. Was gesamtgesellschaftlich vielleicht nur kleinere Auswirkungen hat, bedeutet für Studenten dann ganz konkret: höhere Mieten, teurere Lernmaterialien, höhere Freizeitkosten. Die, die eh schon wenig haben, profitieren also nur für eine kurze Zeit von einem BAföG für alle, bis sich die Preise ihres Bedarfs so weit angepasst haben, dass ihre staatliche Unterstützung in Kaufkraft viel weniger Wert ist, als sie es zum augenblicklichen Zeitpunkt unter den alten BAföG-Regeln ist. Ein allgemeines BAföG führt also kurzfristig zu einem Mehr für alle jungen Menschen und mittel- bis langfristig zu einem Mehr in der Inflation und damit zu einem Weniger für die Armen.
Darauf gehen die JuLis aber leider gar nicht ein. Ihre Bedenken beziehen sich auf eine höhere belastung des Staatshaushalts, die Unterhaltspflicht der Eltern, eine mögliche Verschuldung junger Menschen und dem Argument, dass Bildung in Deutschland weiterhin kostenfrei bleiben sollte. Das sind aus meiner Sicht aber Strohmann-Argumente, die sich denkbar leicht zerstreuen lassen: ja, der Staatshaushalt muss zusätzlich belastet werden, es ist aber eine Investition in die Zukunft, ja Eltern sollten ihre Kinder unterstützen und natürlich hilft das Familien mit mittleren Einkommen; auch die Rückzahlung des BAföGs kann man sicher irgendwie klären und dass das BAföG in erster Linie nicht für irgendwelche Bildungs-, sondern Lebenshaltungskosten da ist, liegt auf der Hand.
Die beiden viel wichtigeren Einwände, das Verschieben von der Chancengerechtigkeit hin zu einer egalitären Gerechtigkeit und der verringerte Nutzen der Maßnahme, aufgrund gestiegener Inflation, werden aber nicht betrachtet. Und hier kommt die anfänglich angesprochene Ideologie wieder ins Spiel. Wenn ich ein politisches Problem übderdenke, dann überlege ich immer, wie man denen helfen kann, die aktuell benachteiligt sind. Denn aus meiner Sicht sollte Politik immer danach streben, unser gemeinschaftliches und individuelles Leben stetig zu verbessern. Dazu ist es in diesem Fall wichtig zu gucken: wem geht es denn momentan schlecht mit den aktuellen Regelungen und wem nicht. Schlecht geht es den Studierenden, deren Eltern sie nicht unterstützen können und die deshalb darauf angewiesen sind, einen Nebenjob zu machen, um überhaupt über die Runden zu kommen (dass in solchen existenziellen Momenten auch die Studienleistung absinkt, ist offensichtlich). Nicht schlecht geht es den Studierenden, die von ihren Eltern unterstützt werden und die nur für ein höhreres verfügbares Einkommen arbeiten gehen oder es vielleicht überhaupt nicht nötig haben, neben ihrem Studium bis zu 20 Stunden die Woche zu arbeiten.
Daher sollte sich die Neuregelung auch auf diejenigen beschränken, denen es aktuell nicht gut geht. Ein "Geschenk" an die Kinder von Eltern, die ohnehin schon Unterstützung bekommen, wäre hier lieb gemeint, würde aber auch seinen Zweck verfehlen. Und da ist der Unterschied in der Ideologie: die JuLis fordern gerne Dinge, die die Haushalte mit mittleren und hohen Einkommen entlasten. Dass das auch zu unguten Ergebnissen führen kann, hoffe ich, hier gezeigt zu haben. Noch besser wäre es allerdings, wenn dieser Artikel bisher von der Idee des BAföGs für Alle überzeugte Leser zu einem Umdenken bewegt hat.
Denn dass das BAföG reformiert werden muss, sehe ich auch so. Aber einfach zu sagen 500 € für jeden werden es richten, ist keine vernünftige und auch keine gute Lösung. Viel eher hebt man die Beitragssätze an und vereinfacht das Antragsverfahren. Eine breit angelegte Informationskampagne würde ebenso dazu beitragen, dass wieder mehr Studenten BAföG beantragen und sich das Leben der Bedürftigen dadurch verbessert.
Meinung lebt vom Diskurs. Mich würde deine brennend interessieren. Lass sie mir hier da oder schreib mir gerne auf Twitter: @WikiRogi
Anmerkung: Der Twitter-User @Luca_9_ hat mich nach Veröffentlichung zurecht darauf hingewiesen, dass die FDP mittlerweile die Forderung nach einem elternunabhängigen BAföG von ihrer Jugendorganisation übernommen hat. Anders als die JuLis, die einen festen Betrag für alle fordern, der durch ein zusätzliches Darlehen aufgestockt werden kann, will die FDP ein "Baukasten-BAföG". Dabei soll jeder Empfänger 200 € "Bildungsgeld" (anstelle des Kindergeldes) bekommen, das im Fall von mindestens zehn Stunden Erwerbstätigkeit oder ehrenamtlicher Arbeit um weitere 200 € bezuschusst wird. Dazu kommt ein frei wählbarer Darlehensbetrag, der die gesamte BAföG-Förderung auf bis zu 1.000 € pro Monat wachsen lässt.
Um den Artikel nicht unnötig aufzublähen: auch das löst die Probleme der Chancengerechtigkeit aus meiner Sicht nicht. Zwar fordert die FDP gleichzeitig ein Ende der Unterhaltspflicht der Eltern, es ist aber durchaus anzunehmen, dass auch in Zukunft gutverdienende Eltern ihre Kinder neben einem allgemeinen BAföG fördern würden. Die Ungleichheiten würden also fortgeschrieben, einzig ihre Zusammensetzung würde sich möglicherweise verändern. Auch die Bindung von 200 € als nicht-zurückzuzahlendem Zuschuss an Arbeit, bringt aus meiner Sicht Probleme mit sich. Denn in Extrem-Situationen wie in diesem Jahr z.B. zeigt sich, dass viele Studierende ihre Nebenjobs verloren haben und auch so schnell nicht unbedingt etwas passendes nachfinden können. Doch selbst wenn man dieses Jahr als Ausnahme betrachtet und annimmt, dass sich so eine Extrem-Situation nicht mehr wiederholt, bleiben aus meiner Sicht mögliche ethische Probleme: denn es verschiebt die verstandene Essenz einer akdemischen oder schulischen Ausbildung. Statt wie bislang anzunehmen, dass sich eine Studentin möglichst umfassend auf ihr Studium konzentrieren soll und selbstständig und frei entscheiden kann, ob sie sich über einen Nebenjob Geld verdienen möchte, wird ihr jetzt die Pistole auf die Brust gesetzt und gesagt, dass sie, wenn sie nicht arbeiten geht, später die summierten 200 € pro Monat mehr zurückzahlen muss. Damit verliert die Ausbildung ihren einzigartigen gesellschaftlichen Stellenwert.
Ich werde über das Ganze nochmal mit den neuen Informationen im Kopf nachdenken und dann ggf. in einem weiteren Artikel niederschreiben. Bis dahin freue ich mich auf weitere Anmerkungen und Ergänzungen!
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