Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) "Wie wir Leistung messen, ist nicht zeitgemäß" (Interview mit Patricia Drewes)

Warum gibt es nicht mehr Erleichterungen für die Abiturienten?

So, wie unser Schulsystem funktioniert, sehe ich tatsächlich nicht mehr Spielraum. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir grundsätzlich eine andere Prüfungskultur brauchen. Die Art, wie wir Leistung messen, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Pandemie macht das gerade deutlich sichtbar.

Wo liegt das Grundproblem?

Es wird noch immer zu viel auswendig Gelerntes abgefragt und zu wenig Wissenstransfer und Selbstwirksamkeit in Prüfungen ermöglicht. Leistung darf nur unter steter Kontrolle erbracht werden. Die Selektionsfunktion steht vielfach im Vordergrund: Am Ende einer Unterrichtseinheit wird geschaut, wer eine Leistung erbracht hat und wer nicht. Dann wendet man sich etwas Neuem zu. Es ist viel sinnvoller, den Schülern vermehrt auch während des Lernprozesses zurückzumelden, wo sie stehen und wie sie sich verbessern können.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Die Schüler meines Geschichtskurses haben kürzlich im Geschichtsunterricht an individuellen Projekten über Migration im 20. Jahrhundert gearbeitet, etwa zur Flucht aus der DDR oder zu "Gastarbeitern" in Deutschland. Ich habe sie dabei begleitet. Anschließend gab es eine Open-Media-Klausur. Das heißt, Hilfsmittel waren erlaubt. Ich war erstaunt, wie fundiert diese 15-Jährigen mit den zugrunde liegenden Quellen umgegangen sind. Es stand nicht die Reproduktion von Zahlen oder vermeintlichen Fakten im Vordergrund. Stattdessen war mehr Zeit für die Formulierung individueller Sach- und Werturteile, die kein Hilfsmittel abnehmen kann. (Lilith Volkert, SZ)

Diese Kritik ist alles andere als neu, aber es passiert praktisch nichts in dieser Richtung. Zwar wurde das Abitur durch die Reformen der letzten Jahre deutlich schwieriger und auch inhaltlich fordernder. Aber die Künstlichkeit der Prüfung und die Irrelevanz des Prüfungsformats für später wurde eher vertieft, als dass man da Lösungen angehen würde. Wir erschaffen unglaublich künstliche Prüfungssituationen, die mit jeder technischen Neuerung aufwändiger werden (das geht soweit, dass eine absurde Diskussion über das Aufstellen von Störsendern betrieben wird) und gleichzeitig genau jene Kompetenzen verhindern und aus der Prüfung halten sollen, die wir eigentlich später wollen, dass die Schüler*innen sie meistern können - konkret Recherche und Teamarbeit. Was für ein unglaublicher Blödsinn.

2) Lasst die Kinder raus!

Die Kindheit ist bedroht. Und das nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Wie eine repräsentative Studie aus Großbritannien zeigt, werden heutige Kinder durchschnittlich erst mit elf Jahren von ihren Eltern auch mal unbeaufsichtigt zum Spielen ins Freie geschickt. Als die Eltern selbst noch Kinder waren, durften sie schon mit neun Jahren draußen alleine oder mit Freunden Quatsch machen. Und die Großeltern? Noch früher. Die Auswirkungen, die diese Entwicklung für Körper und Geist der sogenannten "Generation Z" sowie für die Gesellschaft insgesamt darstellt, sie sind noch nicht absehbar. Fast 2000 Eltern von fünf- bis elfjährigen Kindern wurden für die "British Children's Play Survey" befragt, das Ergebnis ist laut Studienleiterin Helen Dodd, Kinderpsychologin der Universität Reading, eindeutig: Heutige Kinder erhalten im Gegensatz zu früheren Generationen deutlich weniger die Gelegenheit, sich bereits in jungen Jahren auf eigene Faust mit der Außenwelt samt ihren Schönheiten und Gefahren auseinanderzusetzen. Dies führe dazu, dass Kinder auch im späteren Leben Risiken und Gefahren weniger gut einschätzen und verarbeiten könnten. Wer als Kind nur selten alleine oder mit gleichaltrigen Freunden oder Geschwistern unter freiem Himmel unterwegs sei, der leide bald auch psychisch. Bereits vor der Pandemie habe sich eine ganze Generation, so die Autoren der britischen Studie, in einer Art Dauer-Lockdown befunden. Zu jener Zeit sei es noch die elterliche Angst vor dem Verkehr, vor Sexualverbrechern, Gewalttätern oder der Aufnahme peinlicher Handyvideos durch andere Kinder gewesen, die die Eltern dazu verleiteten, die Haustür fest verschlossen zu halten. Dieser Zustand habe bei vielen Kindern zu Langeweile, Einsamkeit und Antriebslosigkeit geführt. Mit Corona sei die Situation nicht besser geworden. (Martin Zips, SZ)

Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, aber die Frage, ob die Kids alleine draußen spielen dürfen, sorgt bei uns für mehr Streit in der Ehe als alles andere. Bis zu einem gewissen Teil aber ist die Frage eh hinfällig, weil mit wem wöllten die Kinder draußen spielen? Die anderen Eltern lassen sie ja auch nicht raus. Ich war als Kind praktisch jeden Tag dauerhaft draußen, allein und unbeaufsichtigt. Heute gibt es das praktisch gar nicht. Die Eltern haben alle panische Angst vor bösen Menschen (danke an die Medien für die völlig realitätsferne Dauerbeschallung mit der drohenden Gefahr von Kinderschändern an jeder Ecke an dieser Stelle) oder dass sie überfahren werden. Letzteres ist tatsächlich eine größere Gefahr als zu meiner Zeit: im Vergleich zu den frühen 1990er Jahren ist das Pkw-Aufkommen heute um mehr als 50% höher. Das ist schon eine Ansage. Aber zutiefst problematisch ist dieser Trend dennoch. Wie man dagegen wirken sollte? Keine Ahnung.

3) Should Biden Pack the Supreme Court?

Today’s congressional Democratic leadership has kept their distance from the court-packing bill. Leaning on the President’s new blue ribbon commission exploring non-specific judicial reforms, House Speaker Nancy Pelosi said she has “no plans to bring [the bill] to the floor.” This is wise. FDR couldn’t move public opinion in favor of the bill, and he won his election by 20 more points than Biden. While there are far fewer conservative Democrats today than in 1937, a move to a floor vote could well have split the Democrats and harmed the rest of their agenda. But McConnell is correct that the threat still looms—which is a good thing. What if the Supreme Court moved in a radical right-wing direction now that it has a 6-3 conservative majority? What kind of backlash would materialize? Could it lead to big Democratic gains in the upcoming elections and give Biden a greater mandate to pack the Court than FDR had? The conservative Justices can’t know for sure, and they may not want to test the proposition with a slew of provocative rulings. John Roberts has shown for almost a decade that he’s happy to lead the march in a conservative direction, but not too quickly, avoiding some incendiary cases and defusing others—most notably, preserving Obamacare in 2012. This could explain why the Court has kept punting on the Mississippi 15-week abortion ban case. If the Court’s conservatives are ready to overturn Roe v. Wade, right now they would take the case. If they want to avoid needless divisiveness and protect their legitimacy, they will leave it alone. So long as the latter strategy appears to be in effect, that strongly suggests the conservative Justices see the dangling sword. Biden, Pelosi and Schumer are wise to keep it sheathed, and keep them guessing. (Bill Sher, Washington Monthly)

Die Frage ist letztlich rhetorisch; für Court-Packing hat Biden gar keine Mehrheit. Dafür müsste er nicht nur die Stimmen aller 50 demokratischen Senator*innen haben (die er nicht hat) als auch eine Mehrheit von 50 Stimmen für die Reform des Filibuster (die er erst recht nicht hat). Gleichwohl ist das Court Packing und die Diskussion darüber ein nützliches Werkzeug, weil sie wie in den 1930er Jahren als Warnung an den Supreme Court dienen kann. Wenn der Gerichtshof sich als allzu parteiischer und ideologisch einseitiger politischer Akteur erweist, muss sich die Politik den ihr zustehenden Handlungsspielraum anderweitig holen.

4) How Navalny Fell Short

Navalny’s primary base of support is young, middle-class professionals in major cities. Although Navalny has made an effort to broaden his appeal in recent years, many Russians still regard him with suspicion. A February poll from the Levada Center, the country’s leading independent pollster, found that only 19 percent of Russians approved of Navalny’s work, while 56 percent disapproved. The share of Russians willing to support Navalny for president is even smaller, just 2 percent. [...] Saveliev noted that only a fairly small percentage of Russians turned out for the pro-Navalny protests, something he attributed to the movement’s lack of a bigger political objective. “Navalny’s people did not have a coherent message beyond ‘Free Navalny’ and ‘Russia without Putin,’” he said. “Those are fun slogans, but they are not a tangible political program.” Further complicating matters for Navalny’s team is the fact that few Russians are in a revolutionary mood. Although Russia has experienced economic hardships in recent years, Russians have by and large adapted to them, explained Denis Volkov, deputy director at the Levada Center. “No one is ready for radical political changes,” he said. “Instead, most people want to see certain economic improvements such as higher wages and lower prices.” A skeptical public is not the only obstacle for Navalny. Alexey Chesnakov, a political analyst who previously served as a Kremlin aide, noted that all successful revolutions in Russia enjoyed the support of at least some part of the existing elite, who helped shift the balance of power by throwing its weight behind a political insurgent. But Chesnakov argued that Navalny’s attacks on the elite had caused its members to regard him as a “threat” and further consolidate around Putin. (Dimitri A. Simes, The American Conservative)

Ich muss zugeben, ich verstehe nicht, was Nawalnys Strategie ist. Das einzige, was er aktuell erreicht, ist, sich zum Märtyrer zu machen. Die Oppositionsbewegung in Russland ist schwach und zersplittert, und die Proteste, die hierzulande immer für Schlagzeilen sorgen, sind lächerlich gering. Das ist, als würden wir von einer Demo mit 3000 Teilnehmenden in Mobile, Alabama berichten. Putin sitzt fest im Sattel, der Wahlprozess ist so unter seiner Kontrolle, dass ein Erfolg von Oppositionellen bei Wahlen praktisch unmöglich ist. Alles, was da bleibt, sind trotzige Gesten. Das sind große Gesten, keine Frage, und es ist bewundernswert, was Nawalny und andere auf sich nehmen. Aber irgendeine Erfolgschance haben sie de facto nicht.

5) Stop Treating Friends like Foes

Neither of these controversies—which are not unique to India, as Washington also sanctioned Turkey over its purchase of S-400 missiles—should alter the positive trajectory of relations that both governments recognize as important. Nevertheless, national ego and image matter wherever government leaders gather. Unfortunately, the Biden administration made a poor start to an otherwise potentially beautiful friendship. Sanctions risk poisoning the relationship. [...] The new administration should more carefully coordinate its approach, pushing for sustained cooperation rather than alliance dependence, and making the locus of activity with America’s allies and partners rather than Washington. For, as noted earlier, to the extent that China’s military poses a threat, it is to those allies, not America. Already Delhi has had naval exercises, both bilateral and multilateral, and with Australia, Japan, the Philippines, and Vietnam. Just as Beijing hopes to deter American intervention in the Asia-Pacific, Washington’s friends together should forestall Chinese aggression in those same waters. Perhaps the most important factor for the U.S. to remember after Pompeo’s frequent self-immolations is how often Washington officials undermine their own policy. In the Cold War, other nations often spoke of the Ugly American. Today, Washington should ensure that other governments instead talk about the Ugly Chinese. (Doug Bandow, The American Conservative)

Ich stimme dem Artikel völlig zu, was die Zielrichtung und Taktik der außenpolitischen Handlungen angeht. Das Paradoxe an dem, was Bandow hier fordert, ist, dass es einen Idealismus in der Außenpolitik erfordert, eine Wertebasierung, den und die die Realisten ja gerade oft ablehnen. Auf der einen Seite erheben sie die Forderung, die USA mögen von ihrem hohen moralischen Ross herunterkommen und aufhören, die Welt bekehren zu wollen; auf der anderen Seite aber soll ja genau der moralische high ground wieder eingenommen werden, den man vor der "Normalisierung" der US-Außenpolitik unter Obama und besonders Trump hatte. Das scheint mir ein wenig die Quadratur des Kreises darzustellen.

6) Die Gesellschaft braucht Erinnerungsorte der Demokratie

Das Stiftungs-Konzept sucht die Entwicklung einzufangen, die sich bereits zuvor in Frankfurt aus der Diskussion um die Paulskirchen-Sanierung ergeben hat: dass nämlich ein in unmittelbarer Nähe – sei’s zu errichtendes, sei’s in einem Bestandsbau – unterzubringendes „Haus der Demokratie“ vonnöten ist, um darzustellen, was die Paulskirche in ihrer beim Wiederaufbau 1948 purifizierten Gestalt selbst nicht mitzuteilen vermag. Seit ihrem Wiederaufbau ist die Paulskirche eine nüchterne Raumhülle, genutzt für allerlei Veranstaltungen, aber nicht mehr erkennbar als der Ort des ersten frei gewählten, gesamtdeutschen Parlaments. Gewiss, die Paulskirche war seit den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs eine ausgeglühte Ruine. Doch mit dem Wiederaufbau wurde ihr jede Erinnerung an Revolution und Nationalversammlung ausgetrieben, zugunsten eines moralischen Imperativs – so in einem Wort der vier Wiederaufbau-Architekten über die neugeschaffene Raumfolge: „Wir wollten damit ein Bild des schweren Weges geben, den unser Volk in dieser seiner bittersten Stunde zu gehen hat.“ Die Worte von 1948 sind ihrerseits historisch geworden. Selbstverständlich ist der Wiederaufbau der Paulskirche in der Zeit schlimmster Not unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Teil der deutschen Demokratiegeschichte, aber weder der einzige noch der maßgebliche. [...] Eine im Papier benannte, lediglich als Verein konstituierte „Gesellschaft zur Erforschung der Demokratiegeschichte“ kann da kaum mehr sein als ein erster Versuch, Forschung anzuregen und zu bündeln. Gegenüber den gut ausgebauten Einrichtungen zur Erforschung der dunklen Kapitel deutscher Vergangenheit bedarf das zarte Pflänzchen Demokratiegeschichte noch erheblicher Pflege, um gleichermaßen Früchte zu tragen. (Bernhard Schulz, Tagesspiegel)

Schulz bringt einige sehr gute Punkte zur Erinnerungskultur. Der Nationalsozialismus ist tatsächlich auf eine schlechte Art zu prominent in unserer Erinnerungskultur verankert. Das heißt nicht, dass ich plötzlich einem Rechtsausleger wie Gauland zustimmen und die Periode als Fliegenschiss abtun möchte. Ganz im Gegenteil, die Aufarbeitung der dunklen Kapitel der deutschen Geschichte lässt einiges zu wünschen übrig.

Aber gleichzeitig ist unbestreitbar richtig, wofür etwa Hedwig Richter, Christoph Nonn oder Birte Förster gerade streiten: dass eine Normalisierung der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, eine Rekontextualisierung im Rahmen der Demokratiegeschichte, dringend notwendig ist. Die jüngste Aufmerksamkeit besonders, aber nicht nur, auf die Geschichte des Kaiserreichs ist da extrem hilfreich und hat zu einer wahnsinnig fruchtbaren Debatte geführt. Ähnliches wäre für 1848 auch durchaus angebracht, wo der öffentliche Diskurs - so überhaupt vorhanden - auf einem unterirdischen Niveau verläuft. Selbst für Weimarer Republik wäre es an der Zeit für ein größeres Schlaglicht.

7) GOP Stands Up to ‘Cancel Culture’ by Criminalizing Dissent

DeSantis’s law also makes the destruction of a memorial (including Confederate ones) a felony punishable by 15 years in prison; strong arms liberal city governments into adopting a more militant posture toward mass protests by making them liable for all property damages suffered by residents during an “unlawful assembly”; and makes blocking a highway into a felony offense. Finally, as indicated above, the law establishes civil immunity for drivers who run over protesters unlawfully congregated in a street. These last items are worth dwelling on. It is essentially impossible to hold a spontaneous demonstration in an American city without illegally congregating in a street. And obstructing traffic has long been recognized as a legitimate form of nonviolent civil disobedience. When Alabama governor George Wallace wished to justify the violent suppression of the Selma marchers in 1965, he did so by citing the threat the civil-rights protesters posed to traffic on U.S. Route 80. [...] Yet it would be a mistake (or at least, imprecise) to regard the GOP’s simultaneous opposition to “cancel culture” and support for criminalizing dissent as hypocritical. Although the former is often expressed through civil libertarian rhetoric, and the latter through authoritarian policy, the two positions are actually of a piece. The conservative movement has a principled view on freedom of expression, but the principle is that Republicans should use state power to promote conservative speech and deter progressive dissent. In substance, the GOP’s “anti-cancel culture” agenda is broadly similar to its anti-protest one; in both cases, Republican officials aim to use public policy as a tool for increasing the costs of anti-conservative speech. [...] It’s plain then that the GOP’s opposition to “cancel culture” is not rooted in support for open debate untrammeled by economic coercion. Rather, the party’s concern is with social liberalism’s burgeoning cultural hegemony. [...] Florida’s anti-protest law is surely motivated, in part, by an earnest desire to deter riots, which have victimized many innocent Americans over the past year. But the legislation’s heavy burdens on nonviolent dissent aren’t incidental. They reflect a broader authoritarian turn in conservative politics. For Republican activists in 2021, any manifestation of progressive power — whether it be a street demonstration, corporate statement, or Democratic election victory — is itself a form of unlawful disorder; and authorities shouldn’t let constitutional niceties get in the way of restoring the peace. (Eric Levitz, New York Magazine)

Wie in meinem Artikel zur Cancel-Culture bereits beschreiben geht es denjenigen, die dieses Wort im Munde führen, im Allgemeinen nicht um Meinungs- oder Pressefreiheit, sondern um die Dominanz des Diskurses. Nirgendwo wird das so deutlich wie bei den Republicans, die jeglichen demokratisch-pluralistischen Boden verlassen haben und eine autokratische Partei geworden sind, die sich im Gefolge Putins, Erdogans, Jinpings und Orbans wesentlich wohler fühlt als in dem Trudeaus, Merkels, Macrons oder selbst Johnsons.

Man sehe sich nur einmal an, was diese Leute hier machen. Die Republicans stehen mit solcher Gesetzgebung natürlich in einer langen amerikanischen Tradition, Widerspruch zur herrschenden Meinung mit drakonischen Strafen zu unterdrücken. Ob Anarchisten in den 1910er Jahren, Kriegsgegner während des Ersten Weltkriegs, Sozialisten in den frühen 1920er Jahren, Kommunisten zu allen Zeiten, Abolitionisten im 19. Jahrhundert - stets erließen sie Gesetze, die massiv die Meinungsfreiheit einschränkten und zahllose Unschuldige hinter Gitter und um ihre Existenz brachten.

Genau dasselbe tut die GOP nun auch wieder. Dabei sollte man annehmen, dass wir eigentlich weiter sind. Aber wie verhalten der Aufschrei dagegen ist, dass die Partei in Florida es quasi legal macht, unliebsame Demonstrierende zu überfahren (!) ist schockierend. Andererseits hat Florida auch Gesetze erlassen, die es praktisch legal machen, unliebsame Schwarze einfach zu erschießen ("stand your ground law"), ohne dass das bisher zu einem Umdenken geführt hätte. Es ist echt übel.

8) Das große Brüsseler Baerbock-Rätsel

In Brüssel halten es viele Beobachter zumindest für ausgemacht, dass es tief greifende Veränderungen gäbe. »Inhaltlich wäre eine grüne Kanzlerschaft ein erheblicher Bruch mit der aktuellen Bundesregierung«, sagt etwa Guntram Wolff, Direktor des einflussreichen Brüsseler Thinktanks Bruegel. Für Nicolai von Ondarza, Europapolitikexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), wäre es gar eine »kleine Revolution«, wenn die Grünen nicht nur erstmals ein EU-Land führen würden, sondern gleich das mit den meisten Einwohnern und der größten Wirtschaft. Zudem stünden auf einer ganzen Reihe von Feldern Kurswechsel an, sollte Baerbock ihre eigenen Ankündigungen oder das Wahlprogramm der Grünen ernst nehmen. Da wäre etwa die Klimapolitik. Erst diese Woche hat die EU nach monatelangen Verhandlungen beschlossen, ihre Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Den Grünen ist das nicht genug: Auf EU-Ebene haben sie zuletzt 60 Prozent gefordert, für Deutschland sollen es gar 70 Prozent sein. Das würde wahrscheinlich nicht nur zu heftigem Ärger mit der deutschen Industrie, sondern auch mit östlichen EU-Ländern wie Polen führen, die noch stark vom Kohlestrom abhängen. Überhaupt, der Osten. »Die Positionen der Grünen in Sachen Migration, Rechtsstaatlichkeit und LGBTQ-Rechten bergen erheblichen Konfliktstoff mit den Partnern in Mittel- und Osteuropa«, sagt SWP-Mann Ondarza. Ein EU-Diplomat drückt es so aus: »Da werden vor der Bundestagswahl manche die Luft anhalten.« [...] Dass die Grünen und Baerbock den Abzug aller US-Atomwaffen aus Europa und den Beitritt Deutschlands zum globalen Atomwaffenverbotsvertrag fordern, dürfte wiederum den Argwohn der Balten und Osteuropäer herausfordern, die sich von Russland bedroht fühlen. Mit einer solchen Position läge Baerbock auch mit der ebenfalls in Brüssel beheimateten Nato über Kreuz. [...] Das von der Kommission bereits fertig ausgehandelte, aber noch nicht ratifizierte Freihandelsabkommen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten lehnen die Grünen als »umweltschädlich« ab. Selbst am Ceta-Abkommen mit Kanada, das in Teilen bereits vorläufig in Kraft ist, melden sie »erhebliche Kritik« an und wollen es in der derzeitigen Fassung nicht ratifizieren. [...] Allerdings müsste Baerbock das nicht nur gegenüber ihrem Koalitionspartner oder ihren -partnerinnen durchsetzen. Auch in Brüssel hätte sie zumindest anfangs einen schweren Stand, schon weil sie eine Grüne ist. Unter den 27 EU-Kommissarinnen und Kommissaren befindet sich keine Grüne und kein Grüner, das Gleiche gilt für den Rat der Staats- und Regierungschefs. (Marcus Becker, SpiegelOnline)

Ein sehr interessanter Artikel, der mögliche Konflikte der Grünen auf europäischer Ebene aufzeigt. Das ist auch abseits Baerbocks Kanzlerschaftschancen relevant, weil die Grünen sehr wahrscheinlich irgendwie an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein werden; und wenn sei das sein werden vermutlich mit dem Außenministerium oder dem Kanzleramt, also direkter außenpolitischer Beteiligung.

Es ist merkwürdig, dass neben der CDU ausgerechnet die Grünen die letzte Stütze von Westbindung und NATO in Deutschland sind. Und beide Parteien wackeln hier in letzter Zeit auch; die Ostverbände der CDU zeigen eine ostentative Putin-Freundlichkeit, und Armin Laschets Irrlichtereien sind auch besorgniserregend. Das ist das einzige Feld, auf dem ich Friedrich Merz vorgezogen hätte. Die im Artikel angesprochenen Merkwürdigkeiten der Grünen dürften aber auch für Stresspunkte sorgen, ob bei Ceta oder beim Atomwaffenverbotsvertrag.

Die Debatte zeigt ganz generell das Abseits, in dem die deutsche Außenpolitik sich beriets länger befindt. Bei der LINKEn ist man das ja gewohnt, von der AfD hat glaube ich auch nie jemand etwas erwartet. Aber der Totalabsturz der SPD auf diesem Feld in der vergangenen Legislaturperiode und die mehr als erratischen Äußerungen führender FDP-Politiker*innen, besonders Lindners und Kubickis, zeigen auch hier einen deutlichen Schwung hin zu populistischen Haltungen, die bislang eher die Provinienz von links und rechts außen waren. Deutschland verabschiedet sich praktisch von der internationalen Bühne in einem Moment, in dem es sich das weniger leisten kann als je zuvor.

9) Kretschmer reist nach Moskau – im Dienste der kulturellen Beziehungen?

Da kommt der Besuch von Kretschmer den russischen Funktionären mehr als gelegen. Moskaus Staatsmedien zeigten zuletzt gern die Vertreter der AfD als Zeichen dafür, dass es trotz aller Spannungen im deutsch-russischen Verhältnis auch Lichtblicke gebe. Der sächsische Bundestagsabgeordnete Tino Chrupalla hatte im Dezember sogar eine Audienz bei Russlands Außenminister Sergej Lawrow. [...] Regierungschef Kretschmer verteidigt seinen Trip mitten in der Corona-Pandemie als Reise im Dienste der kulturellen Beziehungen. [...] In der öffentlichen Wahrnehmung dürfte sich der Fokus nun darauf richten, welche Termine Kretschmer sonst noch hat. „Die Wiederbelebung eines solchen Gesprächs ist aus meiner Sicht auf allen Ebenen bitter nötig“, sagt er. Dabei gehe es nicht nur um Politik, sondern auch um Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. In freundschaftlichen Beziehungen könnten und müssen auch schwierige Themen besprochen werden. Mit seiner Reise will Kretschmer „daran mitwirken, dass Deutschland und Russland einander wieder differenzierter wahrnehmen“. Sachsen wolle als Deutschlands Brücke nach Mittel- und Osteuropa dabei Vorreiter sein. Rückendeckung bekommt Sachsens Regierungs-Chef von seinem Stellvertreter in der Regierung – Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD). Kontakte ins Ausland dürften gerade in der Pandemie nicht abreißen, sagt Dulig. „Für Ostdeutschland und speziell für Sachsen hat Russland schon immer einen hohen Stellenwert.“ (DPA, RND)

Wo wir es gerade von irrlichternden CDU-Ostverbänden hatten, hier ein Paradebeispiel. Meinem Eindruck nach ist dieses Putin-Kuscheln mittlerweile ein fester Bestandteil der Landespolitik in den neuen Bundesländern, wo die Ansichten zu Russland hart unterschiedlich zu denen in den alten Bundesländern sind auch 30 Jahre nach der Einheit die Ablehnung des Westens noch durch eine ostentative Freundlichkeit gegenüber Russland kompensiert wird. Wie gesagt, bisher hat das eigentlich nur die LINKE gemacht, aber seit die AfD im Osten reüssiert und dieses Erfolgsrezept kopiert, sind auch CDU und FDP auf den Zug aufgesprungen (die SPD sowieso, aber die spielen da ja keine Rolle, und die Grünen sind im Osten ja praktisch nicht existent).

Meine Arbeitsthese ist, dass es sich dabei letztlich weniger um ernsthafte Außenpolitik sondern um ostdeutsche Identitätspolitik handelt. Man zeigt seine "Eigenständigkeit" und streckt den Mittelfinger zu den Wessis und Amis. Nur passiert das halt nicht im Vakuum, und der Unsinn ergibt politisches Heu, das Putin dreschen kann. Kretschmers Besuch ist daher genauso beknackt wie die Idee, Sputnik V zu bestellen. Selbst wenn die Impfstoffe zugelassen und gekauft würde, sie würden nicht rechtzeitig eintreffen, um die deutsche Impfquote zu erhöhen. Alles, was hier getan wird, ist Putin Trümpfe in die Hand zu geben.

10) Zum Glück haben Söder und Habeck die Machtkämpfe verloren

Das Interview ist für mich der schlagende Beweis dafür, warum es richtig war, Annalena Baerbock zur historischen Figur der Grünen zu erheben. Robert Habeck ist zweifellos ein bemerkenswerter Politiker, aber er wirkt auf mich oft so, als sei er im Übermaß mit sich selbst beschäftigt, als beobachtete er sich selber dabei, wie er redet und argumentiert und in Talkshows neben anderen Politikern aus anderen Parteien sitzt und sich von ihnen unterscheidet. Nicht zufällig unterliefen ihm Fehler, offenbarte er Wissenslücken und fiel im Rennen mit Annalena Baerbock zurück. Mit seinem Interview hat sich Robert Habeck einen Bärendienst erwiesen. Besser hätte er einfach geschwiegen, anstatt der "Zeit" seine Gefühle plakativ zu offenbaren. Einige Grüne dürften es ihm übel nehmen und Annalena Baerbock weiß spätestens jetzt, wo seine Loyalität offenbar endet. [...] Auch die beiden Unterlegenen haben Entscheidendes gemeinsam. Bei Robert Habeck und Markus Söder dreht sich vieles ums Ich. Wenn Söder sagt, die Union müsse "sexy und solide" zugleich sein, dann verstehen wir ihn richtig, wenn wir denken, dass er sexy und solide sei. Würde Armin Laschet das Wort "sexy" in den Mund nehmen, würden wir uns kringeln. [...] Habeck und Söder sind Individualisten und nehmen sich als Person wichtiger als die Sache, die sie vertreten. Damit soll nicht gesagt sein, dass sie schlechte Kanzlerkandidaten gewesen wären, aber sie sind eben nicht zufällig unterwegs auf Grund gelaufen. (Gerhard Spörl, T-Online)

Ich finde diese Argumentationslinie unsagbar blödsinnig. Ach was, Söder und Habeck wären gerne Bundeskanzler geworden? Und Baerbock und Laschet nicht, oder wie? Diese Idee, dass man sich "rufen" lassen müsse und sich nicht um das Amt bewerben darf, sollte eigentlich mittlerweile echt ausgestorben sein, aber sie hält sich super hartnäckig. Das hat auch wenig mit Loyalität zu tun. Natürlich ist Habeck enttäuscht. Söder sicherlich auch. Das dürfen sie auch sein. Und Laschet und Baerbock wären in einem unfassbaren Ausmaß naiv wenn sie annähmen, dass dem nicht so wäre. Was also soll das? Wer den Spitzenjob will, der muss drum kämpfen. Parteivorsitzende, die das nicht wollen, haben ihren Beruf erfüllt (Seitenblick zur SPD-Parteiführung an dieser Stelle). Der einzige Grund, dass Lindners Hut nicht in diesem Ring liegt ist, dass er keinerlei Chance hat. Und eine Blamage in die Richtung reicht der FDP glaube ich. Aber sonst würde er sicher auch Anspruch erheben, und völlig zu Recht.

11) US-Häftling ist 27 Jahre auf der Flucht – bis jetzt

Ein Gefangener, der vor 27 Jahren aus einem Gefängnis im US-Bundesstaat Nevada geflohen ist, befindet sich wieder in Haft. Er sei in Mexiko verhaftet worden, berichtet der US-Nachrichtensender "CNN" mit Berufung auf das Justizministerium von Nevada. [...] Der 52-Jährige war 1992 dem "CNN" zufolge zu einer 40-jährigen Haftstrafe verurteilt worden. Er habe betrunken einen schweren Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein 18-Jähriger starb und zwei weitere Menschen schwer verletzt wurden. (lw, T-Online)

Was mich an dieser Geschichte absolut fasziniert: der Mann wird zu 40 Jahren (!) Haft verurteilt. Seit 27 Jahren ist er auf der Flucht. In dieser Zeit hat er keinerlei weitere Verbrechen begangen. Warum um Gottes Willen wollte man ihn für 40 Jahre wegsperren?! Das amerikanische Justizsystem mit seinen drakonischen Haftstrafen ist völlig pervers. Selbst wir in Deutschland vergeben viel zu viele und zu lange Haftstrafen.

Ein wesentlich besseres System wird seit Längerem von den Proponenten der so genannten "restaurativen Gerechtigkeit" (restorative justice) vertreten. Es wird im brillanten Podcast von Chris Hayes näher erklärt, aber in aller Kürze geht es darum, nicht die Täter zu bestrafen, sondern sie zum Ausgleich zu verpflichten. Gefängnisstrafen gäbe es dann nur noch für Leute, die gefährlich sind.

Das hat gleich mehrere Vorteile. Die riesigen Kosten für die Gesellschaft würden deutlich sinken. Die Opfer der Tat hätten etwas davon, weil der Täter sich tatsächlich intensiv mit den Folgen und Kosten seiner Tat auseinandersetzen und Abhilfe schaffen muss. Statt in einen ewigen Kreislauf der Gewalt einzutreten, der am Ende nur Verlierer*innen zurücklässt, könnte man ihn brechen und tatsächlich Gutes tun.

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