Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Haushalt 2024: Verkehrspolitik bringt Mobilitätswende außer Sicht
Der Bundeshaushalt 2024 sieht für das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) 44 Milliarden Euro vor, was eine deutliche Erhöhung gegenüber dem ursprünglichen Plan darstellt. Schwerpunkt liegt auf der Sanierung und dem Ausbau der Auto-Infrastruktur. Im Vergleich dazu erhalten das Wirtschafts- und Klimaschutzministerium sowie das Umweltministerium deutlich geringere Budgets. Dies wirft Fragen bezüglich der Priorisierung in der Klimapolitik auf, insbesondere da große Investitionen in Wind- und Solarindustrie erschwert werden. Wesentliche Einnahmen für den Verkehrshaushalt stammen aus der Lkw-Maut. Trotz der Klimadebatte bleibt der Ausbau der Autoinfrastruktur mit hohen Investitionen ein Hauptpunkt. Die Deutsche Bahn soll für die Netzertüchtigung 4,37 Milliarden Euro erhalten, aber unter Vorbehalt einer Finanzierungsvereinbarung. Mittel für nichtbundeseigene Schienenwege und das Radverkehrs-Sonderprogramm „Stadt und Land“ wurden reduziert. Trotz der Notwendigkeit, umweltschädliche Subventionen zu reduzieren, bleibt dies in der Verkehrspolitik der FDP ein Tabuthema. Es erfolgen weiterhin staatliche Förderungen für Dienstwagen und Diesel. Die fehlenden Mittel für umweltschädliche Subventionen gehen zulasten von Naturschutz und nachhaltiger Fischerei. Insgesamt bestehen Bedenken, dass Deutschland durch die aktuelle Haushaltspolitik im Verkehrsbereich die EU-Klimaziele gefährden könnte. (Christiane Schulzki-Haddouti, Riffreporter)
Wir haben hier im Blog massenhaft gute Argumente gehört, warum der Staat ganz dringend in Straßen investieren muss und dort keinesfalls kürzen darf; Argumente, die, das sei gesagt, unter der Prämisse des motorisierten Individualverkehrs völlig einsichtig sind. Aber wie Ariane und ich unter dem Schlagwort von "wenn man kürzt ist nachher weniger da" schon öfter diskutiert haben: Kürzungen haben Opportunitätskosten, und zwar massive. Wissings Politik fürs Auto steht in einem krassen Missverhältnis. Da alle kürzen müssen (der Schuldenbremsenideologie sei Dank), beim Auto aber nicht gekürzt werden darf (der Autoideologie sei Dank), müssen die Kürzungen in den anderen Bereichen umso drastischer ausfallen. Und dass die Bahn jetzt nicht unter einem Überschuss an Mitteln leidet und das deutsche Radwegenetz so löchrig ist, dass sich manches Netz als Wolldecke fühlen darf, kann man auch als gesetzt annehmen. Wissing ist aus dem Aspekt der Mobilitätswende und des Klimaschutzes ein Totalausfall. Gegen seinen Amtsvorgänger steht er natürlich als leuchtendes Vorbild da, aber die Hürde "besser als Andi Scheuer" ist auch so niedrig, dass man ein Loch für sie gegraben hat.
2) Werden „Tagesschau“ und „Heute“ der Größe der Demos gegen Rechts gerecht?
In Deutschland finden derzeit massive Proteste gegen Rechts statt, die hunderttausende Menschen in über 100 Städten umfassen. Diese Demonstrationen werden von Medien wie dem „Spiegel“ und regionalen Programmen umfassend berichtet, stoßen jedoch in Bezug auf die Berichterstattung in den Fernsehnachrichten auf Kritik. Es wird bemängelt, dass andere Themen wie der Bahnstreik oder der neue dänische König in den Nachrichten Vorrang erhalten und die Demonstrationen nicht die gebührende Aufmerksamkeit bekommen. Die Kritik bezieht sich auch darauf, dass die Zahl der Teilnehmenden in den Medien heruntergespielt wird. Die Nachrichtenauswahl und -reihenfolge in den öffentlich-rechtlichen Medien scheint routinemäßig zu sein, was einige als unzureichend empfinden angesichts der wahrgenommenen Bedrohung durch die AfD. Diskutiert wird, ob Medien angesichts der politischen Lage einen anderen Modus annehmen und aktiver gegen Rechts vorgehen sollten. Dabei geht es um die Frage, ob Medien aus ihren Routinen ausbrechen und sich stärker mit den Demonstrierenden und ihrem Anliegen identifizieren sollten. Die Antwort auf diese Frage ist komplex und nicht eindeutig. Es wird argumentiert, dass journalistische Standards des Recherchierens, Berichtens und Einordnens ausreichen sollten, während andere für eine aktivistischere Berichterstattung plädieren. ARD und ZDF stehen vor der Herausforderung, zu entscheiden, wie sie am besten demokratische Werte verteidigen können. (Stefan Niggemeier, Übermedien)
Ich nehme die Kritik, die man von links häufiger hört (und die Ariane und ich im Podcast völlig unterschlagen haben) gerne als Beispiel dafür, dass die Öffentlich-Rechtlichen halt doch nicht ganz der Hort linksradikaler Meinungsfindung sind, als die manche sie im ideologischen Grabenkrieg gerne darstellen. Davon abgesehen: die Kritik ist in meinen Augen unberechtigt. Ich halte Niggemeiers analytischen Rahmen hier für völlig korrekt: sie macht nur unter der Prämisse Sinn, dass den Medien die Aufgabe zukommen würde, sich von ihrem normalen überparteilichen Modus zu lösen und aktiv zur Partei zu werden. Man kann das verargumentieren - "eine Herrschaft der AfD gefährdet die Freie Presse in ihrem Kern, und sie muss sich dagegen zur Wehr setzen" - aber es ist völlig legitim, diese Meinung nicht zu teilen. Ich bin da ähnlich unentschlossen wie Niggemeier.
3) "Diesem Land geht es so gut wie fast noch nie" (Interview mit Ilko-Sascha Kowalczuk)
Ilko-Sascha Kowalczuk zieht Vergleiche zur friedlichen Revolution 1989 in der DDR. Er sieht zwei unterschiedliche Herangehensweisen an Ereignisse: Entweder man betrachtet sie objektiv oder mit einer vorgefassten Erwartungshaltung. Kowalczuk betont, dass Deutschland in einem guten Zustand sei, trotz der Wahrnehmung vieler Bürger, dass es dem Land schlecht gehe. Dies sei besonders im Osten ausgeprägter als im Westen. Kowalczuk sieht die Ursachen für das sinkende Vertrauen in Institutionen in Ostdeutschland in der Verunsicherung und Überforderung der Menschen. Die dramatischen Erhebungen in Sachsen seien im ganzen Osten ähnlich, würden aber im Westen nicht wesentlich ermutigender aussehen. Er plädiert dafür, diejenigen zu wertschätzen, die das Land am Laufen halten, und sich nicht von Extremisten und Spaltern beeinflussen zu lassen. Der Historiker spricht sich gegen die Erwartung aus, dass die Politik nach demoskopischen Erhebungen handeln sollte, und betont die Bedeutung von Kompromissen in einer Demokratie. Er sieht die Gefahr, dass viele die Vergangenheit verklären und sich inmitten einer überwältigenden Transformation befinden, die besonders im Osten heftiger ist als im Westen. Kowalczuk schlägt vor, eine Bewegung für eine neue Verfassung zu initiieren, um ein starkes Argument gegen die Feinde der Demokratie zu haben. Er ist skeptisch gegenüber einem AfD-Verbot und sieht die Notwendigkeit, die Stärke der Demokratie zu betonen. Abschließend äußert er seine Besorgnis über einen wachsenden Drang nach autoritären Strukturen in Deutschland. (Miriam Hollstein, Stern)
Auf der einen Seite hat Kowalczuk natürlich Recht, und ich habe null Geduld für die antikapitalistischen Narrative und negative Geduld für ostalgischen Blödsinn und Sozialismus-Romantik. Allerdings ist die Feststellung, dass die wirtschaftlichen Kennzahlen besser sind als je zuvor und es den Deutschen global gesehen total dufte geht genauso wichtig wie nutzlos. Wir vergleichen uns immer nach oben oder wenigstens zur Seite, nie nach unten, und Leuten zu sagen, dass es ihnen in Wahrheit total gut geht, während sie sich selbst nicht so fühlen, ist ungefähr so hilfreich wie darauf zu verweisen, dass dieses Jahr nur 200.000 Flüchtlinge nach Deutschland kamen und nicht 220.000 und deswegen eigentlich alles irgendwie halb so schlimm sei.
4) Nein, Joe Biden ist nicht senil
In einer jüngsten Rede kritisierte US-Präsident Joe Biden seinen Vorgänger Donald Trump scharf. Biden, der als ein rüstiger 81-Jähriger beschrieben wird, hob hervor, dass Trump gefallene US-Soldaten abwertend bezeichnet hatte. Bidens Redegewandtheit und Engagement wurden gelobt, und es wurde auf seine kraftvollen Reaktionen auf internationale Ereignisse wie das Pogrom in Tel Aviv oder die russische Invasion in der Ukraine verwiesen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters wird Biden als geistig rege und aktiv dargestellt. Seine angebliche Senilität, oft in rechtsradikalen Medien propagiert, wird als Gerücht entlarvt. Es wird darauf hingewiesen, dass Biden schon immer genuschelt hat, teilweise bedingt durch sein Stottern. Bidens Erfolge als US-Präsident werden hervorgehoben, darunter die Stabilisierung der US-Wirtschaft und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Der Vorwurf der Senilität wird als rechtsradikale Propaganda zur Ablenkung von Trumps eigenen Problemen gesehen. Die Kritik einiger Medien an Biden wird hinterfragt. Amerikanische Journalisten haben Biden oft unterschätzt, und es wird spekuliert, dass die Medienbranche unter Trump finanziell profitierte. Deutsche Journalisten könnten Bidens vermeintliche Hinfälligkeit unkritisch übernehmen, möglicherweise aufgrund von Antiamerikanismus oder Unwissenheit. Schließlich wird ein Vergleich zwischen Biden und Konrad Adenauer gezogen. Beide werden als unterschätzte, weise und listige Staatsmänner dargestellt, die bedeutende Veränderungen in ihren Ländern bewirkten. Biden wird als geschickter Taktiker beschrieben, der Trump in der kommenden Wahl herausfordern könnte. (Hannes Stein, Welt)
In Kürze: Alles, was Hannes Stein zum Thema Senilität und Wahlkampf sagt. Völlig richtig, 100% Zustimmung. Aber meine Güte, sind die historischen Analogien quatschig. Ja, auch Adenauer war rüstig. Aber "Keine Experimente" war der Slogan der Bundestagswahl 1957, nicht 1949 oder 1953, wie Stein suggeriert. Unter Adenauer wurde die Bundesrepublik zwar weltoffenER und liberalER als sie vorher war, aber das war gegen erbitterten Widerstand des "Alten" und nicht irgendein Teil seiner Agenda, anders als das bei Biden ist. Was sich Adenauer als verändernden Verdienst auf die Fahnen schreiben kann ist die Westbindung, aber dass die BRD ein Rechtsstaat wurde ist eher trotz als wegen ihm passiert, und entscheidende Wegmarken dafür liegen auch nach seinem Abgang. Man sollte die Nostalgie in Zaum halten.
Auch die Argumentation, die Medien würden aus wirtschaftlichen Gründen "die Ente schwimmen lassen", sind hanebüchen. "Die Medien" koordinieren keine solchen Kampagnen, weder rechte noch linke. Es gibt keine koordinierte Medienkampagne für neoliberale Reformen, keine für die Klimakleber, keine gegen die CDU und keine gegen die Grünen. Es gibt ein ausgeprägtes Herdenverhalten, unglaublich faule Takes, die alle voneinander abschreiben, das ganz Ding. Das sind natürlich auch "wirtschaftliche Gründe". Aber diese Idee, dass irgendwer das koordiniert, ist Unfug. Der Takt wird von Klickzahlen vorgegeben und dass Leute diesen dummen Klatsch und Tratsch, der ihre eigenen Vorurteile bestätigt, lesen wollen. Fertig.
5) Eine zahme Letzte Generation braucht niemand
Die Protestbewegung "Letzte Generation", bekannt für ihre Straßenblockaden mittels Sekundenkleber, plant eine strategische Neuausrichtung ihrer Aktionen. Diese Blockaden, ihr sogenanntes "signature protest", hatten für viel Aufsehen und teils harsche Kritik gesorgt, aber auch rechtliche Konsequenzen nach sich gezogen. Der Wechsel in der Strategie soll eine Antwort auf die veränderte gesellschaftliche und politische Landschaft darstellen. Das Ende der Klebeaktionen wird als angemessener Schritt betrachtet, da die Zielsetzung dieser Proteste oft willkürlich erschien und hauptsächlich zufällige Bürgerinnen und Bürger traf, statt politische Entscheidungsträger direkt anzusprechen. Diese Herangehensweise erleichterte es Politikern, sich nicht mit der unzureichenden Klimapolitik auseinandersetzen zu müssen. Mit dem Wegfall der Klebeaktionen als Ausrede werden nun die wahren politischen Herausforderungen im Klimaschutz deutlicher sichtbar. Trotzdem wird betont, dass die Klimabewegung weiterhin einen radikalen und störenden Teil benötigt, um nicht in Bedeutungslosigkeit zu verfallen. Die Bewegung "Letzte Generation" hat angekündigt, sich künftig auf "ungehorsame Versammlungen" zu konzentrieren und strebt eine Massenmobilisierung von bis zu 800.000 Menschen an. Diese neue Ausrichtung zielt darauf ab, mehr Menschen in den Protest einzubinden, wobei noch unklar ist, wie genau diese Versammlungen aussehen sollen. Die Veränderung in der Strategie der "Letzten Generation" wirft Fragen auf, ob dies eine sinnvolle Neuausrichtung ist, insbesondere da Deutschland bereits eine anschlussfähige Klimabewegung in Form von "Fridays for Future" hat. Der Artikel schließt mit der Überlegung, ob die Neuausrichtung der Bewegung erfolgreich sein wird oder ob sie dadurch an Bedeutung verlieren könnte. (Philipp Kollenbroich, Spiegel)
Ich hab immer schon gesagt, dass ich a) nicht besonders viel von den Methoden der Letzten Generation halte und b) sie offensichtlich sehr erfolgreich im Erzeugen von Aufmerksamkeit sind. Ich bin ansonsten bei Kollenbroich: würde die Letzte Generation aufhören, ihren bestenfalls halblegalen Kram durchzuziehen, könnte sie sich auflösen, weil dafür gibt es Fridays for Future, und die sind seit Jahren nur noch in den Nachrichten, wenn Greta Thunberg irgendwas Dummes zu Palästina sagt. Eine Massenmobilisierung von 800.000 Menschen (das "bis zu" leistet eine Menge Arbeit) ist eine Ansage. Ich sehe nicht, wie die das hinkriegen wollen, vor allem mit "ungehorsamen Versammlungen", aber darauf kommt es ja letztlich nicht an. Wenn die Bürgerlichen wieder so überreagieren wie das letzte Mal, kriegen die eine Aufmerksamkeit als ob sie das geschafft hätten. A propos Überreaktion: Wie dumm war das Gerede von Klima-RAF und der Radikalisierung bitte? Das war es schon vor einem Jahr, aber angesichts dieser Entwicklung erst Recht. Ist den Leuten hoffentlich etwas peinlich.
Resterampe
a) VDS = Rechtsradikalen-Verein
b) EZB stabiler Wachstumskiller. Siehe auch hier.
c) Nachdenklich-kritischer Essay zu Identitätspolitik.
d) Wer wacht über die Wächter? Super Artikel zur Debatte zum BVerfG im letzten Vermischten.
e) Noch mehr Deutsche, die Streiks nicht verstehen. Immerhin ehrlich dazu. Und Alter, die Bio passt wie Arsch auf Eimer.
f) Tolles Interview mit Jürgen Zimmerer zur Erinnerungskultur. Zum selben Thema ebenso grßartig Friedmann.
g) Palästinsensischer Kindergarten, scheinbar.
h) Die Wirtschaftsweisen fordern ebenfalls eine Reform der Schuldenbremse. Die FAZ ist empört.
i) Can we ever satisfy conservatives? Nein, und wie Drum richtig sagt, andersrum geht's auch nicht.
j) Guter Thread zu KI-Bildern. (Bluesky)
k) Diese Grünen sind schon echt radikal. Geradezu extremistisch.
Fertiggestellt am 31.01.2024
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