Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Grüne und FDP wollen offenbar die Bahn aufspalten

Die Grünen und die FDP wollen die Bahn zerschlagen. Das berichtet der "Spiegel". Demnach haben die Koalitionspartner am Dienstag darüber verhandelt, wie es mit dem Schienenkonzern weitergehen soll, denn dieser spielt bei der Verkehrswende eine wichtige Rolle. Dabei sollen sich die beiden kleineren Parteien für eine grundlegende Neuaufstellung der Aktiengesellschaft, die zu 100 Prozent im Besitz des Bundes ist, ausgesprochen haben. Die Pläne sollen Wettbewerbern wie Flixtrain eine bessere Chance geben.  [...] Vor allem die Grünen sehen in der Bahn einen wichtigen Bestandteil der Klimapolitik. So soll das Unternehmen bis 2030 doppelt so viele Fahrgäste transportieren. Die FDP möchte hingegen mehr Konkurrenz im Fernverkehr schaffen und den profitablen Logistikkonzern DB Schenker verkaufen. Mit dem Geld sollen Schulden getilgt und Investitionen getätigt werden. [...] Auf Widerstand treffen die Pläne jedoch bei der SPD. Die Partei möchte die Bahn nicht aufspalten, denn sie macht sich Sorgen um eine veränderte Arbeitnehmervertretung des Konzerns. So fürchtet die einflussreiche Gewerkschaft EVG, dass ihre Konkurrenz, die GDL, an Einfluss gewinnen könnte. Deren Chef Claus Weselsky hatte während einer Tarifauseinandersetzung im Sommer bereits die Aufspaltung gefordert. (kgl, T-Online)

Die Geschichte der Bahn ist eine Geschichte voll verkorkster Reformen, die bis mindestens in die 1990er Jahre zurückgeht. Die beiden größten Fehler waren wohl der Versuch, sie einerseits als Gesamtkonzern zu erhalten (also mit Schienennetz/Infrastruktur) und gleichzeitig als rentables Privatunternehmen aufzustellen und andererseits, sie im Hinblick auf einen Börsengang als einen integrierten Megakonzern aufzustellen. Entweder das eine oder das andere. Das hat man bei der Telekom wesentlich besser, wenngleich bei weitem nicht gut, gemacht.

Aber es ist vollkommener Blödsinn, dass die unprofitabelste sparte der DEUTSCHEN BAHN, mit der der Konzern DEUTSCHE BAHN am wenigsten zu tun haben will, die Bahn ist. Schenker, mit dem sich der Laden effektiv selbst Konkurrenz macht, zu verkaufen, ist längst überfällig. Auch die Trennung des Schienennetzes vom Konzern und Überführung in eine staatliche Holding - der dann von mir aus auch die Privatisierung der Bahn folgen kann - ist absolut sinnvoll. Oder man behält die Bahn als Staatskonzern, aber eine Bahn, die eben nur der Bahn dient. Und akzeptiert dann auch, dass sie nie, in tausend kalten Wintern nicht, profitabel sein wird, schon allein, weil sei den gesellschaftlich wichtigen Auftrag erfüllt, auch das unrentable flache Land angeschlossen zu haben.

Das im Übrigen ist auch die größte Herausforderung von Privatisierungsvorstellungen. Will man nicht ein Bahnsystem wie im UK oder Frankreich, das zwar in und zwischen den Metropolen großartig, sonst aber praktisch nicht-existent ist, wird man um große Subventionen nicht herumkommen. Man kann die in beliebige Töpfe stecken, wenn man die direkten Subventionen an ein Staatsunternehmen vermeiden will, aber um die Kosten wird man nicht rumkommen.

Als letzter Kommentar: hier sehen wir wieder mal das Potenzial der Ampel: die Fortschrittskoalition aus Grünen und FDP kann Themen angehen, die unter SPD und CDU völlig unmöglich waren. Man sieht das auch an obigem Ausschnitt: die SPD sperrt sich nicht aus sachlichen Gründen, sondern wegen der (berechtigten!) Ängste der Belegschaft vor massiven Verschlechterungen. Aber das ist ein technisches Problem, kein grundlegendes.

2) Eine Ampel für Europa: Perspektiven nach der Bundestagswahl in Deutschland

Die nächste deutsche Regierung wird noch gespaltener sein als ihre Vorgänger. Mit drei Koalitionspartnern wird der nächste Bundeskanzler gezwungen sein, Differenzen auf politischer Ebene auszugleichen, was seine Handlungs- und Einflussmöglichkeiten auf europäischer Ebene einschränken könnte – zumindest in den ersten Monaten seiner Amtszeit. Die Aufteilung der Ministerien auf die drei Parteien wird entscheidend sein. Die Kooperationsfähigkeit der Ministerien wird sich auf die Handlungsfähigkeit Deutschlands auf europäischer Ebene auswirken. Jedenfalls wird die nächste deutsche Regierung eine pro-europäische sein. Wie erwähnt ist unter einer Ampelkoalition kein grundlegender Wandel in der deutschen Europapolitik zu erwarten, auch wenn die Vorsitzenden der Parteien entschlossen sind, einen Neuanfang für Deutschland zu begründen. Wie mutig die Regierung die europäische Integration vorantreiben wird, bleibt jedoch abzuwarten. Alles in allem wird von der nächsten deutschen Regierung erwartet, dass sie eine konstruktive Rolle in Europa spielt und dabei klug zwischen Kontinuität und Wandel wählt. (Funda Tekin/İlke Toygür, Der Europäische Föderalist)

Ich empfehle denk kompletten Artikel zur Lektüre, der die europäischen Perspektiven ausführlich beleuchtet; ich habe hier nur das Fazit wiedergegeben. Aber so sehr ich auch die FDP im Finanzministerium fürchte, so sehr mögen auf vielen anderen Fällen Fortschritte möglich sein. Mit der CDU geht die größte Blockadepartei Deutschlands in die Opposition; allein das erlaubt viele Möglichkeiten. Und Grüne und FDP sind gerade auf dem europäischen Feld abgesehen von ihren Kernbereichen - Austerität hier, Green New Deal dort - weitgehend unbeschriebene Blätter und dürften einen größeren Handlungsspielraum haben als die Merkel-CDU nach 16 Jahren.

3) Wir sind die Geiseln der Corona-Schwurbler

Dieses Vergnügen bereiten sich nicht nur Politiker ganz links und ganz rechts und Lügner im Netz. Auch manche Medien entdecken den Flirt mit der Pandemieskepsis für sich, lassen geschickt manches weg, fügen hier und da eine Provokation hinzu. "Weg mit der Maske, der Umwelt zuliebe!" tönt die "Bild"-Zeitung, natürlich mit einem, haha, "Augenzwinkern". Man badet im Applaus der Skeptiker und zählt die Neu-Abonnenten. Eine Umkehr - undenkbar. An der Spitze einer Bewegung ist vor allem eines wichtig: dort zu bleiben. Die Realität hat keine Chance. Verschwörungsidioten konnten gefahrlos in Telegramgruppen verkünden, dass Ende September aber nun wirklich alle Geimpften tot umfallen. Anfang Oktober verzapften sie irgendeinen anderen Mist - die Impfskeptiker sind eine erstaunlich unskeptische Herde. Alles andere müsste ja bedeuten, den eigenen Irrweg als solchen einzuräumen. "Ich war zu dumm, um mathematische Zusammenhänge und empirische Ambivalenzen einer Pandemie zu verarbeiten und habe mich deshalb irgendwelchen Scharlatanen an den Hals geworfen, ich bitte um Verzeihung und möchte einmal Biontech links bitte und sehr gern einen Termin für die Zweit- und Drittimpfung!" Nein, das passt nicht zur eigenen Biografievergoldung, nämlich der Geschichte, man habe den Lug und Betrug von "denen da oben" von Anfang an durchblickt. Die Verführer stört niemand bei ihrer Verrichtung. Keine Bevölkerungsgruppe wird derzeit so umpudert und umgarnt wie die Impfskeptiker: Pädagogik statt Piks, nur nicht reizen! Obwohl viele von ihnen sich aus Gemeinwesen und Rationalität mit erhobenem Mittelfinger verabschiedet haben, aus Trotz oder geistigem Unvermögen, halten sie die matte Restbevölkerung in Geiselhaft. Wir sprechen über Impfskeptiker wie über einen reizbaren Kidnapper, der im Unterhemd am Küchentisch sitzt, mit einem Revolver hantiert und bei den kleinsten Widerworten auszurasten droht. Wir behausen eine Wutrepublik, in der eine Minderheit von Trotzköpfen sich nicht um Todesopfer und Freiheitsverluste der anderen schert. Weil sich der Staat - auch angesichts einer Bundestagswahl - nicht einmal zu einer Impfpflicht für Pflegekräfte durchringen konnte, tragen andere jetzt die Leichensäcke aus den Heimen. [...] Und die neue Regierung? Die FDP verdankt ihre nahende Regierungsbeteiligung auch einem konsequenten Freiheitsbekenntnis in der Pandemie. Daran ist nichts falsch, aber Teile dieses Zuspruchs werden in sich zusammenfallen, wenn man nun mit Maßnahmen wie einer Impfpflicht anrückt. 2G auszurollen und Stubenarrest für die Ungeimpften zu verhängen, ist zum Glück Länderangelegenheit - wer wagt es? Wer zaudert? Es ist wie immer: chaotisch. [...] Freiheit muss man erkämpfen, manchmal durch zwei bis drei Pflicht-Pikse in den Oberarm. Das erfordert Pragmatismus und Entschlusskraft. (Henrik Wieduwilt, NTV)

Niemanden, der dieses Blog öfter liest, wird überrascht sein, dass ich den Artikel feiere, 100% zustimme und ihn am liebsten komplett hier zitiert hätte. Ich will daher auf ein anderes thema eingehen, nämlich wie sehr die Haltung zu den Impfungen und Corona-Schutzmaßnahmen mittlerweile spaltet und wie unüberbrückbar der Graben hier, anders als bei vielen anderen Themen, mittlerweile ist. Die oft bemühte Forderung, man müsse miteinander reden, läuft hier völlig ins Leere (wie auch Bodo Ramelow erkannt hat).

Letztlich geht es um unterschiedliche Definitionen von "Freiheit"; wir haben das ja hier im Blog in diversen Diskussionen etwa zwischen mir und Stefan Pietsch auch gesehen. Das sind Unterschiede, für die sich kein Kompromiss finden lässt, weil die Situation binär ist. Und da unser Alltag direkt berührt ist, ist das Thema auch entsprechend allen wichtig. Und die Berührung zentraler Lebensbereiche macht es auch so unmöglich, mal Fünfe gerade sein zu lassen, was viele andere Themen in einer solchen Situation entschärfen würde.

Marco Herack macht die gleiche Beobachtung und vergleicht es mit der Ukraine-Krise 2014. Ich bin nicht sicher, inwieweit der Vergleich trägt, aber es ist definitiv korrekt.

4) Schluss mit den Klima-Mythen

Der erste Mythos ist, gute Klimapolitik sei schlechte Wirtschaftspolitik, wir könnten es uns also gar nicht leisten, so ambitionierte Klimaschutzziele mit einer Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen. Nicht wenige lehnen massive Zukunftsinvestitionen in den Klimaschutz mit dem Hinweis ab, dies sei zu teuer, würde Schulden schaffen, Arbeitsplätze zerstören und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gefährden. Aber das Gegenteil trifft zu: Wenn Deutschland es nicht schafft, auch technologisch eine Vorreiterrolle zu spielen, werden viele deutsche Unternehmen im globalen Wettbewerb das Nachsehen haben. Dann werden gute Arbeitsplätze ins Ausland verlegt, der Wohlstand wäre gefährdet.  [...] Der zweite Mythos ist, dass der Klimaschutz die soziale Polarisierung verschärfe und vor allem Menschen mit geringen Einkommen treffe. Gerne führen Politikerinnen und Politiker das Beispiel der Pendlerin vom Land mit wenig Einkommen an, die sich den Liter Benzin für zwei Euro nicht leisten kann. [...] Der dritte Mythos ist, Zukunftsinvestitionen in den Klimaschutz verursachten hohe Schulden für künftige Generationen, sodass keine Generationengerechtigkeit mehr gewährleistet sei. (Marcel Fratzscher, ZEIT)

Auch hier dürfte wie in Fundstück 3 keine regelmäßigen Lesenden dieses Blogs überraschen, dass ich Fratzscher völlig zustimme. Diese Mythen sind schädlich und haben sich über Jahrzehnte zu einer bequemen Selbstverständlichkeit gemausert, die ich letzthin etwa bei Markus Lanz kritisierte. Wann immer ein Thema über Jahrzehnte läuft, wie das beim Klimawandel mittlerweile der Fall ist, verfestigt sich ein veralteter Wissensstand zum "common sense", werden Veränderungen kaum mehr wahrgenommen, bis die Umstände oder eine neue Debatte zur Reevaluation zwingen, was dann entsprechend schmerzhaft für jene ist, die alte Gewohnheiten hinterfragt bekommen. Man sieht das in der Geschichtswissenschaft zum Beispiel gerade beim Streit um das Kaiserreich, wo die Debatte lange Zeit auf dem Sonderweg-Stand verkrustet war und die neuen Erkenntnisse kaum durchdrangen, was nun binnen Jahresfrist nachgeholt wird und entsprechend rüde verläuft.

5) Die Kuh lernt besser rülpsen (Interview mit Frank Mitloehner)

Das scheint dem Phänomen zu widersprechen, dass sogenannte Massentierhaltung vor allem in Industrieländern stattfindet.

Richtig. In den USA haben wir 9 Millionen Milchkühe, in Indien gibt es 300 Millionen. Aber wir produzieren deutlich mehr Milch mit unseren amerikanischen Kühen. Eine amerikanische Kuh liefert etwas mehr als 10.000 Liter pro Jahr, in Indien sind es 500 bis 1000, in afrikanischen Ländern 500 Liter. Diese geringe Produktivität pro Tier bedeutet, dass man viel mehr Tiere benötigt, um den Bedarf der Konsumenten zu befriedigen, und dies hat enorme Konsequenzen für die Umwelt. [...]

der westlichen Tierproduktion übernehmen? Heißt das: Massentierhaltung auf der ganzen Welt?

Dazu folgendes Beispiel, das den Begriff Massentierhaltung vielleicht etwas relativiert. Die USA hatten 1970 rund 140 Millionen Fleischrinder, heute haben wir 90 Millionen. Aber wir produzieren heute genauso viel Fleisch wie damals. Tendenziell muss dies weltweit geschehen: mehr mit weniger.

Produzieren die Hochleistungskühe nicht auch mehr Methan als ihre Vorgänger?

Das schon, aber trotzdem sparen wir dank des Fortschritts Methan ein. Beim US-Milchvieh hat sich der Bestand von 25 Millionen von 1950 auf heute neun Millionen verringert, die aber 60 Prozent mehr Milch produzieren. Das heißt, der CO2-Fußabdruck hat sich binnen 70 Jahren um zwei Drittel verringert. Das Gleiche gilt für Schweine und Geflügel. Wir müssen die Tierproduktion in Entwicklungsländern effizienter machen, um sie klimafreundlicher zu machen. [...]

Haben Sie denn trotz der gegenläufigen Entwicklung Hoffnung, dass die Landwirtschaft klimafreundlicher werden kann?

Ja, vielleicht hilft wieder ein Beispiel. China ist ein enormer Fleischkonsument und -produzent. In China leben die Hälfte aller Hausschweine, eine Milliarde. Das ist schon beeindruckend. Erschütternd ist, dass dort rund 400 Millionen Schweine vorzeitig an Krankheiten, schlechter Fütterung oder wegen anderer Faktoren eingehen. Mit besseren Standards in Fütterung, Tiermedizin und Genetik könnte China diese Zahl drastisch reduzieren. China könnte sich dann damit begnügen, nur halb so viele Schweine zu mästen, mit großen Folgen für den Klimaschutz. (Wienand von Petersdorff, FAZ)

Die gute Nachricht, die Mitloehner hier verkündet, dürfte neben der Viehhaltung viele andere Bereiche auch betreffen: die sich rapide verschlechternde Klimabilanz der "Zweiten Welt" dürfte zu großen Teilen durch Effizienzgewinne wieder aufzubessern sein. Schließlich ist an dem Argument, dass deutsche Kohlekraftwerke vermutlich etwas sauberer arbeiten als die in der chinesischen Provinz, durchaus was dran.

Aber: das ist alles auf einer sehr relativen Ebene. Insgesamt werden wir nicht umhinkommen, trotz aller Effizienzgewinne sowohl den Verbrauch fossiler Brennstoffe nahe null zu fahren als auch die Massentierhaltung INSGESAMT und nicht nur relativ deutlich zu reduzieren. Selbst wenn die indische Viehhaltung denselben Effizienzgrad wie die amerikanische erreicht, wäre damit wenig geholfen, weil die amerikanische alleine gewaltige Auswirkungen aufs Klima hat.

Und wir reden hier auch von Abmilderungen einer zu erwartetenden massiven Verschlimmerung durch das Aufholen der "emerging markets". Die chinesischen Emissionen sind ja noch nicht auf dem Höhepunkt, von denen Indiens oder Brasiliens ganz zu schweigen. Von daher ist dieses Interview für mich weniger ein "Yay, wir kriegen es hin", sondern ein "es ist nicht ganz so schlimm wie es aussieht".

6) Hoffen auf zwei Wunder

All das ist sattsam bekannt. Weniger bekannt ist, dass selbst die derzeit in Selbstverpflichtungen formulierten Ziele in Sachen Treibhausgasemissionen die Welt vermutlich 1,9 bis 3 Grad heißer werden lassen würden als vor der industriellen Revolution. Also weit mehr als die 1,5 Grad, die man in Paris noch angestrebt hatte. Die bislang verkündeten konkreten politischen Maßnahmen – das ist etwas anderes als Ziele! – führen uns in eine Welt, die im Jahr 2100 2,1 bis schlimmstenfalls fast 4 Grad heißer ist. [...] Die Gefahr ist jedoch groß, dass dieses Wunder von Glasgow ausbleibt – und zwar deshalb, weil die Regierungen der Welt noch immer auf ein anderes, zukünftiges Wunder hoffen: Auf eine magische Technologie, die es plötzlich tatsächlich, nicht nur als »Plan«, möglich macht, CO₂ in großem Stil schon beim Entstehen oder aus der Atmosphäre wieder einzufangen. Die nachträgliche Entfernung von Treibhausgasen ist schon jetzt ein ungern betonter Bestandteil aller Klimaberechnungen. Mit jedem Jahr, in dem die wichtigste Kurve der Welt weiter ansteigt, wird der zwangsläufig erforderliche Anteil dieser noch längst nicht sinnvoll einsatzbereiten Wundertechnologie an der Rettung der Menschheit vor sich selbst größer. Dabei hätten wir doch längst eine andere, schon einsatzbereite Wundertechnologie: erneuerbare Energien. [...] »Net Zero« irgendwann in der Zukunft ist deshalb eine Formulierung, auf die man mit ausgeprägtem Misstrauen reagieren sollte. Das Einzige, was zählt, sind konkrete, quantitativ angegebene und nachmessbare Reduktionen der Treibhausgasemissionen. Alles andere: im Zweifel Augenwischerei. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)

Und wo wir gerade beim Klimawandel sind: Gerade in den westlichen Ländern ist es absolut erschreckend, wie viel Bedeutung völlig hypothetischen Erfindungen zugeschrieben wird, die vielleicht in 20 oder 30 Jahren serienreif sind, vielleicht aber auch nicht. Wie ausgerechnet die Leute, die sonst in Grabesstimme davor warnen, unseren Kindern unsere heutigen Probleme zu hinterlassen, die Dose mit solcher Lust die Straße runtertreten, in der Hoffnung, dass ihre Enkel dann schon eine tolle Sache erfinden werden, ist atemberaubend.

7) Why Are We Letting Monopolists Corner Space?

While space junk has existed for decades, it’s evolving into a full-blown crisis because of the sudden overcrowding of commercial space by SpaceX’s Starlink program and Project Kuiper, a subsidiary of Amazon. By next year, the companies combined could operate more satellites in low Earth orbit than have ever launched into space, dating back to the 1950s. [...] The upsides of satellite technology shouldn’t be discounted. LEO satellites can provide high-speed and low-latency broadband to all corners of the world by flying in huge constellation forms to cover any targeted service areas. [...] So far, government agencies have failed to devise a proper regulatory strategy for organizing space as a public good rather than a playground for the egotistical ambitions of billionaires. By rapidly approving both companies’ satellite fleets and showering SpaceX with subsidies, regulators have all but given Musk and Bezos the keys to a kingdom in the sky. SpaceX’s near-total control over the rocket launch business, which is a barrier to entry, and band spectrum licenses have made the company a de facto arbiter of Earth’s orbit. [...] As the industry centralizes around SpaceX and Amazon, data gathering and surveillance are becoming major concerns. In 2017, President Trump signed a bill revoking a set of Obama-era privacy protections that restricted telecommunications companies from collecting web browser search history, location tracking, and other data from its customers. By rescinding those protections, the bill opened the floodgates for selling personal information to third parties. It also led to the centralization of data, which makes it easier for massive breaches by hackers such as the recent T-Mobile cyberattack. The same rules apply for satellite communications. (Luke Goldstein, Washington Monthly)

Die Sammlung von Weltraumschrott im All ist das nächste große Problem der Menschheit, das auch wegen weitgehender Untätigkeit vor sich hin eskaliert. Wie auch bei der Klimakrise ist die größte Gefahr die des Kipppunkts: das Problem wird nicht linear schlimmer, sondern wird irgendwann von "nervig" zu "desaströs" springen, ohne irgendeine Zwischenstufe. Der völlige Mangel an Versuchen globaler Governance und Regulierung zu dem Thema und das eklatante Fehlen technischer Lösungen zum "Einfangen" des Weltraumschrotts machen das zu einer Katastrophe mit Ansage.

Egomanische Milliardäre dann auch noch den Orbit als ihre persönliche Spielwiese gebrauchen zu lassen, auf der sie einerseits ihren Jungs-Träumen nachgehen können (seriously, William Shatner im All....?) und andererseits auch noch nebenbei einen elementaren Markt oligopolisieren, ist mehr als fahrlässig.

8) Wieso, läuft doch: Im dysfunktionalen Zustand Berlins haben sich viele gut eingerichtet

Nach NS-Diktatur, Krieg, Teilung und Wiedervereinigung war eine grössere Reform nötig, weil die östlichen Bezirke nun in das Stadtgebilde eingegliedert werden mussten. Seit 2001 hat die deutsche Hauptstadt zwölf Bezirke. Die Verwaltung ist zweistufig aufgebaut: Die Landesregierung, der Senat, kümmert sich um die gesamtstädtischen Belange, die Bezirke um die Bezirksangelegenheiten. Also – theoretisch. Was aber nun, wenn eine grosse Hauptstrasse durch mehrere Bezirke führt und einen Radweg bekommen soll? «Dann hat es gesamtstädtische Bedeutung und wird vom Senat erledigt» – könnte man annehmen. Dem ist aber nicht so. In Berlin entscheiden dann die Bezirke, und wenn nur einer von ihnen nicht will, dann gibt es keinen Radweg. Die politische Führung, in diesem Falle die Verkehrssenatorin, kann nur zuschauen. «Ein Durchgriffsrecht der Hauptverwaltung aufgrund gesamtstädtischer Bedeutung gibt es bei Radwegen nicht – wenn ein Bezirk sie also weder plant noch baut, aus welchen Gründen auch immer, können wir aktuell nichts tun, ausser dies zu kritisieren», bestätigt ihr Sprecher Jan Thomsen. [...] Das alles legt den Schluss nahe, dass das grössere Problem in der einstigen preussischen Hauptstadt nicht die Anzahl der Beschäftigten, sondern deren «innere Führung» und individuelle Haltung ist. «Der Leistungsgedanke in der Verwaltung ist nicht tot, bloss verschüttet», meint optimistisch der parteilose Noch-Abgeordnete Marcel Luthe. [...] Und drittens: Zumindest die Posten der Verwaltungsleiter müssten durch Bestenauslese besetzt werden. Ein Blick nach Bayern zeige: Viele Amtsleiter hätten dort kein Parteibuch, sagt Garmer. Sie seien stolz darauf, dass sie durch Leistung auf ihre Position gekommen seien. Selbst wenn die politische Ebene obendrüber dann ausfällt, läuft der Laden trotzdem. In Berlin gebe es die Trennung zwischen politischer Leitung und Verwaltungsleitung nicht. (Fatina Keilani, NZZ)

Es gibt Städte, deren Verwaltung ziemlich gut läuft, Städte, deren Verwaltung so lala läuft, Städte mit schlechter Verwaltung, und dann gibt es Berlin. Die Hauptstadt scheint nach allem, was man hört, schon ihre ganz eigene Qualität von mieser Verwaltung zu haben (ich hab kein persönlichen Erfahrungen). Die Suche nach der Ursache läuft zwar gerne entlang ideologischer Kampflinien (Bürokratie! Rot-Rot-Grün!), aber das allein reicht als Erklärung nicht aus. Bürokratie gibt es überall, und es gibt auch gut funktionierende Bürokratie. Die Beamt*innenmentalität kann es auch nicht sein, weil Berlin nicht verbeamtet (was im Übrigen im Bildungsbereich zu eklatanten Problemen bei der Gewinnung von Personal führt, nebenbei bemerkt). Und Berlin war schon vor R2G nicht gerade für seine gute Verwaltung gerühmt, wenngleich die Koalition sicher nichts getan hat, das die Lage gebessert hätte.

Meine Arbeitshypothese ist daher "es ist kompliziert". In Berlin dürfte eine ganze Menge zusammenkommen, und der NZZ-Artikel von Fatina Keilani gibt dieser Komplexität ja auch genügend Raum. Das Erbe Berlins als geteilte Stadt; die unsinnige Konstruktion, ein eigenes Bundesland, Hauptstadt und Großstadt zu sein; eine miese Regierungsbilanz (man sollte nicht vergessen, dass die aktuelle linke Dominanz auf einem üblen Missmanagment der Berliner CDU in den 1990er Jahren beruht); schlechte Strukturen in der Bürokratie; und so weiter und so fort. Und weil wie in jedem System immer auch genug Leute vom Status Quo profitieren, und ganz besonders die Entscheidungsebenen, gibt es auch wenig Hoffnung, dass sich das in Zukunft nenneswert bessert.

9) Unverschämte Ignoranz

Seit mehr als 20 Monaten folgt der Umgang mit dem Virus dem Prinzip Hoffnung: Möglichst lange abwarten, Zuversicht verbreiten, alle Warnungen ignorieren und hoffen, dass es vielleicht doch nicht so schlimm wird. Leider wurde es bislang jedes Mal schlimm. Worauf man sich jedes Mal aufs Neue überrascht gibt. [...] Und Deutschland scheitert derweil zum wiederholten Male am Prinzip Hoffnung. Auf das So-schlimm-wirds-schon-nicht-werden wird nun, so viel Prognose sei selbst in höchst unsicheren Zeiten gewagt, der zweite Akt der Arbeitsverweigerung folgen: Das Wir-sind-nicht-zuständig. Wozu leistet man sich den Luxus von 17 Regierungschefs? Die können nun erst einmal wieder darüber beraten, ob sie sich vielleicht demnächst zu einer Beratung treffen wollen. Unter dem Vorsitz einer Bundeskanzlerin, die bislang einer der ganz wenigen verlässlichen Pfeiler in der Corona-Politik war, nun aber nur noch geschäftsführend im Amt ist, ohne echtes Mandat und ohne Mehrheit im Bundestag. Natürlich steuern nicht alle Bundesländer und Gemeinden gleichermaßen schlecht durch die Pandemie. Aber zu oft orientiert sich die Ministerpräsidentenkonferenz an Minimalkompromissen und verwischt zugleich die Verantwortung. Mit ihrer realitätsverweigernden Rhetorik haben sich die Regierenden in eine Sackgasse manövriert: Eine Impfpflicht haben sie ebenso ausgeschlossen wie erneute Einschränkungen für Geimpfte. Nun bleibt die Wahl zwischen weiter steigenden Todeszahlen und Wortbruch. Das Vertrauen ist ohnehin fast aufgebraucht. Es könnte ein langer, dunkler Winter werden. (Christian Endt, ZEIT)

Das Faszinierende an der deutschen Corona-Politik ist, wie unglaublich inkompetent sie von oben ist (Landesregierungen, Jens Spahn), aber wie vergleichsweise gut die nachgeordneten Strukturen funktionieren. Deutschland ist zwar wahrlich kein Musterknabe, aber angesichts des geradezu absurden Verkackens auf den oberen Rängen wäre ein größeres Desaster zu erwarten, als tatsächlich existiert. Das deutet auf eine grundsätzlich gesunde Verwaltung und Gesellschaft hin, ein Gesundheitssystem, das wesentlich besser ist als sein Ruf (aber wesentlich schlechter, als es sein könnte).

Aber die politischen Dynamiken sind wahrlich zum Haare raufen. Seit zwei Jahren machen die Ministerpräsident*innen und Bundesregierenden die immer gleichen Fehler, rennen mit dem Kopf gegen immer dieselbe Wand. Warum sie glauben, das tun zu müssen, ist mir schleierhaft. Die Geiselnehmer, von denen Wieduwilt in Fundstück 3 spricht, sind zwar laut. Aber wie ihre eigenen Umfragen ihnen verraten dürften, sind sie eine verschwindend geringe Minderheit in der Bevölkerung. Die Feigheit unserer Regierenden ist mit Händen zu greifen. Die haben einfach aufgegeben.

10) Tweet

FDP plädiert für Abschaffung aller Sanktionen bei Hartz 4. https://t.co/NrFaBQuBpP

— Anakin Skywalker (@LordVaderDD) November 7, 2021

Mir ist natürlich klar, dass diese Ironie vor allem in der Wendung des Begriffs von Freiheit und Selbstverantwortung liegt und der Vergleich auf allen Ebenen hinkt; schließlich ist der große Unterschied beim Sozialsystem ja tatsächlich, dass jemand Anspruch erhebt, von den Leistungen anderer ausgehalten zu werden und dass daher auch andere Maßstäbe angelegt werden. Ich zitiere diesen Tweet hier vor allem deswegen, weil er meinen Punkt von Fundstück 3 weiter illustriert. Viele unserer Konflikte sind Normenstreits, die sich aus unterschiedlichen Interpretationen von Werten wie "Freiheit", "Selbstverantwortung" etc. herleiten. Es ist wenig hilfreich, sich gegenseitig mangelndes Rechtsstaatsverständnis u. Ä. vorzuwerfen. Man kann natürlich für die eigene Position werben, aber es ist nicht so, als ob es irgendwie rationale knock-out-Argumente gäbe, mit denen man die Debatte "gewinnen" kann. Letztlich können wir nur versuchen, unsere Sichtweisen zu verstehen, Kompromisse zu finden und eben andere für unsere Sicht der Dinge zu gewinnen. So zu tun, als wäre man im Besitz einer höheren Weisheit oder auf einer höheren moralischen Ebene führt dagegen zu relativ wenig.

11) Vorsicht vor falschen Helden der Stabilität

Das klingt gut und kommt an – und doch drängt sich bei so viel Stabilitätsrhetorik ein merkwürdig leeres Gefühl auf. Und die Frage, was mit »stabilitätsorientiert« genau gemeint ist. Immer vor Inflation warnen, wenn andere sie noch nicht sehen? Und im Zweifel dann für höhere Zinsen sein? Und überhaupt immer irgendwie mahnen? Und ob so ein Verständnis von Stabilität noch in die heutige Zeit passt. Oder die Bundesbank da vielleicht doch auch noch einen Mythos aus ihren ersten Jahrzehnten mit sich trägt. Ein Gedankengebäude, das nach wie vor wohlklingt, aber nur noch sehr bedingt praxistauglich ist – in Zeiten immer neuer Finanzkrisen, drohender Klimaschocks, auseinandergedrifteter Vermögen und einer tieferen Vertrauenskrise in die westlichen Demokratien. Dann bräuchte es mit einem neuen Chef auch eine moderne und wieder relevante Bundesbank-Idee. [...] Man braucht ein relativ enges Verständnis von Stabilität, um das, was die Bundesbanker damals unter der Stabilitätsflagge machten, als Stabilitätsbeitrag einzustufen. Sie nahmen vor lauter falschem deutschen Stabilitätseifer das Gegenteil in Kauf. Erst als auch der französische Franc attackiert wurde, sahen die Notenbanker ein, dass es ganz offenbar noch andere Dimensionen von Stabilität gibt, über die sie mitbestimmen. Und die für Menschen und Wohlstand im Land ziemlich wichtig sind. (Thomas Fricke, SpiegelOnline)

Auf der einen Seite bläst Thomas Fricke hier in dasselbe Horn, in das ich bereits bei meinem Artikel zum großen Paradigmenwechsel tutete. Ich will diesen daher zur auffrischenden Lektüre empfehlen und ansonsten noch einmal die Argumentationslinie aus Fundstück 3 und 10 aufgreifen: wir haben es auch bei "Stabilität" letztlich mit Werten und Ideologien zu tun (wie immer; wir Menschen können nicht ohne). Jahrzehntelang war eine bestimmte Lesart, ein bestimmtes Normengebäude dominant. In dem Moment, in dem diese Dominanz in Frage gestellt wird (wie es gerade unbestritten mit der klassischen Stabilitätslehre bundesbanklicher Prägung der Fall ist) kommt es zu einem Pushback.

Dasselbe sehen wir immer, wenn ein bestehender Konsens attackiert wird. Solche Streits können theoretisch in einer Affirmation des bestehenden Wertesystems enden, aber sie tun das eher selten. Der Grund dafür liegt in der Natur solcher Konflikte: sie brechen erst aus, wenn eine kritische Masse überhaupt schon erreicht ist. Das ist ja auch meine Argumentation bei der ganzen Gender-Debatte; oder, wie Aladdin el-Mafalaani herausgearbeitet hat, in der Integrationsdebatte. Die Tatsache, dass wir überhaupt darüber streiten, zeigt die Gewichtsverschiebung. In den 1990er Jahren wäre niemand auf die Idee gekommen, die Alternativen zu diskutieren, die nun auf der Tagesordnung stehen, weil das Wertesystem dominant war.

Das ist es mittlerweile nicht mehr; ergo der Streit. In der Zwischenzeit sind dafür andere Dinge, die damals umstritten waren, mittlerweile völlig aus dem Diskurs verschwunden. Entweder, weil sie übereinstimmend abgelehnt wurden, oder weil sie mittlerweile den neuen Normenkonsens darstellen - bis sie eines Tages wieder herausgefordert werden. Keine Sphäre ist davon ausgenommen; nicht Sprache, nicht Gesellschaft, nicht Wirtschaft.

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