Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Noch ist Europa nicht verloren

Die Zukunft der Erweiterung findet geographisch im Osten statt, und die Vertiefung hängt politisch von den Osteuropäern ab, somit geht es nicht ohne Polen. Polen hat – genau wie Frankreich – eine zentrale wirtschaftliche, geographische sowie sicherheitspolitische Bedeutung. Hier muss man aus der Not eine Tugend machen und im Weimarer Dreieck über Reformen nachdenken und im aktuell wichtigsten Politikfeld der EU, der Sicherheitspolitik, gemeinsam handeln. Das Trio muss Führungsverantwortung übernehmen und den Kern einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft bilden. Sie sollten de minimis gemeinsame sicherheitspolitische Leitlinien der drei Staaten erarbeiten, dem sich andere Europäer anschließen können. Mit mehr Mut könnten die drei auch ihre nationalen Streitkräfte operativ zu einer zusammenführen, über deren Einsatz gemeinsame entschieden wird. Da ein solcher Schritt kraft der französischen Nuklearteilstreitkraft zur Frage „force de frappe européenne?“ führen wird, sind die Beratungen darüber in den Staaten des Weimarer Dreiecks, der EU und der NATO unumgänglich. Darf man im Herbst 2022 Fragen der nuklearen Abschreckung in Europa an­sprechen? Weil Russland den Einsatz atomarer Waffen nicht mehr ausschließt, muss Europa diese Frage jetzt behandeln und einen Doppelbeschluss fassen: die eigene nukleare Abschreckung weiterentwickeln und gleichzeitig eine Plattform für Abrüstung von taktischen Atomwaffen und Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa initiieren. All das muss in den Rahmen der strategischen Planung der NATO eingebunden sein. Anders werden es Polen, die anderen Osteuropäer und demnächst die Skandinavier wegen ihrer unmittelbaren Wahrnehmung russischer Bedrohung auch nicht machen. So stärken europäische Verteidigungskapazitäten zugleich den lebensnotwendigen Zusammenhalt im atlantischen Bündnis und mittelfristig eine Abrüstung in Europa. Das fordert Vertrauen, und es fördert Vertrauen. (Wolfgang Schäuble, FAZ)

Die Bedeutung Polens für die deutsche Außenpolitik wird in meinen Augen tatsächlich unterschätzt. Große Teile der außenpolitisch interessierten Öffentlichkeit scheinen mir immer noch einer Nostalgie der deutsch-französischen Partnerschaft anzuhängen, die gerne als "Motor" der EU verklärt wird. Das war zutreffend, als die EG noch aus 15 Staaten bestand; vielleicht sogar in den frühen 2000er Jahren, als die Osterweiterung gerade ablief und diese Staaten noch Bittsteller in Brüssel waren. Aber es scheint immer wieder vergessen zu werden, dass Polen eines der größeren EU-Länder ist, auf einem Level mindestens mit dem (ebenso unterschätzten) Spanien, aber in unserer direkten Nachbarschaft und sicherlich wirtschaftlich wie politisch bedeutend.

Gerade in der Ukrainekrise zeigt sich das sehr gut. Ohne Polen läuft nichts. Das Land nimmt eine Menge Geflüchteter auf, die das deutsche Engagement von 2015 in den Schatten stellt, sein Militär und die militärische Nutzung seines Territoriums sind entscheidend für die Aufstellung der NATO und sein Stimmgewicht macht es als Partner unumgänglich. Gleichzeitig sind die außenpolitischen Instinkte Polens, anders als bei seinem ebenfalls illiberal geisterfahrenden zeitweise Verbündeten Ungarn, wesentlich westlicher orientiert, als das manchmal den Anschein hat. Deutschland sollte die Gelegenheit für ein rapprochment mit Warschau nutzen, das auch helfen könnte, die Allianz von Fidesz und PiS zu sprengen.

2) Machtwortmumpitz

Dass der Streit allerdings eskalierte, dass eine Nebenfrage zum Grundsatzkonflikt aufgeblasen wurde und die gesamte politische Elite des Landes wie besessen um drei funzelige AKW herumtanzte – das alles lag durchaus im Interesse des Bundeskanzlers. Je mehr die anderen streiten, desto besonnener wirkt er. Und wen die Leute für besonnen halten, dem vertrauen sie. Und wem sie vertrauen, den wählen sie. So ist das nun mal. Das vermeintliche Machtwort wurde nur nötig, weil Olaf Scholz zuvor jeden Anschein einer eigenen Haltung in der Frage vermied. Für die politische Kultur des Landes war das bestimmt nicht hilfreich, für die Person Olaf Scholz womöglich schon. [...] Wer etwa in den vergangenen Tagen mit führenden Grünen sprach, hörte auffällig laut den Wunsch, dass der Kanzler die Sache entscheiden müsse. Dies ist im Übrigen ganz und gar logisch: Die meisten führenden Grünen wissen, wie der Eiertanz der vergangenen Wochen um die Notfallreservekraftwerke der Partei geschadet hat. Doch die Grünen hätten in der Koalition ihre Verhandlungsposition mit der FDP geschwächt, wenn sie vor ihrem Parteitag am Wochenende eine weniger harte Formulierung in den Leitantrag des Delegiertentreffens geschrieben hätten – denn irgendein Kompromiss in der Regierung war da bereits zu erwarten. [...] Auch der FDP kommt das sogenannte Machtwort durchaus gelegen. Natürlich wussten die Liberalen, dass die Grünen einer Verlängerung der AKW-Laufzeit bis 2024 niemals zustimmen würden. Die dafür notwendige Beschaffung neuer Brennstäbe war schließlich die "rote Linie", die die Parteichefs vor dem Delegiertentreffen gezogen hatten. Doch bereits mit der Eskalation des Atomstreits hatten sie ein wesentliches taktisches Ziel erreicht: Sie hatten die Erzählung der Grünen als verbohrte Ideologen etabliert, die lieber die Versorgungssicherheit des Landes opfern als die eigenen Prinzipien – und damit auch die Möglichkeit, die Schuld für hohe Strompreise oder etwaige Blackouts bei den Grünen abzuladen. (Robert Pausch, ZEIT)

Ich bin über diesen Artikel so froh, weil er gegen den in den Medien leider endemischen Trend geht, diesen ganzen Berliner Theaterdonner immer mit größter Ernsthaftigkeit und ohne den Versuch jeder Einordnung 1:1 zu berichten. Die Tagesschau ist da ja ein besonderer Täter, was das angeht. Denn ich stimme Pausch voll zu. Nichts von alledem ist in irgendeiner Weise substanziell. Scholz profiliert sich, die Grünen beschwichtigen ihre Basis und die FDP die eigene, plus ein bisschen den Rivalen in schlechtes Licht stellen. Ein tatsächlicher Sachstreit existiert hier nicht, und das künstliche Drama um einen möglichen Koalitionsbruch ist einfach nur albern.

3) Klingbeil gesteht Fehler der SPD ein

Klingbeil nannte in seiner Rede konkret vier Fehleinschätzungen der SPD in der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges: Man habe daran geglaubt, dass die Geschichte beide Länder einander verpflichte. Dabei habe die SPD verkannt, dass der russische Präsident Wladimir Putin das anders sehe und die Geschichte für die autokratische Konsolidierung nach innen und seine Großmachtpolitik nach außen instrumentalisiere. Das Paradigma Wandel durch Annäherung habe zudem nicht funktioniert. Immer engere wirtschaftliche Verflechtungen hätten nicht zu einer stabileren europäischen Ordnung beigetragen. Drittens habe sich Deutschland mit seiner Energiepolitik abhängig von Russland gemacht. "Eine solch einseitige Abhängigkeit darf nie wieder passieren." Und zu guter Letzt seien die Interessen der ost- und mitteleuropäischen Partner nicht ausreichend berücksichtigt worden. Das habe zu einem massiven Vertrauensverlust geführt. (Tagesschau)

Es ist sehr gut, dass Klingbeil hier ein bisschen Aufarbeitung betreibt. Denn die SPD hat sich außenpolitisch schlicht verrannt, und die Unwilligkeit, diese Fehler einzugestehen, sorgt aktuell für eine sowohl widersprüchliche als auch schädliche Außenpolitik; von den bisher angehäuften Kosten (die nun durch die "Zeitenwende" im Eilverfahren aufgeholt werden müssen) einmal ganz abgesehen. Die CDU hat es hier leichter; in der Opposition kann sie so tun, als hätte sie diese Erkenntnisse immer schon gehabt. Und die FDP wird kaum beachtet, weil sie von den Ostpolitik-Nostalgikern der kleinste und unbedeutendste war.

Was mir sprachlich bei Klingbeil allerdings auffällt, ist die starke Nutzung des Passivs. Das Paradigma hat nicht funktioniert, Verflechtungen haben beigetragen, das Land sich abhängig gemacht, Interessen wurden nicht berücksichtigt. Wer vertrat das Paradigma? Wer schuf die Verflechtungen? Wer machte das Land abhängig? Wer beachtete Interessen nicht? Die konkreten Personen verschwinden im nebulösen, irgendwie "uns alle" umfassenden Passiv. Kein Wunder. Auch wenn es deutlich weniger sind als noch 2017-2021, so sitzen immer noch genügend dieser Leute im Bundestag und an entscheidenden Schaltstellen. Eine davon ist sogar das Kanzleramt. Das hat, als Baerbock das Thema im Wahlkampf anmahnte, niemanden interessiert, weil ihr Lebenslauf so viel wichtiger war. Aber wahr bleibt es trotzdem.

4) The Last Thatcherite

The outcome resulted in a divergence between the incentives of existing capitalism and the fairy tale of liberal utopia. Just as Brexiteers had discovered after the departure of the country from the European Union that the City of London actually didn’t want to be freed of the regulations that they were promising, the money markets were not waiting for an act of faith in Laffer Curve fundamentalism after all. This was “Reaganism without the dollar.” Without the confidence afforded to the global reserve currency, the pound went into free fall. [...] The framing captures the situation well. The scientists at the bench discovered that the money markets would not only punish left-wing experiments in changing the balance between states and markets, but they were also sensitive to experiments that pushed too far to the right. A cowed Ms. Truss apologized, and Mr. Kwarteng’s successor has reversed almost all of the planned cuts and limited the term for energy supports. (Quinn Slobodian, New York Times)

Ich muss ehrlich sagen, dass ich die wirtschaftlichen Hintergründe der Regierungskrise in Großbritannien jenseits von "Liz Truss hat eine reichlich extreme und stupide Politik betrieben" kaum durchdringe. Was mir hier allerdings auffällt, abgesehen von der Isolierung einer radikalen Blase innerhalb der Tories, die ich bereits im letzten Vermischten angesprochen habe, ist, dass die Regierung Großbritanniens effektiv wie die Griechenlands durch ein Misstrauensvotum der Finanzmärkte gestürzt wurde. Das ist für die Demokratie keine sonderlich erbauliche Position, even if it couldn't have happened to a nicer person.

5) Glenn Youngkin Believes in “Parents’ Rights”—But Only for the “Right” Kinds of Parents

So if the trans kid—or any kid—and the kid’s parents and the kid’s teacher all want to call the kid Sonny, or Red, or Lefty—well, they’re out of luck. Governor Youngkin has reserved that decision, value, and belief for himself. Out of “respect.” For parents. Or something. [...] You would be forgiven for thinking that when Youngkin talks about parents’ rights, he only means the rights of certain, preferred groups of parents. Because if you belong to a class of parent which Youngkin does not prefer, then the governor will make decisions for you. And for your kid. And for the school. [...] The argument against gender-affirming care is that it is harmful to a child, akin to child abuse, and children must be protected from themselves and their parents who want them to receive it. And just for the sake of argument, let’s grant that this is an emerging field, that we don’t know all of the best-practices yet, and that surely there are some sensible regulations for treatment that even most trans activists would agree are prudent. What’s odd is that if you want to send your gay or trans children to “conversion therapy”—which there is evidence causes psychological trauma and other adverse effects—well, in 21 states that’s your right as a parent. You may be shocked to learn that four states which have passed ban on gender-affirming care—Alabama, Arkansas, Arizona, and Tennessee—also have legal regimes which protect conversion therapy. There’s a reason why “parents’ rights” was a campaign-winning issue for Youngkin. [...]  Historically, Republicans have mostly been correct on the merits when it comes to parental involvement in education. The basic unit of American society is the family, not the public school. Parents should be the decision-makers for their children and they should be able to convey their own values and beliefs to their children without being undermined by school bureaucracies. (Ansley Skipper, The Bulwark)

Bei solchen Dingen frage ich mich immer wieder, wer ernsthaft irgendetwas anderes erwartet. Niemand, jemals, hat moralische Prinzipien, die er oder sie völlig unbeachtet der eigenen Wertvorstellungen durchsetzt. Rechte werden immer das Scheinwerferlicht auf linke Verfehlungen richten und umgekehrt. Die Forderung, doch bitte die Rechte von Eltern, Bundesstaaten, Minderheiten oder was auch immer durchzusetzen, gelten immer nur für die eigene Klientel. Oft genug sind diese Ausnahmen ja auch gut genug begründet. Es ist ja nicht so, als hätten Youngkin und Co keine Argumente für ihre Vorlieben. Die haben die Linken ja auch. Und welche davon man überzeugend findet, hängt massiv von den eigenen Wertvorstellungen ab.

Davon abgesehen finde ich den letzten Hinweis des oben verlinkten Artikels relevant. Was auch immer man von Youngkins heuchlerischer, grausamer Politik halten mag (ich deute hier sehr subtil meine Präferenzen an), sein Vorgehen ist politisch gewieft. Bereits seine Wahlkampagne in Virginia, die die "Rechte der Eltern" betonte, ließ die unvorbereiteten Democrats im Staub zurück, die auf diese offensichtlichen Attacken so gut vorbereitet waren wie die Grünen auf den Bundestagswahlkampf 2021. Und zu versuchen, offen gegen diese Festsetzung zu kämpfen, ist genauso Erfolg versprechend wie die Botschaften der Letzten Generation oder Extinction Rebellion.

6) Capitalism worked fine during the pandemic, thanks very much

Where do these brain farts come from? I see this particular one with surprising frequency, as if capitalism were somehow responsible for the fact that condoms and aluminum cans were in short supply during an unprecedented global pandemic. This is dumb enough as it is, but to toss it off as a casual aside? It's bizarre. After all, it was the most socialist part of our economy—the emergency supplies stockpiled by centralized command and control—that were in the shortest supply during the first year of the pandemic. The fact that this shortage lasted only a few months is largely thanks to the remarkable ability of the free market to adapt to an emergency in practically the blink of an eye. People are weird. The COVID-19 pandemic was, if anything, a triumph for the robustness of our global supply chains. Considering how big and how deadly the pandemic was, it's nothing short of a miracle that we did as well as we did. Cars and video game consoles were probably the most visible items in short supply, and it's hardly the end of the world if you have to wait a year to buy a new Jeep or Playstation. (Kevin Drum, Jabberwocky)

Die ständigen Abgesänge auf den Kapitalismus und die linke Obsession mit der Suche nach einer "Alternative" sind einfach nur langweilig. Da kommt nichts Vernünftiges raus. Der Kapitalismus ist eine Wohlstandsmaschine, wie es sie in der menschlichen Geschichte noch nicht gegeben hat, und bislang gibt es keinerlei vernünftige Alternativen. Er hat krasse Schattenseiten, die uns permanent (Ungleichheit, Machtkämpfe) oder neuerdings (Klimakrise) beschäftigen, aber er hat sich als wandlungs- und anpassungsfähig genug erwiesen. Und wie Drum richtig sagt hat die Pandemie wohl eher gezeigt, dass er stärker ist als alle Kritik annimmt, nicht schwächer.

7) Rechte Rechtskämpfe

In der Forschung über Rechtsmobilisierung fristete die Rechtsmobilisierung von rechts lange Zeit ein Nischendasein, weil sie im strategischen Repertoire eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielte. Das Recht ist aber in den Fokus aktueller autoritärer Strategien gerückt. Dabei kopieren sie nicht nur die Strategie der Rechtsmobilisierung durch die US-Bürger:innenrechtsbewegung und andere Menschenrechtsakteure, denn die Rechten gehen einen Schritt weiter: Sie versuchen das Rechtssystem insgesamt zu kapern und als Handlungsfeld emanzipatorischer Strategien zu verschließen. [...] Diese Eigenlogik des juridischen Feldes, seine teilweise Unabhängigkeit von politischen Prozessen, seine Widersprüchlichkeit sind die Bedingungen dafür, dass im Recht gekämpft werden kann. [...] Autoritäre Bewegungen und Agitator:innen auf der ganzen Welt haben daher Strategien und Instrumente entwickelt, um in der Regel schrittweise, manchmal aber auch abrupt, die relationale Autonomie des Rechts auszuhöhlen. Der Rechtswissenschaftler Günter Frankenberg zählt zum autoritären Repertoire Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, die Ausweitung exekutiver Machtbefugnisse, normalisierte Ausnahmezustände und informalisierte Machttechniken. [...] Die „Waffenstillstandsbedingungen“ in Bezug auf die formale Unabhängigkeit des Rechts wurden von rechten Akteur:innen aufgekündigt. Der globale Autoritarismus arbeitet daran, das Recht als Feld von Kämpfen für emanzipatorische Akteur:innen dauerhaft zu verschließen. Das ist eine Gefahr für die Demokratie und die politische Handlungsfähigkeit: Denn bei aller angebrachten Skepsis gegenüber dem Recht lernt man, so der Staatstheoretiker Nicos Poulantzas, die „sogenannten ‚formalen‘ Freiheiten (…) erst wirklich schätzen, wenn sie einem genommen werden.“ (Maximilian Pichl, Geschichte der Gegenwart)

Die Rolle der Übernahme von Justizsystemen in der Unterhöhlung der Demokratie durch Rechtspopulisten scheint mir immer noch unterschätzt zu sein. Gerade im Falle Polens, aber auch Ungarns, spielt das eine zentrale Rolle, von den USA gar nicht erst zu reden. Die Gründe werden hier im Artikel schön dargelegt, aber es lohnt sich noch einmal besonders darauf zu verweisen, dass ein funktionierendes Justizsystem als Blocker wirkt. Die Justiz ist inhärent konservativ, weil sie sich am Status Quo ausrichtet und diesen beschützt. Richterlicher Aktivismus ist in beide Richtungen ein Problem (und einer meiner zentralen Kritikpunkte etwa am BVerfG wie auch Supreme Court etc.). Schlägt also eine Regierung zu sehr vom Status Quo weg, ob nun in eine linke oder rechte Richtung, wird ein funktionierendes Justizsystem das einhegen (was keine qualitative Feststellung ist; diese Verengung auf den Status Quo kann auch sehr problematisch sein; sie ist schlicht systemimmanent). Es kann deswegen kaum überraschen, wie unbeliebt Verfassungsgerichte üblicherweise an den Rändern sind.

8) "Die KPD wartete auf den Zusammenbruch" (Interview mit Gerd Koenen)

ZEIT Geschichte: Die KPD zog in diesen Wahlkampf mit dem Slogan: "Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler; wer Hitler wählt, wählt den Krieg!" Muss man heute sagen: Die KPD hat die Gefahr erkannt, die auch von Hindenburg ausging?

Koenen: Nein. Dieser Slogan war sehr problematisch, weil er suggerierte, dass von der SPD bis zu Hitler alles eine Soße war. Darin zeigt sich aus meiner Sicht, wie wenig die KPD im April 1932 verstanden hatte, dass Hitler eben kein rechter Hampelmann war, sondern eine tödliche Gefahr für alle.

ZEIT Geschichte: Warum verpasste die SPD auch noch den Zeitpunkt, zu den Waffen zu greifen?

Koenen: Sie hätte im Januar 1933 zumindest zu einem bewaffneten Generalstreik aufrufen und ihre Kampfverbände aufmarschieren lassen müssen; so wie 1920 der Kapp-Putsch erfolgreich abgewehrt wurde. Damals war der Funke im Land schnell übergesprungen. Aber es gab 1933 natürlich keinen Putsch, sondern eine parlamentarisch halb reguläre Machtübernahme. Das hatte für viele Demokraten etwas Lähmendes. [...]

ZEIT Geschichte: Welche der beiden Parteien, SPD oder KPD, trägt mehr Verantwortung für das Ende von Weimar?

Koenen: Verantwortlich für den Fall der Republik sind zuallererst die bürgerlichen Kräfte, die Hitler auf den Schild gehoben haben. In zweiter Linie aber auch die KPD, die im Zweifel den Direktiven der Moskauer Weltpolitik folgte. Dort war man sich im Frühjahr 1933 noch gar nicht schlüssig geworden, ob die Machtübernahme Hitlers nicht auch positive Perspektiven biete. Einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit mit der Sowjetunion verlängerte Hitlers Regierung im Mai 1933 noch einmal, und die Reichswehr arbeitete weiterhin mit der Roten Armee konspirativ zusammen. Erst als alles zu spät war, 1935, wechselte die KPD – auf Geheiß Moskaus – zur "Volksfront"-Strategie; auf einmal verkündete sie: "Wir verteidigen die demokratische Freiheit." (Markus Flohr, ZEITGeschichte)

Eine wichtige Betrachtung. Ich möchte am Untergang Weimars (übrigens bald auch Thema im Podcast...) vier wichtige Dinge aus dem Artikel festhalten.

Nummer eins ist, dass der entscheidendste Faktor für den Sieg der Rechten, damals wie heute, die Unterstützung der bürgerlichen Eliten ist. Ohne die schaffen es die Rechtsradikalen nirgends (wie noch kein kommunistisches Regime es je ohne die Macht der Bajonette geschafft hat). Der Mythos, dass es für dieses Gesocks Mehrheiten gäbe oder gegeben hätte, ist nicht totzukriegen.

Der zweite Punkt ist die "Soße", von der Koenen spricht. Das inflationäre Zusammenwerfen von allen Kräften jenseits der eigenen randständigen Position ist eine Vollkatastrophe (siehe auch Fundstück 10), die unglaublich schädlich ist. Demokratisch-parlamentatische Prozesse sind praktisch immer nervtötend und enttäuschend, aber dieses "alles die gleichen Verbrecher" spielt nur den Extremisten in die Hände.

Der dritte Punkt gehört thematisch zum ersten dazu: die Rechten werden die Macht nicht übernehmen, indem sie putschen (das ist irgendwie mehr so ein Kommunistending), sondern mit einem "Marsch durch die Institutionen". Das ist inkrementeller und unauffälliger, und wie wir gerade in den USA sehen zersetzt es die Abwehrfähigkeiten der Demokratie wesentlich effektiver als alles andere.

Der vierte Punkt ist die enge Partnerschaft mit Russland. Die ist seit den alten KPD-Tagen ein Dauerthema bei Linken, und die außenpolitischen Frontstellungen der 1920er Jahre werden bis heute mitgeschleppt. Ich versteh das einfach nicht, aber es ist kaum zu leugnen.

9) Die Konservative Partei

Ich bin kein Tory. Mich geht das alles überhaupt nichts an. Selbst wenn ich Brite wäre, was ich nicht bin: Da hätte ich mich nicht drum zu bekümmern. Rein interne Angelegenheit. Die Tories, eine nicht korporierte private Organisation, sucht eine neue Vorsitzende*n. Hat sie diese gefunden, wird sie, da die Tories im Parlament in der deutlichen Mehrheit sind, vom König mit der Regierungsbildung beauftragt und damit zur Premierminister*in Ihrer Majestät. Das ist dann natürlich ein öffentlicher Vorgang. Aber der Leadership Contest? Rein privat. [...] In Deutschland ist die Situation schon deshalb anders, weil unter Bedingungen des Verhältniswahlrechts parteiinterne Personalentscheidungen nur selten so klar und hart und umfassend die Machtfrage beantworten wie in UK. Aber auch verfassungsrechtlich ist die Lage völlig anders. Hier weist das Grundgesetz den Parteien eine explizit öffentliche Funktion zu, nämlich bei der „Willensbildung des Volkes mitzuwirken“ (Art. 21 Abs. 1). Das Grundgesetz mischt sich auch in die Frage ein, wie sie sich intern zu strukturieren und zu organisieren haben, nämlich demokratisch. Wie wenig sich die strikte Grenzziehung zwischen Staat und in Parteien organisierter Gesellschaft von selbst versteht, bezeugt schon die stetig länger werdende Kette von BVerfG-Urteilen zur staatlichen Parteienfinanzierung. Mit der altliberalen Vorstellung, den Staat des Königs sein und die Gesellschaft ihren privaten, mittels Parteien und Parlament vor staatlichen Ein- und Übergriffen geschützten Geschäften nachgehen lassen zu wollen, hat das alles schon lange nicht mehr viel zu tun. Partei heißt politisch, und politisch heißt öffentlich, und öffentlich heißt, dass man der Öffentlichkeit Rechtfertigung schuldet für das, was man tut, in welcher Rechtsform man auch immer organisiert ist. Auch im Vereinigten Königreich scheint mir die Position, es sei vertrauliche Privatsache der Tories, ob und wie und aus welchen Gründen sie Archie die Schildkröte zur Wahl von Liz Truss zugelassen hat oder nicht, nur noch schwer zu rechtfertigen. Wenn schon nicht verfassungsrechtlich, so doch jedenfalls verfassungspolitisch. (Maximilian Steinbeis, Verfassungsblog)

I'm of two minds about this: Auf der einen Seite bin ich absolut der Überzeugung, dass in einem parlamentarischen System es das Parlament und damit die gewählten Abgeordneten sind, die die Regierung bestimmen. Die Argumente, dass Liz Truss kein "Mandat" gehabt hätte, überzeugen mich nicht, schon alleine deswegen, weil eine Wahl kein "Mandat" zu irgendwas ist außer dazu, bis zur nächsten Wahl als Repräsentant*in des Volkes tätig zu sein.

Auf der anderen Seite ist es natürlich völlig albern, wenn die Tories sich als ein eingetragener Verein inszenieren. Da hat das deutsche politische System (wie in so Vielem) klare Vorteile, gerade weil es, wie Steinbeis ja auch zurecht bemerkt, den Parteien eine verfassungsmäßige Rolle zuweist. Für meinen Geschmack ist das Grundgesetz da auch noch viel zu zurückhaltend, aber die entsprechende Rechtsprechung hat das glücklicherweise über die Jahrzehnte felsenfest verankert.

Das britische Problem haben die USA ja auch. Auch hier sind "Parteien" ein verfassungsmäßiges Paradoxon. Der Text der Verfassung kennt sie nicht, aber sie sind de facto (wenn auch schwache) Institutionen im politischen System. Aus diesem schattenhaften Zwischenzustand ergeben sich dann alle Arten von Fragen und Merkwürdigkeiten. Das ist immer das Problem mit Verfassungen: je älter sie werden, desto mehr entfernt sich der Text von der Realität. Und irgendwann ist diese Belastung nicht mehr auszuhalten, und ein neuer Status Quo wird gebildet - gegebenenfalls mit einem neuen Verfassungstext, gegebenenfalls mit einer kompletten Neuinterpretation von zentralen Passagen.

10) The Making of a Leftist

I will admit to feeling a twinge of embarrassment in describing the innocent and uncomplicated emotions of that night some 14 years later. But I have nonetheless found myself returning to them again and again while reflecting on my own trajectory from teenage progressive to democratic socialist. [...] To be on the left was more or less to be a liberal in a hurry and, insofar as there was any distinction to be made, it was not one of substance but rather of degree. That view became untenable during Obama’s early years in office. Elected in the throes of the worst economic crisis since the Great Depression, the administration rejected any serious overhaul of the financial system, moving instead to keep Wall Street leviathans afloat with injections of federal cash while millions of working- and middle-class people were left to sink. If the president’s 2008 campaign had been a populist cri de coeur for democratic transformation from below, his governing ethos would quickly become technocratic and managerial. No reckoning, it seemed, was to be had with the powerful interests complicit in causing the financial crisis or the many other maladies running through the American body politic. Elite brokerage would take the place of democratic confrontation, and the president would ultimately carry out the rousing slogan “Yes we can” by neutering the very grassroots army that had gotten him elected. [...] Whereas I had once seen the malaise of contemporary liberalism in terms of diffidence and capitulation, these developments (and countless others like them) cast it in a new light. Perhaps the problem was not so much a dearth of courage or a paucity of ambition, but rather a deeper pessimism about the possibility, and desirability, of a politics that looks significantly beyond the horizons of our stagnant present. As the de facto standard-bearers of American progressivism, institutional liberals continue to draw from a lexicon of social justice and moral urgency. Yet even as they adopt the language of exception and crisis, their leaders reject democratic populism and appeal to moderation and consensus instead. (Luke Savage, The Atlantic)

Ich finde den Artikel unter anderem deswegen so spannend, weil ich die komplett entgegengesetzte Reise durchgemacht habe. Obama war einer der Hauptgründe, warum ich aus dem linksradikalen Spektrum weggewandert bin. Abseits davon halte ich, wie in Fundstück 8 bereits erwähnt, die Gleichsetzung von Obama mit allem anderen Kram für völlig verfehlt. Diese fixe Idee, dass nichts als ein radikaler Bruch mit dem Bestehenden zu einer Heilung führten kann, ist Radikalen beider Spektren gegeben, aber zumindest vom Bauchgefühl her ist es auf der Linken verbreiteter oder doch zumindest akzeptierter, unter anderem, weil es sich bei der Linken immer partizipatorisch und vage demokratisch anhört, während die Revolutionäre von rechts schon alleine deswegen selten geworden sind, weil ihre Bruchideale seit 1945 diskreditiert sind; sie tarnen sich üblicherweise innerhalb der Demokratien und höhlen sie aus.

Resterampe

a) Der CCC führt ein kolossales Versagen im Gesundheitssektor vor, wo miese, überteuerte Technik monopolistisch durchgedrückt wird.

b) Spannender Aufsatz von Philippe Wampfler zur Empörungspolitik.

c) Interessanter Artikel über neue Bezahlmodelle bei Onlinezeitungen.

d) Sehr beeindruckender Erfahrungsbericht von Gewalt gegen Transmenschen. Unbedingt lesen!

e) Die Welt hat eine gute Aufstellung der Waffenlieferungen an die Ukraine (beziehungsweise ihres Ausbleibens) mit all den widersprüchlichen Begründungen. Ich sehe darin vor allem eine politische Auseinandersetzung: der Westen will der Ukraine nicht bedingungslos Waffen liefern, und die Ukraine versucht Druck zu machen, möglichst viel zu liefern. Da keine Seite offen sagen kann, was ihr Ziel ist, kapriziert sich das alles auf diesen technischen Kram.

f) Eine gute Ergänzung zu meinem Midterm-Artikel letzte Woche.

g) Anne Applebaum fasst die deutsche Debatte über Panzer für die Ukraine im Atlantic gut zusammen.

h) Wen die beamtenrechtlichen Hintergründe im Skandalfall um Spionage bei Nancy Faser interessieren - hier wird man bedient.

i) Jonathan Chait zum Aufstieg von Impfgegner*innen in der GOP. Selbes Muster wie überall in der Partei.

j) Ich wünschte, das wäre weitreichender verstanden.

k) Fear of Cancel Culture is worse than Cancel Culture.

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