Die Gabel links vom Teller, Salat nicht mit dem Messer schneiden, mit alkoholfreien Getränken nicht anstoßen und keine braunen Schuhe zu einem schwarzen Anzug. Mode- und Benimmregeln, die “Etikette” ist in unserem privaten und beruflichen Alltag allgegenwärtig.
Zu gerne wird bei Aufklärung über oder bei Verstoß gegen solche Regeln auf Knigge verwiesen; die “Knigge-Regeln”.
Die meisten solcher Regeln und Normen sind altmodisch, exklusiv, nicht herleitbar und vor allem haben sie nichts mit Knigge zu tun. Denn Adolph Freiherr Knigges Ziel mit seinem Werk “Über den Umgang mit Menschen”, welches erstmals 1788 erschien, war es, jenen Menschen zu helfen, die zwar großartige Ideen und wichtige Anliegen haben, die mithin geistreich sind, aber diese und vor allem sich selbst nicht zu repräsentieren wussten. Ihnen fehlte der richtige, soziale Umgang mit Menschen. Und vor allem fehlte ihnen der Umgang mit solchen Menschen, welche sich ihrer Anliegen annehmen sollten. Seien sie nun privater, geschäftlicher oder allgemein geselliger Natur.
“[…] daß die Geistreichsten, von der Natur mit allen innern und äußern Vorzügen beschenkt, oft am wenigsten zu gefallen, zu glänzen verstehen.”
(Adolph Freiherr Knigge (1788): Über den Umgang mit Menschen)
Knigge war als Schriftsteller ein Anhänger der Aufklärung. Es ging ihm also um Volksklassen sämtlicher Art und den gemeinsamen Nenner, welchen sie in ihren grundlegenden Umgangsformen zu finden vermochten.
Sein Ansatz war jedoch nicht, ihnen die gesellschaftlichen Normen und Zwänge, also die Etikette jener Zeit näher zu bringen. Genau das wollte Knigge gerade nicht, denn dies widerstrebte seiner ablehnenden Haltung gegenüber der zwanghaften Monarchie. Er wollte nicht, dass die Menschen — auch wenn er nur von Männern schrieb — sich ihrer selbst und ihrem Charakter entledigen, um Konformität zu zeigen, sondern sie sollten möglichst sie selbst im geselligen Kontext sein und damit authentisch bleiben, um so gleichermaßen an der Geselligkeit teilhaben zu können und sie auch mitzuheben.
“Ich rede aber hier nicht von der freiwilligen Verzichtleistung des Weisen auf die Bewunderung des vornehmen und geringen Pöbels. Daß [die Frau und] der Mann von bessrer Art da in sich selbst verschlossen schweigt, wo [sie und] er nicht verstanden wird.”
(Knigge, 1788)
Man könne auch sagen, Knigge war einer der ersten Ratgeber dafür, auf welche Dinge man achten sollte, wenn man eine “Idee pitchen” will, um seinen Gegenüber nicht zu verärgern oder gar abzuschrecken, und wie man sich dabei authentisch gibt, um zu überzeugen.
Der Umstand aber, dass gesellschaftliche Regeln und Normen aller absurden Art heutzutage als Knigge-Regeln begriffen und bezeichnet werden, kehrt Knigges eigentlichen Zweck seines Werkes in das genaue Gegenteil.
Heutzutage werden genau solche gesellschaftlichen Zwänge als Knigge-Regeln gefasst, die den Zweck der Normierung, der Angleichung und damit, bei Verstoß gegen eben jene, zu Ausgrenzung und Abwertung führen. Sie sind exklusiv. Wer sie nicht befolgt, hat in gewissen Kreisen keine Chance und nichts zu suchen. Er ist sogar von der menschlichen Sympathie eben jener Zwangsträger teils ausgeschlossen.
Damit sind aber nicht jene Regeln und Normen bezüglich eines guten und damit verträglichen Umganges gemeint, welche nur das zwischenmenschliche Agieren betreffen, sondern jene, die sich auch in detailierter Weise auf die oberflächliche Gestaltung des Einzelnen beziehen. Anzugsmaße, die Form der Schuhe, Farbgebung der Kleidung und ähnliches. Hier wird Mode zur Norm und Norm zum Zwang, der alle diskreditiert und in eine unangenehme Position drängt, die sich diesem Zwang nicht unterwerfen. Unabhängig davon, ob sie sich diese Mode — wenn sie denn nicht aus Kinderarbeit und Klimasünde stammen soll — einfach nicht leisten können oder ob sie eigene, individuelle Vorstellungen von Mode haben und sich mit dieser deutlich authentischer geben und auch wohlfühlen könnten, wenn ihnen die Gesellschaft denn die Möglichkeit dazu gäbe. Sie also nicht denken mögen, sich dem Zwang unterwerfen zu müssen, um gesellig zu sein; so, wie Knigge es ihnen geraten hätte.
“Man ist in Gesellschaft verstimmt, sobald man sich bewußt ist, in einer unangenehmen Ausstaffierung aufzutreten.” (Knigge, 1788)
Aber auch Benimmregeln zu Tische, welche oft irrtümlich als Knigge-Regeln genannt werden, fallen darunter. Die Gabel links vom Teller wäre eine gute Regel zur Orientierung wie man einen Tisch standardmäßig decken könne, wenn es keine Linkshänder gäbe. Und den Salat falten, anstatt ihn zu schneiden, erklärt vermutlich auch, warum so viele Menschen so wenig Salat essen: Nicht jeder ist so geschickt ein Salatblatt so zu falten, dass es seine Faltung bis zum bitteren Ende beibehält. Wer es bei einem Restaurantbesuch dennoch versucht und scheitert, wird eine große Peinlichkeit erfahren und beim nächsten Mal den Salat besser weglassen, bevor man wieder in das “Fettnäpfchen” tritt.
Die Angst vor dem Scheitern, solche gesellschaftlichen Regeln korrekt anzuwenden, führt also oftmals dazu, dass man versucht sie zu umgehen indem man Verzicht leistet; Knigge hätte davon abgeraten.
Letzten Endes kann man der Gesellschaft an dieser Stelle aber keinen Vorwurf machen, hat sich doch besonders im Bereich des Dresscodes schon vieles sehr gelockert. Aber waren es doch vergangene Personen, welche Knigges Werk in neuen Auflagen verunstalteten und so gesellschaftliche Normen und Zwänge festhielten und damit bis heute teils etablierten; und so alles als “Knigge” begriffen wird, was auch nur einer gesellschaftlichen Regel oder Norm entsprechen kann.
Aber dabei soll es nicht bleiben. Etwas Überdenken der gesellschaftlichen Strukturen täte gut, noch besser wäre etwas mehr Gelassenheit. Denn auf was beharrt man denn da wirklich? Und ist ein Echauffieren darüber wirklich das alles wert und vor allem notwendig? Wäre eine Hebung der geselligen Stimmung nicht stets erstrebenswerter?
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