Die Schockwellen des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur Verfassungsmäßigkeit des Haushalts von 2022 laufen immer noch durch das politische System, prallen gewissermaßen an seinen Kanten ab und laufen wieder zurück. Entsprechend sind die politischen Verhältnisse gerade im Fluss. Wie unter einem Vergrößerungsglas legt die Haushaltskrise Bruchstellen innerhalb der Koalition offen und verdeutlicht Trends ebenso, wie sie sie beschleunigt. Neuwahlen indes, wie sie CDU-Chef Friedrich Merz ritualisiert fordert, stehen wohl eher nicht ins Haus: die Koalitionsparteien müssten herbe Einbußen (SPD, FDP) oder doch zumindest den Verlust der Regierungsbeteiligung (Grüne) fürchten; die CDU stünde vor ihnen wie der Hund, der die sprichwörtliche Stoßstange des Autos gefangen hat und nun nichts mit ihr anzufangen weiß und die LINKE, reduziert auf den Status einer Gruppe, müsste um den Wiedereinzug in irgendeiner Stärke fürchten. Höchstens die AfD könnte ihnen hoffnungsfroh entgegensehen. Keine guten Aussichten, um das, was sich wie der Embryo einer potentiellen Verfassungskrise ausnimmt, einzuhegen.
Dass das Schuldenbremsenurteil die Koalition bis an die Zerreißgrenze spannt, ist eine Binse. Für die Grünen stehen sämtliche programmatischen Ansprüche auf dem Spiel, für deren Erfüllung man die ganzen unangenehmen Kompromisse eingegangen ist; für die FDP ihre Kernglaubwürdigkeit als Hüterin der Haushaltsdisziplin, für die sie ihre Kompromisse einging. Die SPD scheint sich dagegen nicht entscheiden zu können, ob sie die Schuldenbremse als Errungenschaft ihrer Koalition im Kabinett Merkel I verteidigen will (das ohnehin in der Partei kaum gut gelitten sein dürfte und wie nichts anderes für das Verharren der Partei im elektoralen Jammertal verantwortlich ist) oder ob sie für eine Reform oder gar Abschaffung plädieren soll. Grüne und FDP haben hier immerhin den Vorteil, seinerzeit gegen die Konstruktion (wenngleich nicht ihre Grundidee) gestimmt zu haben. Die CDU indes leidet an ihrem Merz-Kater: nachdem man mit Begeisterung in die imaginierte Vergangenheit einer klaren konservativen Linie zurückkehrte, zeigt sich jetzt, dass Gepolter alleine wenig ausmacht und die Kritiker*innen wohl Recht hatten: Merz' Format genügt den Anforderungen nicht. Schon allein eine Rhetorik, die die grüne Transformation als parteipolitisches Herzensprojekt betrachtet (siehe auch hier), ist kaum zukunftsfähig.
Aber gehen wir die Parteien und ihre Situation der Reihe nach durch und beginnen aus aktuellem Anlass bei den Grünen, die gerade ihren Parteitag hinter sich gebracht haben. Trotz der üblichen ritualisierten Aufstände aus der Parteibasis sitzt die aktuelle Führung fest im Sattel. Ricarda Lang und Omid Nouripor wurden beide in ihren Ämtern als Co-Parteichefs bestätigt, was angesichts des Mangels an Konkurrent*innen auch keine große Kunst war (Friedrich Merz linst neidisch herüber). Die Parteibasis trug die meisten Ampelmaßnahmen von Habecks Energiepolitik zu Baerbocks eher inkonsistenten Anwendung der wertegeleiteten Außenpolitik auch klaglos mit; allein die Asylpolitik wurde zu einem "Aufstand", der Potenzial zeigt, die Partei zu zerreißen. Das überrascht kaum. Wie die Schuldenbremse für die FDP ist dieses Thema der Basis besonders emotional, am Herzen, wichtig. Und die hehren Ansprüche von einer besseren, einer moralisch aufrechteren Politik finden sich hier wie unter dem Brennglas: wo die Außenpolitik schmutzige Kompromisse eingehen muss, weil eine böse Welt um uns herum uns zwingt - Putin lässt sich nicht an Parteitagsbeschlüsse binden - haben wir es hier selbst in der Hand, können wir hier souverän unsere Haltung bestimmen.
Wenig überraschend daher, dass genau hier die Sollbruchstelle innerhalb der Partei besteht. Jonas Schaible beschreibt das Dilemma der Partei treffen als "Gefangen in der Logik des Regierens", eine Erfahrung, die linke Parteien immer wieder machen müssen. Die Realität ist nie so glorreich, die Erfolge nie so durchschlagend, wie man sich das gerne gewünscht hätte. Die Macht innezuhalten ist dabei anders als etwa für die CDU oder SPD kein Trostpflaster, das sonderlich überzeugen will. Entsprechend groß ist die Enttäuschung über das Nicht-Erfüllen der "umfassenden Transformationswünsche", wie Ann-Kathrin Büüsker das ausdrückt. Dazu kommt der Eindruck der breiten Öffentlichkeit, dass die Grünen die aktuell wohl am moralischtischsten auftretende Partei ist und den Leuten in den Ohren liegt, ein Eindruck, an dem Ricarda Lang ihre Partei in klassischem Understatement für »nicht ganz unschuldig« hält.
In der politischen Rhetorik zeigte der Parteitag ebenfalls einen Wandel: der Fehdehandschuh Merz' wurde aufgegriffen und pflichtschuldig eine Spitzen in Richtung der CDU gefeuert. Besonders motiviert allerdings sind diese nicht: zu schmerzlich bewusst ist den in der Regierungslogik gefangenen Grünen, dass wohl allein eine Koalition mit der CDU ihre Regierungsbeteiligung sichern kann. Dieser Widerspruch wurde durch Katharina Dröge deutlich, die eine Reform der Schuldenbremse mit Union anstrebt - eine billige Kopie der SPD-Strategie, die wir weiter unten sehen werden. Die Grünen schauen einer schmächlichen Abwahl 2025 entgegen, die durch das weitgehend stabile Halten ihrer Wahlergebnisse nicht übermäßig versüßt werden dürfte.
Die FDP indessen bleibt in einer ähnlichen Situation gefangen. Auch hier wird von der Parteibasis ein linientreueres Vorgehen gefordert. Das wären in einem Fall die Jungen Liberalen, die von Christian Lindner "klares Bekenntnis" zur Schuldenbremse fordern, aber auch diejenigen, die eine Unterschriftensammlung für das vorzeitige Ende der Ampelkoalition initiiert und durchgeführt haben. Die Flucht in die Opposition, wo man liberale Grundsätze nur rhetorisch statt in Regierungsverantwortung verteidigen muss, ist für diese Leute genauso attraktiv wie für ihre Gesinnungsgeschwister bei den Grünen. Die Gefangenschaft in der Regierungslogik, noch dazu in der ungeliebten Ampel-Koalition, spürt man jedenfalls auch in den Knochen der liberalen Partei.
Das Dilemma für die FDP ist allerdings dasselbe wie bei den Grünen: ihnen droht für 2025 die Abwahl. Anders als die Grünen sind sie zudem zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts in ihrer Existenz bedroht: Wie bereits 2013 kratzten sie hart an der 5%-Grenze und sind ernsthaft gefährdet, erneut aus dem Bundestag zu fliegen. Kein Wunder, dass die Stimmung gereizt ist; ein Wunder, wie fest Christian Lindner nach wie vor im Sattel sitzt. Ähnlich wie bei Lang und Nouripor ist aber auch hier ein Mangel an Alternativen sichtbar - inhaltlich wie personell. Natürlich kann man wieder in die Opposition und "lieber nicht regieren als falsch", aber eine wirklich attraktive Aussicht ist auch das nicht.
Anders als die Grünen wurde die FDP zwar von der CDU nicht als Hauptgegner identifiziert. Stattdessen nehmen die Konservativen die Liberalen in eine Art Bärenumarmung und erdrücken sie. Die Freude der Konservativen, wenn sie die FDP als Schuldenmacher, die Grünen ermöglichende Finanzhallodris zeichnen können, ist mit Händen greifbar. Eine gute Verteidigung dafür hat die Partei nicht, gibt es auch nicht. Die Regierungslogik zwingt auch den Liberalen ihre eigenen Probleme auf, die sich in einer Jamaika-Koalition genauso fänden, wo eher die Grünen der Vetospieler wären. So viel Macht wie in der Ampel werden sie so schnell nicht wieder bekommen.
Auch bei der CDU dürfte die Freude über die Situation aber eher begrenzt sein. Zwar fährt Friedrich Merz pflichtbewusst seine Angriffe gegen die Ampel und besonders gegen die als "Hauptgegner" auserkorenen Grünen, aber er sitzt äußerst unsicher im Sattel. Wer es sich verbitten muss, dass seine Gegner einen Keil in die eigene Partei treiben, der hat ein ziemliches Problem, weil selbiger Keil dann schon ganz schön fest sitzt. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst etwa lässt die Spekulationen über seine Kanzlerambitionen auffällig unbeantwortet, und mit dem jüngsten Wahlerfolg Daniel Günthers in Schleswig-Holstein ist ein weiterer potenzieller Nachfolger ins Blickfeld gerückt. Dass beide Ministerpräsidenten mit ordentlicher Hausmacht ausgerechnet mit einem eher liberalkonservativen denn wertkonservativen Kurs reüssieren und damit Merz' ganze raison d'ètre in Frage stellen, ist nur die Spitze dieses Eisbergs.
Merz weiß seine Partei auch im Konflikt um die Schuldenbremse alles andere als hinter sich. Der Berliner CDU-Vorsitzende (noch ein Wahlsieger) Kai Wegner etwa wendet sich offen gegen seinen Parteichef. Markus Söder, dessen Irrlichterei und miese Umfrageergebnisse in zeitweise schon haben wie einen Mann von gestern aussehen lassen, kann sich plötzlich auch wieder als Kanzlerkandidat durch das Spekulationskarussell tragen lassen./Selbst die Ost-CDU macht Merz immer mehr Druck. Wenig überraschend: während Merz und die Bundes-CDU Oppositionsspielchen spielen können und keine reale Verantwortung tragen müssen, sind in den Ländern Haushalte zu führen, deren Schuldenbremsen die Spielräume viel krasser einschränken als die im Bund - was die CDU-geführten Landesregierungen dazu bringt, den einen oder anderen Notstand auszurufen und so Spielräume zu schaffen - ein Vorbild, das etwa ein Daniel Günther im Bund durchaus wiederholen könnte. Nicht einmal im Umgang mit der AfD hat Merz irgendeine Autorität: die Ost-CDU befindet sich praktisch in offener Rebellion und würde lieber heute als morgen gemeinsame Sache mit den Proto-Faschisten machen, während der Ostbeauftragte Marco Wanderwitz öffentlich für AfD-Verbot wirbt.
Die strategische Situation der Partei wäre dabei eigentlich gar nicht schlecht: die kaum verhüllten Angebote an die SPD, eine Große Koalition "zur Rettung des Landes" einzugehen, könnten die Partei ohne den Umweg über Bundestagswahlen ins Kanzleramt befördern. Selbst mit Neuwahlen ist anzunehmen, dass eine solche Koalition möglich wäre. Implizit ist dabei die Reform der Schuldenbremse, das größte Projekt, das eine solche Koalition angehen könnte - und müsste, denn die Sackgasse, in der die Politik gerade steckt, betrifft ja auch die Union. Das fällt den Beteiligten nicht einmal selbst mehr auf: wenn Friedrich Merz etwa im Interview erklärt, dass "es Arbeitnehmern nicht zu erklären ist, dass jemand, der nie Beiträge bezahlt hat, die gleichen Leistungen erhält, wie etwa ein Sozialhilfeempfänger", dann scheint er dabei zu vergessen, dass genau das vor 20 Jahren explizites Ziel der Sozialpolitik war: eine Grundsicherung für alle, egal ob sie eingezahlt haben oder nicht. Diese selektive Amnesie kann natürlich einer Art Neuauflage von 1966, in der ein entschlossenes Kabinett mit einer "konzertierten Aktion" den politischen gordische Knoten zulasten der kleinen Parteien durchschlägt, nur helfen und ist jedenfalls aktuell ein mehr als realistisches Szenario und dürfte die lahmen Kooperationsangebote der Grünen ebenso erklären wie die Panik der FDP - von der Ruhe der SPD ganz zu schweigen.
Denn obwohl die SPD die herbsten Verluste in den Umfragen zu beklagen hat, ist es hier merkwürdig ruhig. Diese Grundtendenz zieht sich seit dem Wahlkampf 2020/21 durch die Partei. Irgendwie scheint sie in sich zu ruhen. Es fiele mir auch schwer zu sagen, was sie eigentlich will, abgesehen vom Behalten der Macht. Seit 2021 hört man von Kevin Kühnert gar nichts mehr, Saskia Esken fällt praktisch nicht auf, mittlerweile gibt es auch keine ministerialen Skandale mehr, sieht man einmal von Nancy Faesers wenig souveränem Wahlkampf-Praktikum in Hessen ab.
Aber die SPD kann auch die Frage, wozu man sie eigentlich noch braucht, heute genauso schwer beantworten wie vor einigen Jahren. Zwar hat sie sowohl CumEx als auch ihre Verwicklungen mit Russland bemerkenswert geräuschlos überstanden. Aber die Grundproblematik, dass sie nicht mehr in der Lage ist, effektive Kommunikation von Klassenpolitik zu betreiben, weswegen das der AfD in den Schoß fällt, ist kaum von der Hand zu weisen. Es scheint beinahe, als hätten sich die Genossen entweder bereits mit der Rolle als Mehrheitsbeschaffer der CDU abgefunden und übten sich bereits im staatstragenden Habitus des großen Verfassungskompromisses, oder als hofften sie alle, das Wunder von 2021 möge sich wiederholen und Merz sich als zweiter Laschet erweisen. Möglich ist das natürlich; sonderlich wahrscheinlich nicht. Auch in der Politik schlägt der Blitz üblicherweise nicht zweimal an derselben Stelle ein.
Bleibt die AfD, der aktuelle Umfragenkönig. Die endlose Debatte, worin ihre Stärke beruht und die auf der einen Seite ein beständiger Rorschach-Test ist, auf der anderen Seite aber hartnäckig die Antwort ignoriert, dass ein ordentlicher Anteil der Deutschen schlicht mag, was die Partei anbietet, ist zum reinen Ritual geronnen. Fakt ist, dass die AfD von Krise und Chaos im Moment profitiert. Als ideologisches Gegenstück zu den Grünen bieten sie einen Fokuspunkt für Hass auf den politischen Gegner, bei dessen Wahl man sich nicht der Gefahr eines Kompromisses oder einer Koalition aussetzt. Als Xenophoben bieten sie einen Fluchtpunkt für alle, denen keine Abschiebeforderung von Demokrat*innen hart genug sein kann. Sie inszenieren sich als Verteidiger*innen des kleinen Mannes, plädieren für die Schuldenbremse, erklären den Klimawandel zur Lüge und posieren dennoch als Verfechter*innen der Freiheit. Dass nichts davon kohärent ist, ist egal.
Die AfD ist kein Teil des restlichen Parteienspektrums. Sie steht für Koalitionen nicht zur Verfügung. Sie macht keine konstruktive Oppositionspolitik. Sie ist nicht einmal demokratisch. Sie ist der Stachel im Fleisch des Rechtsstaats und der Demokratie, der allen Probleme macht und auf deren korrekte Wundbehandlung sich niemand einigen kann. Die Sepsis und der Wundbrand greifen immer mehr um sich.
Ebenfalls kein Teil des restlichen Spektrums ist die LINKE, allerdings aus anderen Gründen. Nachdem sie 2021 die 5%-Hürde knapp verpasste, retteten nur Direktmandate den Fraktionsstatus - den Sahra Wagenknecht nun zertrümmert hat. Die Partei ist nur noch eine Ruine, ein Schatten ihrer selbst, der weder einen Platz im Parteiensystem noch eine Zukunft hat. Dass ausgerechnet ein so merkurialer Charakter wie Wagenknecht in der Lage wäre, eine neue Linkspartei aus der Taufe zu heben, ist kaum vorstellbar. Wahrscheinlicher ist, dass die radikale Linke wieder aus den Parlamenten hinaussinkt; konsequent wäre, wenn ein Aufgehen der demokratischen Teile in SPD und Grünen stattfände und man den zerstrittenen, ohnehin nie konstruktiven Rest in den Orkus rutschen lassen ließe.
Ich glaube nicht, dass es zu Neuwahlen kommen wird, auch wenn einige irrgeleitete Beobachter*innen wie Anna Clauß dies fordern. Neuwahlen brächten keinen Ausweg aus dem Dilemma, sie verschöben nur die Zuständigkeiten, Gleichgewichte und Verantwortlichkeiten. Solange das strukturelle Problem ungelöst bleibt, das in diese Krise geführt hat, die immer mehr wie der Beginn einer veritablen Verfassungskrise wirkt, kann die Abrechnung nur immer weiter in die Zukunft verschoben werden - aber irgendwann wird sich irgendjemand den Realitäten stellen müssen und das Heft politischen Handelns wieder in die Hand nehmen, das man so leichtfertig abgegeben hat. Die Hoffnung muss sein, dass die Demokrat*innen zusammenhalten und dem Sirenengesang der AfD widerstehen werden - und dass sie sich zusammenraufen, bevor der Schaden zu groß wird.
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