von Franziska Briest, Hasan Alkas, Oliver Beige, Ralph Brinks, Christine Busch, Daniel Haake, Christian Schöps, Thomas Wieland
Wissenschaftsverständnis fördern
Im März 2020 skizzierte das Bundesministerium für Inneres (BMI) eine Kommunikationsstrategie für die Corona-Krise. Dort heißt es unter anderem, dass das Worst-Case-Szenario kommuniziert werden solle, um durch Schockwirkung eine Maßnahmenakzeptanz zu erzeugen. Rückblickend ist, jenseits der fragwürdigen politischen Wirkung unklar, wie es zu einer solchen Einschätzung kam, welche Expert:innen dazu beraten haben und auf welcher Empirie dieses Vorgehen begründet wurde. Die Wirksamkeit von Pandemiebekämpfungsmaßnahmen basiert vor allem darauf, dass Menschen ihre persönlichen Ziele zugunsten eines gemeinsamen Zieles zurückstellen. Dies setzt eine Kommunikation voraus, die von objektiv nachvollziehbaren Gründen geleitet ist, nicht von Gefühlen, Ideologien oder Angst.
Dennoch haben weite Teile der politischen und wissenschaftlichen Kommunikation in der Pandemie in Deutschland diesen Duktus übernommen und basieren auf der Vermittlung von Worst-Case-Annahmen und -Szenarien ohne entsprechende Alternativszenarien zu skizzieren. Interviews, Zeitungsartikel und Beiträge in sozialen Medien kommunizieren mit Begrifflichkeiten, die Angst erzeugen. Relevante Personen des öffentlichen Lebens aus Politik, Wissenschaft und Medizin transportieren mit verkürzten Informationen wiederholt Botschaften, die in ihrer Zuspitzung durch keine wissenschaftliche Empirie mehr gestützt werden.
Dass wissenschaftliche Aussagen in der Pandemie oft einer relevanten Unsicherheit unterliegen, vor allem wenn es sich um Projektionen in die Zukunft handelt, wie z.B. bei einer Modellierung zum Verlauf des Pandemiegeschehens, ist eine kommunikative Herausforderung. Dazu kommt, dass eine gewisse Ambiguitätstoleranz notwendig ist, um widersprüchliche wissenschaftlichen Daten in den fachlichen Kontext sowie die aktuelle pandemische Entwicklung einzuordnen und zu gewichten. Diese kann in der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit nicht vorausgesetzt werden. Daher sollten Daten und wissenschaftliche Erkenntnisse so einfach wie möglich erläutert werden, aber nicht zu einfach. Unsicherheiten sind zentraler und sogar charakterisierender Bestandteil des wissenschaftlichen iterativen Erkenntnisprozesses.
In einem aktuellen Positionspapier des deutschen Wissenschaftsrates heißt es auf Seite 37, dass Wissenschaftskommunikation die “Prozesshaftigkeit, Perspektivität und Selektivität” von Wissen transparent machen solle und damit das “Wissenschaftsverständnis von Laien und die Unterscheidung richtiger und falscher Informationen” fördere. “Eine Kommunikation, die Vorbehalte und Einschränkungen transparent macht”, sei “grundsätzlich eher dazu geeignet, Glaubwürdigkeit zu erhöhen und das Vertrauen in wissenschaftliche Integrität zu stärken.”
Ganz im Gegensatz zu den Empfehlungen guter Wissenschaftskommunikation, erfahren wir jedoch seit 2 Jahren die wiederholte Konfrontation der Öffentlichkeit mit Modellierungen, die eine sehr hohe Gefahr implizieren (z. B. indem sie extrem hohe Inzidenzen oder sehr hohe Todeszahlen vorhersagen) ohne zu vermitteln, dass die tatsächliche Vorhersagekraft dieser Modelle sehr begrenzt ist und sie nur eines der möglichen Szenarien abbilden. Dies kann, insbesondere bei wiederholtem Nicht-Eintreffen, eine Grundlage für politisch-motiviertes, generelles Infragestellen von Pandemie-assoziierten Forschungsergebnissen darstellen und in der Folge zu einem Vertrauensverlust führen.
Die Nicht-Kommunikation von Vorläufigkeit zeigt sich auch in verfrühten absoluten Aussagen zur Effektivität, Sicherheit oder “Nebenwirkungsfreiheit” von Impfstoffen, das Ausschließen später doch umgesetzter politischer Maßnahmen und in häufigen und offensichtlich widersprüchlichen Änderungen von Verhaltensregeln.
Hinzu kommt, dass auch fehlende Information nicht immer transparent kommuniziert wird. Unterschiedlich große Dunkelfelder in verschiedenen Testumgebungen z. B. erzeugen Verzerrungen bei den Fallzahlen. Die Angabe einer Altersgruppeninzidenz ohne die Kommunikation der Testfrequenzen in verschiedenen Altersgruppen, kann zu einer falschen Risikowahrnehmung führen. Ungenaue epidemiologische Daten, wie das Hinzurechnen von Personen mit unbekanntem Impfstatus zu den ungeimpften Personen, erzeugen einen Vertrauensverlust in die veröffentlichten Daten und können ebenfalls zu einer falschen Risikoeinschätzung beitragen. Auch der tatsächliche Hospitalisierungsgrund ist für die Einschätzung der Situation und der Vergleichbarkeit mit vorherigen Pandemiephasen wichtig. Das trifft insbesondere dann zu, wenn durch einen erhöhten Immunisierungsgrad in der Bevölkerung die Wahrscheinlichkeit von asymptomatischen Zufallsfunden eines SARS-CoV-2-Nachweises steigt. Wenn entsprechende Daten aus technischen Gründen nicht erhoben werden, müssen diese Unschärfen klar und nachvollziehbar kommuniziert werden.
Der Wissenschaftsrat nennt in seiner Betrachtung von Faktoren, die das Vertrauen in die Wissenschaft beeinflussen auch die Politisierung von Wissenschaft (S.20):
“In der öffentlichen Kommunikation sollte stets besonderer Wert darauf gelegt werden, die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und deren Konsequenzen, normativer Bewertung und politischer Entscheidung zu markieren.”
Deshalb ist essentiell, dass Wissenschaftler:innen sowie Behörden, die auch in einer wissenschaftlichen Funktion auftreten, z. B. das RKI, ihre jeweiligen Aufgabenbereiche einhalten. Informationsvermittlung und politisches Handeln müssen erkennbar voneinander abgegrenzt werden. Das zeitliche Ausrichten der Veröffentlichung wissenschaftlicher Berichte am Tagungsplan politischer Gremien wie der Ministerpräsidentenkonferenz oder der Konferenz der Kultusminister, stellt eine unnötige Politisierung dar, die nicht allein mit einem Aktualitätsgebot erklärt werden kann.
Angstkommunikation vermeiden
Das Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse kann einen großen Einfluss auf das Verhalten von Individuen und deren Umgang mit Pandemiemaßnahmen haben. Studien weisen darauf hin, dass gerade ein erhöhtes Level an Angst mit einer verminderten Toleranz von Unsicherheit verbunden ist und dieses mit einem höheren Risiko einhergeht, Pandemie Fatigue zu entwickeln. Diese wiederum steht in engem Zusammenhang mit verminderter Maßnahmen-Adhärenz. Bereits Ende 2020 erläuterte Cornelia Betsch, Heisenberg-Professorin für Gesundheitskommunikation der Universität Erfurt, im Rahmen einer WHO Veranstaltung, dass durch Angst motivierte Verhaltensänderungen mit einer zunehmenden Anpassung an die Bedrohung nachlässt. Eine dauerhafte Konfrontation mehrerer Millionen Menschen mit bewusst zugespitzten und beängstigenden Aussagen hat demnach keinen nachhaltigen Effekt, sondern führt im Kontext von Pandemie Fatigue sogar zu einem Toleranzeffekt, der diesem entgegensteht.
Gleichzeitig erzeugt und verstärkt Angst eine Reihe psychischer Erkrankungen, die zu einer hohen Krankheitslast bei den Betroffenen, aber auch gesamtgesellschaftlich zu hohen sozioökonomischen Schäden führen können. Der wissentliche oder unwissentliche Einsatz von Angst - sei es durch undifferenzierte, übersteigerte oder einseitige Kommunikation von Risiken - nimmt daher bewusst oder unbewusst gesundheitliche Folgen in Kauf (z.B. Verstärkung psychologischer Folgen wie depressiver Störungen, Schlafstörungen oder Suchterkrankungen, eine reduzierte Annahme von Präventionsangeboten bei Kindern und Erwachsenen sowie gesundheitlicher Folgen, die sich aus gemiedenen Bildungsangeboten ergeben).
Der ärztliche Grundsatz primum non nocere (erstens nicht schaden) muss demnach auch umfassen, dass die Inkaufnahme vermeidbarer psychischer Schäden zur Verhinderung von COVID-Schäden keineswegs unkritisch hinzunehmen ist. Daher muss die eigene Kommunikation der in der Pandemie sich öffentlich äußernden Wissenschaftler:innen, Mediziner:innen und Politiker:innen sorgfältig abgewogen sein.
Kommunikation reflektieren
Da also die Kommunikation pandemierelevanter wissenschaftlicher Daten nennenswerten Einfluss auf das Vertrauen in Wissenschaft und ihre Institutionen, auf die Maßnahmenadhärenz und direkt oder indirekt auch auf die öffentliche Gesundheit hat, müssen wir als Wissenschafler:innen auch mit Blick auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrates die Frage stellen, ob wir in den vergangenen zwei Jahren angemessen kommuniziert haben.
- Ist es zutreffend, dass die wissenschaftliche und politische Pandemie-Kommunikation dahingehend hinterfragt wurde, dass nicht nur Bagatellisierung, sondern auch unpräzise, unnötig verängstigende und intransparente Kommunikation massive negative Folgen für die Pandemiebekämpfung haben könnten?
- Wurde bei der Entwicklung von Modellierungen stets die gesamte Bandbreite an Entwicklungsmöglichkeiten über einen realistisch definierten Zeitrahmen abgebildet und kontextualisiert? Umfasste dies die verwendeten Daten und Algorithmen, wie auch die getroffenen Annahmen, die den Modellierungen zu Grunde liegen und einen sehr großen Einfluss auf das Endergebnis haben?
- Wurden Daten immer transparent veröffentlicht? Dazu gehört vor allem die Quantifizierung von Unsicherheiten und nicht erhobenen Daten (z.B. beim Impfstatus oder Hospitalisierungsgrund). Wurden Faktoren, die zu einer fehlenden unmittelbaren Vergleichbarkeit verschiedener Gruppen oder Zeitfenster führen - bspw. unterschiedliche Teststrategie - offen kommuniziert? Wurden wissenschaftliche und/oder politische Unsicherheiten stets als solche dargelegt und Verallgemeinerungen, Ausschlüsse oder absolute Feststellungen zu mit Unsicherheit belegten Sachverhalten oder Maßnahmen und Maßnahmenfolgen vermieden, um bewußte oder unbewußte Fehlinterpretationen zu verhindern?
- Wurden die Grenzen der verschiedenen Stadien und Formen wissenschaftlicher Arbeit aufgezeigt, z. B. die Evidenzstärke von Fallberichten und Modellen oder die Vorläufigkeit von Vorabveröffentlichungen (Preprints)? Erfolgte eine präzise Prüfung dessen, was eine Studie aufgrund ihres Designs hergibt? Staatliche Glaubwürdigkeit braucht Evidenz. Ist diese ausreichend gegeben?
- Gab es umfassende wissenschaftliche (und politische) Ehrlichkeit in der Kommunikation bezüglich Koinzidenz und Kausalität bei der Bewertung von COVID-Erkrankungsfolgen und Pandemie-Maßnahmen?
- Wurden bei geforderten Maßnahmen der Nutzen aber auch mögliche negative Folgen auch in anderen Bereichen berücksichtigt, gegeneinander abgewogen und offen kommuniziert?
Wir Wissenschaftler:innen, Ärzt:innen und Datenanalyst:innen tragen in der Pandemie nicht nur eine große Verantwortung für den Erkenntnisgewinn. Wir tragen auch die Verantwortung für eine korrekte und verständliche Kommunikation und die Verhinderung von Missbrauch dieser Erkenntnisse. Aus unserer Sicht sind in der Vergangenheit nicht alle Punkte jederzeit ausreichend berücksichtigt worden. Reibungsverluste in der Zusammenarbeit mit Medien und Politik mögen einen Teil der Versäumnisse erklären. Dennoch ist es essentiell, dass wir, in einer Phase der Pandemie, in der gesellschaftliche Polarisierung und Politisierung von Wissenschaft immer größere Ausmaße annehmen, gemeinsam durch eine sorgfältige Kommunikation diesen Entwicklungen aktiv entgegenwirken, anstatt sie zu verstärken.
Dr. rer. nat. Franziska Briest, Molekularmedizinerin, Berlin
Daniel Haake, Senior Data Scientist, Potsdam
Dr. med. Christian Schöps, Facharzt für Neurologie, Hamburg
Prof. Dr. rer. nat. Ralph Brinks, Epidemiologe & Mathematiker, Witten
Dr. rer. nat. Thomas Wieland, Geograph, Freiburg
Dr. med. Christine Busch, Ärztin, Berlin
Oliver Beige, Ph.D., Ökonom, Karlsruhe
Prof. Hasan Alkas, Wirtschaftsprofessor, Kleve
Titelbild: iStock.com/ismagilov