Reden wir über Wandel. Veränderung. Massive Veränderungen womöglich angesichts der zahlreichen Probleme, denen wir uns schon und bald vielleicht noch in weit größerem Maße zu stellen haben: die zunehmende Konzentration von Macht und Ressourcen in den Händen weniger Auserwählter, die fortschreitende Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen, die sich abzeichnende dauerhafte Spaltung der Gesellschaft in mindestens zwei sich kompromisslos gegenüberstehende Lager. Das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen sinkt, während die Temperaturen global seit Jahren steigen, allein 2021 gab es weltweit 54 Kriege und bewaffnete Konflikte.

~120.000 Tote 2021

Es scheint tatsächlich so, als wären Veränderungen nötig. Vielleicht auch mehr als bloß ein paar.

Nun kann man sich natürlich hinstellen und sagen, es gäbe diese Probleme ja eigentlich gar nicht. Oder den Standpunkt vertreten, es wären zwar Probleme, aber wir Menschen hätten keinerlei Einfluss darauf. Dass sie so etwas wären wie eine Naturgewalt oder ein Naturgesetz vielleicht, und dass wir schlicht nicht in der Lage wären, sie zu lösen. Dann aber hätten wir hier eigentlich nichts zu diskutieren. Weshalb ich im Folgenden einfach davon ausgehen, dass es sowohl diese Probleme gibt, als auch, dass wir Menschen sie lösen könnten. Wenn wir nur wollten.
Falls wir denn wollten.

Und eben deshalb möchte ich über Konservatismus sprechen.

Konservatismus (lateinisch conservare, erhalten oder bewahren) ist - neben dem Liberalismus und dem Sozialismus - eine der drei großen politischen Ideologien, die sich im Verlauf des 18. und 19. Jahrhundert entwickelten. Er war als "Ideologie der Gegenaufklärung" (dtv-Atlas Politik, 2012 S. 61) konzipiert und sollte die herrschende Ordnung legitimieren, die durch die Verwerfungen der Französischen Revolution nachhaltig erschüttert worden war.

Es begann wohl mit der Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts und der recht bald darauf einsetzenden Reformation, als die Menschen mit einem Mal begannen, die für die Obrigkeit ein oder andere unangenehme Frage zu stellen. Die frühmoderne naturwissenschaftliche Revolution setzte ein, im Zuge der Aufklärung wurden plötzlich Traditionen und Gewohnheitsrechte kritisch hinterfragt, und spätestens als in Frankreich ab 1789 der König erst zu Zugeständnissen genötigt, dann abgesetzt und schließlich enthauptet wurde, dämmerte es den Mächtigen wohl, dass es bald vielleicht vorbei sein könnte mit den liebgewonnenen, lange Zeit unhinterfragten Privilegien.

Auftritt Edmund Burke, der "geistige Vater des Konservatismus", der in seinem Buch Betrachtungen über die Französische Revolution (1790) deren Anfänge analysiert und in klarer Ablehnung dieses epochalen Umbruchs den Kern dessen herausarbeitet, was - neben dem Recht auf Privateigentum - auch heute noch allgemein unter Konservativismus zu verstehen ist:

  • Die Menschen sind körperlich und geistig ungleich
  • Die gesellschaftliche Ordnung ist entsprechend gottgewollt und fußt auf Autoritäten, Werten und Traditionen, die sich nicht einfach auf Grundlage von Ideen und Theorien verändern lassen
  • Hierarchien sichern die soziale Ordnung, der Einzelne hat sich einzufügen

Burke geht es also vor allem um die Sicherung der etablierten gesellschaftlichen Strukturen einschließlich damit verbundener Privilegien. Reformen sind zwar durchaus erwünscht. Doch diese Reformen sollen nicht abrupt erfolgen, sondern behutsam, bestenfalls, so Burke, "im Stil des alten Gebäudes" (Betrachtungen über die Französische Revolution, 1967 S. 242, 338).

Kaum war die Idee in der Welt, lief es bald recht gut für den Konservatismus. Technischer Fortschritt und die sich bahnbrechende industrielle Revolution schufen ein neues, selbstbewusstes Bürgertum, das sich dessen Kerngedanken in weiten Teilen zueigen machte. Man arrangierte sich mit dem Kaiserreich und unterstützte maßgeblich die gegen Liberalismus und Sozialismus gerichtete Regierungspolitik Bismarcks. Und als nach Ende des Ersten Weltkriegs Sozialdemokraten Deutschlands erste demokratisch gewählte Regierung übernahmen, ließ man sich von den Nationalsozialisten vereinnahmen und half schließlich, quasi als Steigbügelhalter Hitlers, die gerade in konservativen Kreisen verhasste Weimarer Republik zu beseitigen.

Und auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs und Gründung der Bundesrepublik setzte sich der Konservatismus in Form der viele Jahre regierenden CDU durch. Doch dann veränderte sich das gesellschaftliche Klima im Zuge der aufblühenden Bürgerrechts- und Studentenbewegungen der 1960er Jahre, und plötzlich war es gar nicht mehr so hip, konservativ zu sein, weshalb sich etwa der für seinen politischen Instinkt berühmte Franz-Josef Strauß 1968 zu einer Neudefinition des Begriffs genötigt sah: "Konservativ heißt, auf dem Boden des christlichen Sittengesetzes in der weitest möglichen Form seiner Auslegung mit liberaler Gesinnung an der Spitze des Fortschritts zu marschieren." Aha.

Und dann erstarkte Mitte der 1970er Jahre auch noch die Umwelt- und Friedensbewegung, deren maßgebliche Ziele ja die Bewahrung der Umwelt- und des Friedens waren, was zu Begriffsverwirrung führte, da man in Hinblick auf Werte wie Umwelt und Frieden plötzlich konservativ sein wollte, ohne dabei im klassischen Sinne konservativ zu sein. Also wurde eine Begriffsunterscheidung vorgenommen, und man schied den Konservatismus einfach auf in den Strukturkonservatismus einer- und den Wertkonservatismus andererseits, womit viel gewonnen schien, aber wenig erreicht wurde. Denn wertkonservativ wollte plötzlich jeder sein, strukturkonservativ hingegen niemand mehr. Der Begriff war nunmehr einfach allzu negativ besetzt und stand allgemein für Fortschrittsfeindlichkeit: "Strukturkonservatismus ist ein negativ besetztes politisches Schlagwort. Es stellt die so bezeichnete Position, Organisation oder Person als modernisierungsfeindliche Bewahrer überkommener Strukturen hin.", so Wikipedia.
Und wer wollte schon im Zeitalter der Spät- und Postmoderne als modernisierungsfeindlich gelten?

Es ist schon ziemlich skurril, dass sämtliche Parteien sich seitdem zwar als wertkonservativ begreifen, aber keinesfalls als strukturkonservativ angesehen werden wollen. Dabei ist es doch gerade das Merkmal des Konservatismus, dass er allzu drastische gesellschaftliche Umbrüche scheut und stattdessen auf die behutsamen Veränderungen setzt. Was angesichts des Verhaltens der politischen Akteure und die Frage aufwirft, ob nicht vielmehr jede Partei in Regierungsverantwortung konservativ agiert. Und zwar über das gesamte politische Spektrum hinweg. Mit ein paar ideologischen Schwerpunkt-Verschiebungen im Detail.
Aber vielleicht gibt es auch überhaupt keine "überkommenen Strukturen", die es zu verändern gäbe. Wir leben schließlich und immerhin im besten System, das wir kennen.

So oder so, was die Bereitschaft zur Veränderung betrifft, scheint der Konservatismus gesiegt zu haben. Reformen sind, ganz im Sinne Burkes, durchaus erwünscht. Aber bitte behutsam. Was irgendwie auch verständlich ist. Schließlich ist Sicherheit für uns Menschen ein wesentliches Bedürfnis. Und so ist es vielleicht sogar ganz gut, dass mit "Maß und Mitte" regiert wird. Veränderungen behutsam umgesetzt werden. Statt die gesamte Gesellschaft von Grund auf umzugestalten. Wenn es die Zeiten denn zulassen.
Wenn nur die Zeiten es zulassen.