Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Reden wir von denselben Menschen?
Im Artikel werde Jens Jessens These zurückgewiesen, die Linke sei am Rechtsruck schuld. Kritisiert werde, dass Jessen mit Klischees arbeite, die eher an „Parodien von Bully Herbig“ erinnerten, als an eine ernsthafte Analyse. Er habe Linke mit Lastenrad- und Veganismusbildern beschrieben, was, so Bangel, ausgeleierte Stereotype seien, wie man sie seit Jahren von Autoren wie Fleischhauer oder Hahne kenne. Bangel betone, dass linke Parteien in Deutschland keineswegs radikalisiert seien. SPD, Grüne und Linke suchten laut seiner Analyse kontinuierlich Kompromisse und Brücken zur politischen Mitte. Im Gegensatz dazu wirke die Union manisch und lasse sich von rechten Kulturkämpfen treiben. Zudem beschreibe Bangel, dass linke Wähler nicht missionarisch aufträten, sondern häufig verunsichert seien, während Linke in der Provinz teils massiver Bedrohung ausgesetzt seien. Die pauschale „Dämonisierung“ von Linken nutze nach seiner Einschätzung vor allem der AfD, die Gegensätze zuspitzen wolle. Notwendig sei vielmehr, dass linke Politik Menschen mit konkreten Verbesserungen überrasche, etwa wie beim Berliner Mietendeckel oder dem 9-Euro-Ticket. Am Ende folgere Bangel, dass eine demokratische Mehrheit gegen die AfD nur möglich sei, wenn sich Mitte und Linke gemeinsam positionierten. (Christian Bangel, DIE ZEIT)
Ich bin völlig bei Bangel; hier wird ein völliger Fantasiegegner aufgebaut. Aber das habe ich hier ja schon öfter ausgeführt, und wie Bangel auch klar sagt, ist es nicht so, als wäre das auf der anderen Seite nicht ähnlich. Ich erinnere mit Schaudern an die Kritik an Merz, die ihn quasi mit der AfD und die mit Nazis gleichgesetzt hat - eine, höflich ausgedrückt, unzulässige Verkürzung. Ich denke aber, Bangels Analyse fehlt noch ein Punkt, der erklärt, was hier passiert, die ich in meinem Artikel zum "politischen Stühlerücken" beschrieben habe. Die eigene Seite merkt nie, wenn sie dabei ist, die Auseinandersetzung zu gewinnen, weswegen sie die Linien unmerklich immer mehr verschiebt. Darin findet sich, so glaube ich, viel Grund für die aktuelle Verzerrung, die seitens Kritiker*innen wie Jessen (oder praktisch allem, was zu dem Thema in der Welt geschrieben wird) findet. Siehe auch Fundstück 2.
2) Bei der CDU wird das Einknicken zur Gewohnheit
Im Kommentar werde kritisiert, dass die CDU bei der Frage der NGO-Finanzierung erneut eingeknickt sei. Friedrich Merz habe im Wahlkampf noch betont, „links sei vorbei“ und Zweifel an staatlichen Fördergeldern für bestimmte Organisationen geäußert, doch nun werde der Geldfluss nicht etwa eingeschränkt, sondern sogar ausgeweitet. Die Autorin stelle die Frage, wie glaubwürdig eine Partei sei, die großspurige Ankündigungen mache und dann kleinlaut zurückrudere. Die CDU vermittle damit den Eindruck, eher auf Konfliktvermeidung als auf klare politische Linie zu setzen. Statt entschlossenes Handeln zu zeigen, werde ein Kurs verfolgt, der an Anpassung erinnere und in der Partei zur Gewohnheit geworden sei. Dies sei umso bemerkenswerter, als die Förderung von NGOs seit Jahren gesellschaftlich umstritten sei. Der Vorwurf laute, dass die Union damit nicht nur inkonsequent wirke, sondern auch ihr eigenes Profil im Kampf gegen „Steuerverschwendung“ verwässere. (Anna Schneider, WELT)
Liest man solche Kolumnen, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Merz im Frühjahr eine triumphale Mehrheit von 50,1%, wenn nicht 66,7% gewonnen hätte und nicht die eher mageren 28%, bei denen es nun mal dank seines schlechten Wahlkampfs geblieben ist. Die CDU hat einen Koalitionspartner, und er Koalitionspartner wird nicht "aus Gewohnheit einknicken". Und wir reden hier von der SPD! Das sind quasi die berufsmäßigen Einknicker der Bundesrepublik. Genauso wie die FDP niemals die Schuldenbremse aussetzen würde, was von Anfang an die conditia sine qua non der Ampel war, wird die SPD bei bestimmten Positionen einfach die Linie der CDU zu 100% übernehmen. Aber warum sollte Anna Schneider sich mit den Niederungen der Realität beschäftigen? Das bestätigt wieder einmal meine These, dass in den letzten zehn, fünfzehn Jahren die Konservativen echt einen Mentalitätstausch mit den Linken gemacht haben und deren altes Beharren auf der reinen Lehre gegen jegliche realen Widerstände zu ihrem Markenzeichen gemacht haben. Es ist echt weird. Die konservative Volksfront gegen die Volksfront der Konservativen, oder so. Siehe auch Resterampe d).
3) Verbeamteten Lehrkräften das Weihnachtsgeld (schon 2007) gestrichen – zu Unrecht?
2007 kürzte Schleswig-Holstein – wie andere Bundesländer auch – das Weihnachtsgeld für Beamtinnen und Beamte in unteren Besoldungsgruppen und strich es ab A 11 komplett. Betroffene, darunter zahlreiche Lehrkräfte, halten dies für verfassungswidrig und klagten. Das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein bestätigte 2021, dass die Besoldung gegen das Gebot der amtsangemessenen Alimentation verstoßen habe. Die Verfahren liegen seither beim Bundesverfassungsgericht, doch eine Entscheidung steht weiter aus. Der dbb spricht von einem „zunehmend unwürdigen“ Zustand und hat eine Verzögerungsbeschwerde eingereicht; notfalls wolle man bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Sollte Karlsruhe Nachzahlungen oder eine Wiedereinführung des Weihnachtsgeldes fordern, könnten jährliche Kosten von bis zu 140 Millionen Euro entstehen. Finanzministerin Silke Schneider erklärte, sie habe Verständnis für den Wunsch nach Klarheit, konkrete Folgen seien aber ungewiss. Gewerkschaften kritisieren zudem eine generelle Schieflage der Besoldung und fordern eine grundsätzliche Überprüfung. (News4teachers / dpa)
Das ist kein Problem nur von Schleswig-Holstein. In diversen Bundesländern wurden in den 2000er-Jahren massiv die Leistungen und Bezüge für Beamt*innen gekürzt und dagegen geklagt - mit Verfahren, die bis heute anhängig sind. Auch in Baden-Württemberg ist seit fast zwei Jahrzehnten (!) ein Verfahren anhängig, bei dem irgendwelche Bezüge in Frage stehen. Ich kenne die Details nicht; ich kriege eh keine, deswegen ist das für mich nicht von persönlicher Bedeutung, aber auf einer Fortbildung hat ein Kollege es mal erzählt. Wenn diese Verfahren positiv für die Klagenden entschieden würden, stünden den Ländern riesige Nachzahlungen ins Haus. Das sind tickende Zeitbomben, die durch die juristische Verschleppungstaktik auch nur von Legislatur zu Legislatur weitergereicht werden.
Damit völlig unverbunden, aber auch in vielen Ländern verbreitet, ist übrigens die Praxis der Länderfinanzminister*innen (komplett unabhängig von der politischen Zuordnung), die Rückstellungen für Beamt*innenenpensionen in die regulären Haushalte zu überführen. Da ging es jedes Mal um dreistellige Millionensummen, die plötzlich frei wurden, während die Verbindlichkeiten ebenso in die regulären Haushalte überführt wurden - aber das ist ja dann ein Problem des Zukunfts-Bundeslands. Und dann kriegen wir entsetzte Überschriften über die explodierenden Kosten der Pensionen.
4) 10 Jahre »Wir schaffen das«: Angela Merkel hat dieses Land gespalten
Im Leitartikel werde betont, Angela Merkels Entscheidung von 2015 sei humanitär und richtig gewesen, doch habe sie das Land tief gespalten. Die Autorin erkläre, Merkel habe stets betont, „Menschlichkeit ist keine Schwäche“, sei aber bis heute nicht bereit, die Fehler und Versäumnisse im Umgang mit der Flüchtlingsbewegung einzugestehen. Als entscheidendes Problem gelte weniger die Aufnahme selbst als die Kommunikation: Mit dem Satz „Wir schaffen das“ habe Merkel Optimismus ausgestrahlt, während Kommunen, Schulen und Behörden im Chaos überfordert gewesen seien. Weil sie die Probleme nicht offen ansprach, seien Teile der Bevölkerung verunsichert worden, während die AfD daraus Kapital schlug und Migration zu ihrem zentralen Thema machte. Zwar habe Merkel später mit EU-Partnern Maßnahmen wie den Türkei-Deal und Asylpakete umgesetzt, doch vermied sie weiterhin, heikle Aspekte – etwa den hohen Anteil junger Männer oder kriminelle Fälle – deutlich zu benennen. Das habe rechte Narrative verstärkt. Zehn Jahre später falle die Integrationsbilanz gemischt aus: Viele Geflüchtete seien bereichernd, doch eine Gesellschaft mit starken rechten Wahlergebnissen sei geschwächt – und dafür trage Merkel Mitverantwortung. (Katrin Elger, DER SPIEGEL)
Ich finde diese Art Artikel echt langweilig. Merkel hat es nicht geschafft, alle Deutschen hinter einer Politik und Meinung zu einen? Ich bin baff. Auch Olaf Scholz hat das Land gespalten, auch wenn der bereits im Erinnerungsloch verschwunden ist. Und Gerhard Schröder. Und Helmut Kohl. Und Helmut Schmidt. Und Willy Brandt. Und Kurt Georg Kiesinger. Und vermutlich auch Ludwig Erhardt, wenn sich jemand an den erinnert. Konrad Adenauer sowieso. Wir vergessen das über die Zeit nur, wenn die nächste große Spaltung kommt. Diese Vorstellung, ein Kanzler oder Kanzlerin könnte "das Land einen", ist eine Fantasie. Das passiert NIE. Es gibt Momente der Einigkeit, aber die halten nie. Was die Merkel-Kritiker*innen gerne vergessen ist, wie einig das Land 2015 kurz war. Es gab auch unter Kohl 1990 einen kurzen Moment großer Einigkeit. Der ist in den blühenden Landschaften verloren gegangen. So funktioniert Politik, in pluralistischen Gesellschaften sowieso. Dass heute bei Willy Brandt alle denken "oh, Ostverträge, guter Mann" und selbst die BILD schamlos sein Kniefall-Bild für ihre Eigenwerbung nutzt ist dem Abstand geschuldet. In 20 Jahren wird die BILD dann vielleicht Merkel feiern und sich über die Spaltung von Kanzler Max Mustermann ärgern, wer weiß.
5) Haben wir’s geschafft? Ja, aber… (das Bildungssystem hinkt immer noch hinterher)
Zehn Jahre nach der „Flüchtlingskrise“ von 2015 fällt die Bilanz gemischt aus: Während viele Geflüchtete inzwischen erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert sind – die Beschäftigungsquote liegt laut IAB bei 64 Prozent, syrische Männer übertreffen sogar deutsche Männer –, bleibt das Bildungssystem das große Sorgenkind. Besonders Frauen sind durch fehlende Kita-Plätze und mangelnde Sprachförderung benachteiligt, wodurch ganze Familien bei der Integration gebremst werden. Schulen seien 2015 wie 2022 strukturell unvorbereitet gewesen, heißt es, und hätten mit Willkommensklassen ohne klare Konzepte gearbeitet. Sprachdefizite, lange Bildungslücken und fehlendes Personal belasteten den Unterricht bis heute. Studien zeigten, dass geflüchtete Kinder häufiger in niedrigeren Schulformen landeten oder ohne Abschluss blieben. Experten betonen, dass nicht Migration per se, sondern sozioökonomische Faktoren und unzureichende Förderung ausschlaggebend seien. Lehrkräfte hätten Herausragendes geleistet, doch Politik habe sich auf sie verlassen, statt rechtzeitig zu investieren. Integration sei möglich, aber nur mit verlässlichen Strukturen. (News4teachers, Andrej Priboschek)
Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie sehr die Meinungen über die Arbeitsmarkterfolge der Geflüchtetenintegration auseinanderfallen. Ich will diese Diskussion auch gar nicht wieder aufmachen, wir hatten das hier oft genug und angesichts der Zahlen kommt es vor allem auf den Interpretationsrahmen an, den man hier aufstellt. Passend zur Diskussion um den "Flächenbrand" im Schulsystem, die wir im letzten Vermischten hatten, kriegen wir hier auch nochmal von einschlägiger Seite (wenngleich in wesentlich freundlicherem Ton) auf die Hand präsentiert, dass die Basis eine Vollkatastrophe ist. Ist ja schön, wenn wir erwachsene Geflüchtete auf den unteren Ebenen der Arbeitshierarchie in den Arbeitsmarkt integrieren, aber wenn unser Bildungssystem lauter künftige Bildungsverlierer*innen ausspuckt, ist das wenig zielführend.
Resterampe
a) Zum Kulturkampf. (Der siebte Tag)
b) CDU-Politiker: Jung-Lehrkräfte (vor Wunschschule) erst an unbeliebtem Standort einsetzen (News4Teachers). Ignoriert halt das Problem, dass eh schon zu wenig Leute Lehramt studieren; die Regel wird das sicher nicht verbessern. Aber keine Ahnung, wie gut die Erfahrungen der Polizei damit sind, kennt sich wer aus?
c) Digitale Schulen: Es braucht eine KI-Pflicht statt eines Handyverbots an Schulen (Spiegel). Jupp.
d) Das Bückbürgertum (Welt). Jesses, ist das eine Selbstimaginierung.
e) Die Flüchtlingsbewegung 2015 ist nicht der Trigger des heutigen AfD-Erfolges. (Frank Stauss) Ich sag immer wieder zwei Dinge. A) Jede monokausale Erklärung ist falsch. B) Jede Erklärung, die nur auf Deutschland schaut, hat ein Problem. Das ist ein internationales Phänomen und muss damit an Faktoren liegen, die nicht nur national sind.
f) Zur CDU-Diskussion letztes Mal. (Spiegel)
g) Trump’s Definition of DEI Is a Disaster for Disaster Management (Washington Monthly).
h) Trump’s Right-Wing Socialism (The Atlantic).
Fertiggestellt am 31.08.2025
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