Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Kranker Mann und dummer Mann?
Deutschlands Wirtschaft wird von Experten und Politikern zunehmend kritisch betrachtet. Laut dem "Economist" gilt Deutschland als "kranker Mann Europas", was von einigen als übertrieben angesehen wird, aber dennoch ernsthafte Diskussionen auslöst. Die jüngsten Maßnahmen der Regierung, wie das Sparpaket und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Finanzierung des Klima- und Transformationsfonds, haben die Debatte über die wirtschaftliche Zukunft des Landes intensiviert. Die stagnierende Wirtschaftsleistung, die hohe Exportabhängigkeit und die Herausforderungen im industriellen Sektor sind einige der Hauptprobleme, denen Deutschland gegenübersteht. Die Abschwächung des Welthandels, insbesondere durch Protektionismus, wirkt sich negativ auf die deutsche Wirtschaft aus. Darüber hinaus wird die mangelnde Diversifizierung des Wirtschaftsmodells, insbesondere die starke Abhängigkeit von der Automobilindustrie, als Problem identifiziert. Die Diskussion über Lösungen ist komplex. Einige sehen die Bürokratie und hohe Steuern als Hindernis für das Wirtschaftswachstum an, während andere auf strukturelle Probleme und die Notwendigkeit einer umfassenden Transformation hinweisen. Die Entscheidungsträger werden aufgefordert, mutige Schritte zu unternehmen, um die Wirtschaft anzukurbeln, staatliche Investitionen zu fördern und die Transformation hin zu neuen Technologien und Dienstleistungen zu unterstützen. Es besteht die Hoffnung, dass eine konzertierte politische Anstrengung die wirtschaftlichen Herausforderungen Deutschlands bewältigen kann, bevor sich die Lage weiter verschlechtert. (Peter Bofinger, Blätter)
Was mich an der Debatte so wahnsinnig macht: klar, es stehen sich zwei Fronten ziemlich unversöhnlich gegenüber, einmal die "Schulden für Investitionen"-Fraktion und einmal die "Strukturreformen für Investitionen"-Fraktion. Allein, an der Regierung ist gerade keine von beiden. Egal ob ich an die Kraft defizitfinanzierter Strukturinvestitionen glaube oder dass wenn man entbürokratisiert und Steuern senkt das Ganze sich einstellt, ich sehe nirgendwo Vorschläge für eines von beiden. Weder hat die FDP den großen Plan für Wachstum (außer wolkigen Phrasen) noch die Grünen oder die SPD (dito). Dabei sind die von Bofinger beschriebenen Probleme ja völlig real; in der Diagnose, dass die deutsche Volkswirtschaft gerade massiv underperformt, sind sich ja alle grundsätzlich einig. Es bleibt für mich die größte Enttäuschung der Koalition, dass die da nicht in der Lage sind, einen Fortschrittskompromiss zu schließen, sondern auf das Merkelschema des kleinsten gemeinsamen Nenners zurückfallen. Siehe zum Thema auch Resterampe u)
2) Keine Kühlung: Geoengineering-Projekt aus Harvard wird eingestellt
Die Harvard-Forschenden haben ihre Pläne für ein Geoengineering-Experiment in der Stratosphäre aufgrund von Verzögerungen und Kritik aufgegeben. Das Projekt, genannt SCoPEx, zielte darauf ab, kleine Partikel in die Atmosphäre zu sprühen, um Sonnenlicht zu reflektieren. Nach öffentlicher Kontroverse und Standortwechseln wurde das Experiment ausgesetzt. Kritiker*innen warnen vor den potenziellen Risiken, wie der Beeinträchtigung der Landwirtschaft durch verringerte Niederschläge. Andere Gruppen haben jedoch ähnliche Projekte vorangetrieben. Trotz der Absage erhielten die SCoPEx-Forschenden Anerkennung für ihre transparente Vorgehensweise und ihre Bemühungen, den Feldversuch kontrolliert durchzuführen. Harvard wird weiterhin Geoengineering im Rahmen des Solar Geoengineering Research Program erforschen, finanziert von verschiedenen Organisationen. Ein abschließender Bericht des beratenden Ausschusses des Projekts betont die Notwendigkeit, die Öffentlichkeit einzubeziehen und auf Bedenken zu reagieren, um zukünftige Forschung zu informieren. (James Temple, Heise)
Das Forschungsprojekt hier scheint mir ein super Beispiel dafür, wie wichtig in der Forschung die viel zitierte Technologieoffenheit ist. Wir werden bei so was letztlich keine vernünftige andere Wahl als ein "Fail forward" haben. Es wird auf jeden Fall mehr Projekte zum Aufhalten der Klimakrise geben, die scheitern, als solche, die gewaltigen Erfolg haben werden. Das gilt grundsätzlich für sämtliche Bestrebungen. Man muss den Harvard-Forschenden hier wohl von dem, was ich überblicken kann, auch für die Transparenz des Prozesses und die Konsequenz ehrlich Respekt zollen. Es braucht auf dem Gebiet viel mehr eine Kultur des "everything and the kitchen sink"-Ansatzes, oder prosaisch auf Deutsch ausgedrückt: Scheiße an die Wand werfen und sehen, was kleben bleibt. Das Problem bleiben die beschränkten Ressourcen, weswegen es natürlich auch notwendig ist, an einem bestimmten Punkt Pfade aufzugeben und sich auf etwas festzulegen. Dieser Balanceakt erscheint mir die größte Herausforderung.
3) „Deutschland wird autoritärer, es gibt Kontrolle, Zensur, Selbstzensur“ (Interview mit Gal Kirn)
Dr. Gal Kirn, ein slowenischer Kulturhistoriker, beleuchtet in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung verschiedene politische Themen und deren Auswirkungen auf Europa. Kirn kritisiert die Transformation der Grünen von einer Friedens- zu einer kriegsbefürwortenden Partei und betont die Notwendigkeit einer aktiven Friedenspolitik sowie Abrüstung. Er analysiert auch das neue politische Bündnis von Sahra Wagenknecht (BSW) als eine Folge der inneren Spaltung der Linken. Kirn hebt hervor, dass die Linke eine klarere und radikalere Position einnehmen müsse, um relevanter zu werden. Des Weiteren diskutiert er die deutsche politische Landschaft und warnt vor einer möglichen Zusammenarbeit zwischen CDU und AfD. In Bezug auf den Nahostkonflikt betont Kirn die Schwierigkeiten, in Deutschland eine pazifistische Position öffentlich zu vertreten, und kritisiert die Zensur und Selbstzensur in der deutschen Gesellschaft. Schließlich analysiert er den politischen Übergang in Slowenien nach dem Zerfall Jugoslawiens und beleuchtet die Schwächen des jugoslawischen Experiments, das ab den 1960er Jahren durch liberale Tendenzen und nationalistische Ideologien untergraben wurde. Kirns Perspektive betont die Notwendigkeit einer aktiven und solidarischen Politik, um den aktuellen Herausforderungen zu begegnen. (Ilija Djurovic, Berliner Zeitung)
Mich nervt das langsam echt. Was Kirn hier beschreibt, ist nichts Neues. Dieses Verwechseln von Zensur und "mir widerspricht jemand" oder "eine Meinung zu vertreten kann unangenehm sein" ist eine richtige Seuche. Nirgendwo in Deutschland wird jemand wegen dem Vertreten der eigenen Meinung, solange diese in den Grenzen des Rechts ist, unterdrückt. Wer eine Meinung zu einem kontroversen Thema öffentlich vertritt, recht egal welche, wird immer Gegenwind abbekommen. Das ist es, was ein Thema kontrovers macht. Diese Forderung, ob wie jetzt hier von Linken oder wie im Cancel-Culture-Diskurs von rechter Seite, man möge bitte keinen Widerspruch erhalten, hat mit Diskurs und Pluralismus wenig zu tun. Und erneut, das betrifft alle Richtungen. In der Ukrainehilfendebatte können Carlo Masala, Franziska Davies oder Gustav Gressel (pars pro toto) ein Lied avon singen, dass das Vertreten einer polarisierenden Meinung schwierig ist. Öffentlich konservative Positionen zu vertreten wird genauso Gegenwind hervorrufen wie sozialistisch-linke, liberale genauso wie grün-progressive. Oder versuch mal, in einem beliebigen Unternehmen als Fan von Gewerkschaften in Führungspositionen befördert zu werden. Da hältst auch lieber die Klappe. Mein Arbeitgeber fände es vermutlich auch nicht cool, wenn ich öffentlich die Überzeugung vertreten würde, dass Privatschulen scheiße sind. Argh, ist dieser Diskurs bescheuert.
4) Wer nicht redet, wird gar nichts bewirken
Das EU-Ägypten-Abkommen stößt auf Kritik wegen finanzieller Unterstützung für ein autoritäres Regime ohne Rücksicht auf Menschenrechte. Während Kritiker wie Karl Kopp von ProAsyl die Deals als "schäbig" verurteilen, argumentiert der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt gegen solche Abkommen. Doch die Situation ist komplexer. Ägypten ist zwar autoritär, aber ein Boykott könnte die Freiheit nicht fördern. Die arabische Demokratiebewegung scheiterte nicht nur an Regimen wie Sisis, sondern auch an mangelnder westlicher Unterstützung. Zudem könnten andere Staaten wie China und Russland Ägypten übernehmen. Eine Wiederholung des Boykotts wie im Fall Südafrikas ist unrealistisch. Europa hat im Nahen Osten bereits durch Untätigkeit Schaden verursacht, wie in Syrien und Libyen. Das Abkommen bietet Entwicklungshilfe und Bildung, potenziell förderlich für eine demokratische Zukunft. Die Stabilität Ägyptens ist auch im europäischen Interesse, um Massenmigration und Terrorismus zu verhindern. Die Vereinbarung beinhaltet zudem einen Dialog über Demokratie und Menschenrechte, der zumindest Möglichkeiten bietet. (Daniel-Dylan Böhmer, Welt)
Das ist für mich genauso wie bei Fundstück 3 auch eine ebenso Dauerbrenner- wie Schattendebatte. In der Außenpolitik lassen sich nicht 100% der Zeit 100% der eigenen Wertevorstellungen durchsetzen und eine reine Weste behalten? Who knew? Aber das ist doch ein völlig irrer Maßstab. Wer mit solchen Ideen an die Politik geht, kann nur scheitern und enttäuscht werden. Ich gehe ja auch nicht davon aus, dass wenn die FDP an die Regierung kommt, sie dann 100% ihrer Positionen wird durchsetzen können. Was die Außenpolitik betrifft, so ist die implizite Kritik hier natürlich an der Idee der wertebasierten Außenpolitik. Aber das schließt sich ja nicht aus. Böhmer macht den Punkt hier effektiv selbst: ein Versagen jeglicher Zusammenarbeit mit Ägypten könnte schlimmere Auswirkungen für die Betroffenen haben als irgendwelche schmutzigen Deals. Das kann immer nur eine Einzelfallentscheidung sein, und ich beneide niemanden, der solche Entscheidungen treffen muss. Aber ich brauche einen moralischen Kompass, an dem ich mich ausrichten kann, auch wenn ich dann nicht in genau die Richtung gehe, in die die Kompassnadel weist. Die Vorstellung einer völlig neutralen, "pragmatischen" "Realpolitik" führt völlig in die Irre. Erstens gibt es keine Wertfreiheit, und zweitens ist die Bilanz derjenigen, die sich an so etwas versucht haben, nicht eben ein Vorbild (*hust* Kissinger *hust*).
5) The Low Information Trap: Why Don’t Voters “Get It?” Because They Don’t Know About It
Die größte Frage, die die gequälten Demokraten derzeit umtreibt, ist: "Warum verstehen die Wähler es nicht?" Wie kann es sein, dass Donald Trump, ein Mann, der wegen 91 Straftaten angeklagt wurde, immer noch in Umfragen führt? Warum sind die Menschen so abgeneigt gegenüber einem Präsidenten, der beliebtere Gesetze verabschiedet hat als jeder seit Lyndon Johnson? Wie kann es sein, dass, während Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum florieren, viele Wähler glauben, die Wirtschaft sei schlechter als während der Großen Rezession? Die Antworten darauf sind vielfältig: Einige meinen, die Wähler seien "abgestumpft" durch Jahre von Trumps Skandalen. Andere führen die negative Stimmung der Wähler auf extreme Parteilichkeit zurück. Es gibt auch die These, dass Biden an schlechter Vermarktung leidet. Aber das Hauptproblem ist wohl, dass fast niemand wirklich aufmerksam ist. Eine Umfrage zeigt, dass nur etwa ein Drittel der Amerikaner regelmäßig Nachrichten verfolgt. Ein Großteil der Wähler interessiert sich kaum für Politik. Hochinformierte Wähler, zu denen auch die Pundits im Fernsehen gehören, sind dabei die Ausnahme. Die geringe Nachrichtenaufnahme erklärt vieles: Warum viele Wähler nichts über Trumps Verbrechen wissen, oder warum Biden nicht die Anerkennung für seine Leistungen erhält. Die Wahrnehmung der Wirtschaft hängt stark von den persönlichen Erfahrungen ab, die oft von Preisen bestimmt werden. Diese Informationslücke erklärt auch, warum Wähler Republikaner nicht für das Chaos im Kongress bestrafen. Das Missverständnis zwischen hochinformierten Wählern und dem Rest der Bevölkerung ist enorm. Diese Erkenntnis ist wichtig, um die politischen Reaktionen besser zu verstehen und sich auf relevante Informationen zu konzentrieren, wenn die Wähler näher an den Wahlen interessiert sind. (Matt Robison, Washington Monthly)
Ich hämmere an diesem Punkt immer wieder herum: die allermeisten Wahlberechtigten haben von Politik praktisch keine Ahnung und informieren sich wenn überhaupt erst kurz vor den Wahlen darüber. Eine Grundregel der politischen Kommunikation besagt, dass wenn du denkst, dass du deine Botschaft jetzt solange wiederholt hast, dass sie allen zu den Ohren heraushängt, du zum ersten Mal damit durchdringst. Die Journalist*innen, die deinen Wahlkampf beobachten, hören das ständig und sind schon von Berufs wegen interessiert. Sie sind keine relevante Größe. Deswegen sind politische Botschaften effektiv, die simpel sind und beständig wiederholt werden, am besten immer in denselben Worten. Wie viele Politiker*innen diese simple Regel gerade in Deutschland nicht beherzigen, fasziniert mich immer wieder.
Aber: ich halte die Schlussfolgerung Robisons für extrem dubios. Denn Trump-Wähler*innen sind oft ja auch high information voters, Diese Dynamik cuts both ways, as they say. Auch bei der GOP gibt es eine ganze Reihe von Leuten, die als Hobby Nachrichten konsumieren und deswegen viele Informationen haben (dass dank FOX News ein guter Teil davon Fake News ist ist für diese Analyse irrelevant, weil parteiideologisch gefärbte Referenzrahmen auch in funktionierenden Demokratien existieren; die taz und die Welt kommen auch nicht zum gleichen Schluss über dasselbe Fakt). Deswegen ist der Artikel für mich von auf der Linken leider verbreitetem wishful thinking dominiert, dass wenn man die Leute nur aufklärte, sie alle auf die eigene Seite kommen würden. Das ist nicht der Fall, und diese (zudem arrogante) Illusion gehört zu den schädlichsten Vorstellungen auf der Linken.
Resterampe
a) Analyse der Merz'schen Wahlkampfstrategie zum Bürgergeld.
b) Der Tag der Kompromisse wird kommen.
c) Artikel zum Umgang mit Israel: Wirtschaftswoche, Verfassungsblog, Jabberwocking,
d) X-Men: The Animated Series was defined by its censors.
e) Germany’s Zombie Government Is Fueling the Far Right.
f) Raw data: Everyone loves Obamacare. Komplett vorhersehbar :) Siehe auch: Raw data: Real medical costs have been negative over the past decade.
g) Das Ende des parlamentarischen Konsensprinzips?
h) Rechtsextremer AfD-Landesverband will „Schule ohne Rassismus“ abschaffen. Ich meine, wie viel offensichtlicher muss man als AfD sein? Auch noch als weiterer Beleg für meinen Punkt, dass man die nicht an die Kultusministerien lassen darf.
i) The new GOP budget is just the same old claptrap.
k) The Dead-Enders of the Reagan-Era GOP. Jepp.
l) Remote learning during COVID was harmful but limited.
m) Das Register allein wird nicht für mehr Spender sorgen. Typisch deutsche Lösung: völlig überkompliziert wegen dAteNscHuTz!!!
n) Natürlich gehört die Bundeswehr in die Schulen.
o) Wasserstoff-Affäre im Verkehrsministerium: Volker Wissing droht sein Ministerium zu entgleiten. Und kein Rücktritt.
p) Chuck Todd says the Trump-era RNC is a bunch of thugs and liars. Siehe auch hier.
q) Skepsis für die Skepsis – Heinz Budes „Abschied von den Boomern“. Lesenswert!
r) Every politician should be precisely as smart as me. So true!
s) So ebnen die Grünen der AfD den Weg in die Mitte. Mal wieder das beliebte "meine politischen Präferenzen nicht zu befolgen hilft der AfD"-Spiel.
t) Gute Betrachtung der SPD, dem Vermächtnis der Ostpolitik und der Ukrainepolitik.
u) Linder hat den Schuss nicht gehört.
Fertiggestellt am
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