Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Kretschmer wird zum Problem für die CDU
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer zeigt ähnliche Tendenzen wie der frühere Kanzler Gerhard Schröder, indem er inmitten des russischen Angriffs auf die Ukraine russlandfreundliche Forderungen stellt. Er setzt sich für deutsche Geschäftsinteressen mit Russland ein und widerspricht Lieferungen von Marschflugkörpern an die Ukraine, was in der Realität Putins Aktionen begünstigen würde. Kretschmer betont finanzielle Vorteile einer deutsch-russischen Partnerschaft, ähnlich der AfD-Politik in Sachsen. Er argumentiert, teures Gas aufgrund des Konflikts mit Russland könne den sozialen Zusammenhalt gefährden und untergrabe nationale Interessen. Dieses egozentrische Kalkül könnte als Realpolitik interpretiert werden, die AfD klein zu halten und pragmatisch zu agieren. Doch seine Position gefährdet langfristig die CDU, da sie sich von der AfD abheben und Migration begrenzen will, während Kretschmer durch seine Haltung Migration fördert und AfD-Parolen legitimiert. Dies birgt Konflikte innerhalb der Partei und bedroht Kretschmers Wiederwahl sowie die CDU in Sachsen insgesamt.(Konrad Schuller, FAZ)
Wir können hier ein Muster beobachten, das bei dieser Art randständiger Politik häufig auftritt. Wen überrascht, was Kretschmer hier von sich gibt, hat vorher schlicht bewusst die Augen verschlossen. Es ist beeindruckend, wie häufig dies in der letzten Zeit der Fall gewesen ist. Weil man den jeweiligen Akteuren den benefit of the doubt einräumt, weil sie nach außen hin eine bürgerliche Normalität performen, kann man sich lange darüber belügen, wes geistig Kind sie tatsächlich sind. die bürgerliche Angepasstheit erlaubt stets das selektive übersehen randständiger, radikaler oder gar extremistischer Überzeugungen, was wiederum bei den Akteuren die Überzeugung stärkt, im Recht zu sein und auf Kritik genau diese Überzeugungen immer offensiver zu vertreten, bis das eigene Lager plötzlich schambehaftet feststellt, wen es da eigentlich in seiner Mitte hat. Siehe auch Maaßen, Hans-Georg.
2) Das Ende des Dornröschenschlafs
Der Juli markierte den heißesten Monat seit Aufzeichnungsbeginn, während der Klimawandel rapide voranschreitet. Dennoch bleibt weltweit ausreichende Maßnahmen zur Bekämpfung aus, wie der Weltklimarat (IPCC) feststellt. Dieser Artikel argumentiert, dass in solchen Zeiten jedes klimaschädliche Gesetz unter dem Rechtfertigungsdruck des Grundgesetzes steht. Artikel 20a des Grundgesetzes verpflichtet Deutschland, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und Verantwortung für künftige Generationen zu übernehmen. Dies impliziert den Schutz des Klimas. Jedes klimaschädliche Gesetz steht unter Rechtfertigungsdruck, da es die geschützten Lebensgrundlagen gefährdet. Solche Gesetze sind verfassungswidrig, wenn sie nicht durch schwerwiegende Gründe oder Grundrechte gerechtfertigt sind. Dieser Ansatz erfordert die umfassende Überprüfung klimaschädlicher Gesetze im Lichte des Grundgesetzes. Das Grundgesetz verlangt Klimaschutz und erlaubt eine dynamische Interpretation, um auf veränderte Umstände zu reagieren. (Lando Kirchmair, Verfassungsblog)
Ich halte die Argumentation in diesem Artikel für kompletten Unsinn und ein weiteres hervorragendes Beispiel für den Trend, Politik zu entpolitisieren, indem man sie in den juristischen Raum verschiebt, über den Ariane und ich schon im Podcast gesprochen haben. Die Vorstellung, man könne aus Artikel 20a ein Tempolimit von 130 oder 100 Stundenkilometern ableiten, ist einfach absurd. Warum nicht ein komplettes Verbot von Autos? Schließlich ist mit derselben Klarheit, die Kirchmair dem höheren CO2-Ausstoß durch das Fehlen eines Tempolimits attestiert, zu belegen, das ist ein kompletter Verzicht auf PKW noch mehr CO2 einspart. Diese Entscheidungen sind keine Entscheidungen für Richter*innen, sondern für die gewählten Repräsentant*innen des Volkes. Der Versuch, die anstehenden gewaltigen politischen Konflikte einfach an die Gerichte zu delegieren kann nur in deren massiven Delegitimierung und einer Beschädigung der Demokratie enden. Ich sehe diese Interpretation des Artikels 20a ihr dafür als relevant, die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit der anstehenden Regelungen festzustellen.
3) Who controls your media consumption?
In einem Artikel der New York Times spricht Julia Angwin über die Probleme, die durch soziale Medienalgorithmen entstehen, die darüber entscheiden, was wir sehen. Sie betont die Machtfrage bei der Kontrolle dieser Algorithmen: Unternehmen profitieren von der Kontrolle über die öffentliche Diskussion, ohne Verpflichtung zum Gemeinwohl. Elon Musks Übernahme von Twitter und dessen politische Einflussnahme zeigt die Auswirkungen solcher Kontrolle. Der Autor widerspricht dem Gedanken, dass die Problematik der Medienauswahl heutzutage größer ist als vor 50 Jahren. Er argumentiert, dass es heute mehr Medienauswahl gibt, einschließlich sozialer Medien, Fernsehen, Radio, Podcasts, Blogs usw. Die eigentliche Herausforderung liegt nun darin, aus der Fülle an Quellen zu wählen. Wenn man unzufrieden mit dem ist, was Facebook zeigt, kann man zu anderen Plattformen wechseln. Der Artikel fordert zur aktiven Wahl von Medienquellen auf, anstatt die Verantwortung den Algorithmen zu überlassen. (Kevin Drum, Jabberwocky)
Es ist immer wieder gut, Gegenpunkte zu allzu großem Kulturpessimismus lesen zu können. Denn tatsächlich ist richtig, dass die mediale Pluralität trotz der ständigen Meckereien von rechts (linksgrün versiffte ÖRR) wie links (Meinungsmache durch Milliardär*innen) heute größer ist als je zuvor. Das bedeutet aber in meinen Augen nicht, dass zentrale Akteure wie Musk oder Zuckerberg nicht dennoch wesentlich zu viel Macht hätten und ein Problem darstellten. Denn Drums Behauptung, und man könne einfach die Plattform wechseln, ist schlichtweg falsch. So besteht etwa immer noch keinerlei Alternative zu Twitter. Wir haben extrem viel Auswahl bei den einzelnen Anbietern, nicht aber bei den Plattformen.
4) AfD und Grüne: Zwei Gesellschaftsmodelle stehen sich unversöhnlich gegenüber
Die neuesten Ergebnisse der Forsa-Umfrage des Beamtenbundes zeigen einen alarmierenden Vertrauensverlust in den deutschen Staat. Insbesondere die Anhänger der Grünen und der AfD stehen sich in ihren Ansichten unversöhnlich gegenüber. Grünen-Wähler glauben zu 52 Prozent, dass der Staat seine Aufgaben problemlos erfüllen kann, während nur 6 Prozent der AfD-Anhänger diesem Glauben schenken. 93 Prozent der AfD-Anhänger sehen den Staat als überfordert an. Ähnliche Unterschiede zeigen sich in der Beurteilung der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und der Kostenbelastung für die Bürger. Die Forsa-Umfrage spiegelt den anhaltenden gesellschaftlichen Konflikt wider, der sich vor allem zwischen den extremen Positionen der Grünen und der AfD manifestiert. Andere Parteien suchen ihre Rolle zwischen diesen Polen. Studien der letzten Jahre bestätigen diesen Trend der gesellschaftlichen Spaltung. (Björn Harms, NIUS)
Dieser Artikel ist paradigmatisch für die Argumentationsweise des rechten Spektrums. Wir kennen sie von 2015 und 2016 aus den USA. Aus der scheinbaren Polarisierung, die eine binäre Zuspitzung suggeriert, wird zuerst eine Äquivalenz hergestellt: auf der einen Seite die rechtsradikale AfD, auf der anderen Seite die implizit als gleichermaßen radikal und abseitig geframten Grünen. Das erzeugt einen scheinbaren Zwang, sich für eine dieser beiden Seiten zu entscheiden und bereitete letztlich die Legitimation der Entscheidung für die AfD vor. Genau dasselbe passierte damals mit Trump: monatelang wurde eine Äquivalenz zwischen ihm und Hillary Clinton konstruiert, die ist in Millionen von Amerikaner*innen möglich machte, ihn als das kleinere Übel zu wählen. Wer will es ihnen auch verübeln? Wenn die einzige Auswahl zwischen zwei gleichermaßen extremen Positionen besteht, dann entscheidet man sich selbstverständlich für die weniger schlimme. Das ist die Kraft der negative partisanship. Nur war es in den USA Quatsch und ist es im pluralistischen und multipolaren deutschen Parteiensystem noch viel mehr. Wie immer versucht NIUS hier, den Diskurs nach rechts zu verschieben.
5) Wer sich stark um sein Kind kümmert, soll weniger zahlen
Bundesjustizminister Marco Buschmann plant eine Reform des deutschen Unterhaltsrechts, um Elternteile, die sich aktiv um ihre Kinder kümmern, finanziell zu entlasten. In vielen Trennungsfamilien beteiligen sich beide Elternteile an der Kinderbetreuung. Die Reform soll sicherstellen, dass die finanzielle Belastung fair aufgeteilt wird. Ein konkreter Gesetzesentwurf wird in Kürze erwartet. Buschmann betont, dass die geplante Änderung nicht zu Lasten der Hauptbetreuungselternteile geht. Die Reform soll vielmehr Anreize für Väter schaffen, sich stärker in die Kinderbetreuung einzubringen, was wiederum den Müttern ermöglichen könnte, mehr beruflich aktiv zu sein. Der Minister betont, dass das Kindeswohl oberste Priorität hat und die Unterhaltsansprüche der Kinder unverändert bleiben werden. Die Reform war bereits im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP vereinbart worden. Die Änderungen im Unterhaltsrecht sollen Betreuungsanteile vor und nach der Scheidung besser berücksichtigen, ohne das Existenzminimum der Kinder zu gefährden. (Spiegel)
Ich erwarte von dieser Reform eine Schlechterstellung der Frauen, geht den größeren Teil der Versorgung der gemeinsamen Kinder aus einer geschiedenen Ehe übernehmen - also des absoluten Großteils. Die starke Kritik am Einfluss der Männerrechtler auf den Gesetzentwurf, die in den letzten Tagen immer wieder zu lesen war, scheint da durchaus zuzutreffen: deren Ziel war schon immer, die Unterhaltsverpflichtungen von Männern nach Scheidungen zu reduzieren. Das heißt nicht, dass die Stoßrichtung des Gesetzes grundsätzlich falsch sein muss: das Unterhaltsrecht ist in Deutschland notorisch schlecht geregelt und bedarf dringend einer Überarbeitung. Ich bin allerdings skeptisch, ob dieser Entwurf der Weisheit letzter Schluss ist.
Was ich spannend finde ist, wie explizit von "Vätern", die Unterhalt zahlen, und "Müttern", die sich hauptsächlich um die Kinder kümmern, gesprochen wird. Das systemische Problem der gegenderten Verantwortung für Care-Arbeit ist der nicht angesprochene Elefant im Raum.
Resterampe
a) Ich checke solche Artikel einfach nicht. Dabei ist die Strategie dahinter angesichts solcher Dinge doch völlig offensichtlich.
b) Gedankenspiele zu einem möglichen Parteiverbot der Thüringer AfD. Ich finde besonders den Aspekt der Potentialität wichtig. Da hat das BVerfG mal wieder echt ein Ei gelegt.
c) Gute Gedanken zum Thema Koalitionsbruch.
d) Diese Flachpfeife gilt als wichtiger Journalist.
e) Zu der Thematik Linkspopulismus als Mittel gegen die AfD.
f) Noch ein US-Blick auf die AfD.
g) Guter Artikel zum rechten Kulturkampf.
h) Das ist das, warum ich eine Koalition zwischen Grünen und FDP weiterhin gut finde und wovon ich viel mehr sehen will.
i) Und da sag mal einer, die Deutsche Bahn sei ein Desaster.
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