Der Krieg in Bergkarabach dauerte rund sechs Wochen. Als am 10. November eine Waffenruhevereinbarung unterzeichnet wurde, schien die Sache klar – Aserbaidschan gewinnt, für Armenien ist es eine bittere Niederlage. Doch die Hintergründe und die Aussichten sind komplizierter, denn die wahren Gewinner sind Russland und die Türkei.

Zwischen dem 27. September und dem 10. November lieferten sich Armenien und Aserbaidschan die heftigsten Kämpfe seit dem Waffenstillstand von 1994. Der Umfang und die Intensität des Konfliktes lassen ihn vermutlich als den „Zweiten Karabach-Krieg“ in die Geschichte eingehen. Als am 10. November die Waffenruhevereinbarung unterzeichnet wurde, ging es aber ganz schnell. Praktisch innerhalb weniger Tage verlegte Russland seine Friedenstruppen in die Region. Der Krieg wurde beendet, das Töten hat ein Ende gefunden. Der „kaukasische Knoten“ als Problemfall der internationalen Beziehungen bleibt aber bestehen und bekommt mit der aktuellen Waffenruhevereinbarung das nächste geschichtliche Kapitel.

Die (paradoxen) Bedingungen der Waffenruhe

Die Waffenruhevereinbarung sieht vor, dass Aserbaidschan alle Gebiete behält, die es bis zum 10. November einnehmen konnte. Innerhalb einiger Wochen muss Armenien zudem weitere Bezirke von Bergkarabach an Baku übergeben.

Die selbst erklärte „Republik Arzach“ verliert damit den Großteil ihrer Gebiete. Aserbaidschan holt sich die Kontrolle über die meisten Territorien wieder.

Und doch kann man nicht von einer Totalniederlage Armeniens/Bergkarabachs bzw. einem Totalsieg Aserbaidschans reden.

Der Kern von Bergkarabach, samt Stepanakert - der Hauptstadt der Region, kommt nicht unter die aserbaidschanische Kontrolle. Die Region bleibt von Baku autonom, armenische Zivilisten können dort weiterhin ohne aserbaidschanische Bevormundung leben.

Zugleich muss aber auch Jerewan alle Militäreinheiten aus der Region abziehen. Stattdessen werden das Gebiet sowie der Lachin-Korridor ab nun unter die Kontrolle von russischen Friedenstruppen gestellt.

Es entsteht somit eine paradoxe Situation in Bergkarabach. Aserbaidschanische Soldaten (sowie Gesetze, Behörden und alles andere, was die Staatshoheit ausmacht) dürfen dort nicht rein, armenische Einheiten müssen aber raus. Stattdessen stehen dort nun russische Soldaten, die das Vakuum füllen.

Zwei Staaten sind die wahren Gewinner des Konfliktes: Russland…

Russland ist somit einer der beiden größten Gewinner des Konfliktes. Zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stehen russische Soldaten auf völkerrechtlich gesehen aserbaidschanischem Territorium. Noch vor wenigen Monaten wäre das undenkbar, doch nun ist es eine vökerrechtskonforme Realität.

Russland weitet seinen Einfluss in der Region somit erheblich aus und hat nun Militärpräsenzen in allen drei Ländern des Südkaukasus. Manche Konfliktbeobachter sprechen davon, dass Moskau wieder zur traditionellen „Ordnungsmacht im Südkaukasus“ aufgestiegen ist, die es während des Russischen Kaiserreiches und später während der Sowjetunion immer war.

Wenn der Konflikt um Bergkarabach zuvor doch eher eine bilaterale Sache zwischen Jerewan und Baku war, so geht jetzt dort ohne Moskau nichts mehr. Dieser Zustand wird mindestens fünf Jahre andauern, so lange geht nämlich die Waffenruhevereinbarung. Sie wird allerdings automatisch verlängert, wenn nicht eine der beiden Seiten dies aufkündigt.

Diese Ausweitung des russischen Einflusses hat insbesondere in Georgien zu äußerst beunruhigten Reaktionen geführt. Georgische Politexperten zeigten sich besorgt, dass russische Truppen nun auch südlich ihrer Grenzen stehen.

So erklärte Tengiz Pkhaladze, georgischer Experte für außenpolitische Angelegenheiten und Berater des ehemaligen Präsidenten für internationale Fragen, dass Russland „der Sieger des Krieges in Karabach“ ist.

Aserbaidschan habe zwar einen Teil der Gebiete erobert, aber Russland habe den größten Nutzen daraus gezogen und eine bedeutende neue Hebelwirkung erlangt.

„Tatsächlich kehrten russische Truppen nach Aserbaidschan zurück“, erklärte Pkhaladze.

Nun werde Armenien noch näher an Russland rücken müssen, um den endgültigen Verlust von Karabach zu verhindern, während Baku eigenmächtig russische Truppen auf sein Territorium eingeladen hat.

Insbesondere in Armenien könnten zudem kremlfreundlichere Kräfte an die Macht kommen, als der amtierende Premierminister und Kriegsverlierer Nikol Paschinjan es ist.

Für Georgien jedenfalls sei das Ganze ein Grund zur Sorge. „Georgien sollte nach diesem Konflikt über viele Dinge nachdenken“, sagte Pkhaladze.

„Die Stärkung der Position Russlands verpflichtet uns, unsere Beziehungen zu westlichen Partnern zu stärken, um uns mehr Sicherheit zu garantieren“, so die georgische Einschätzung der Lage.

…und die Türkei

Der zweite klare Gewinner des Konfliktes ist die Türkei, der engste Verbündete der öl- und gasreichen Ex-Sowjetrepublik Aserbaidschan. Die türkische Außenpolitik wurde in den letzten Jahren zunehmend expansiv und hat dazu geführt, dass Ankara sich in den Konflikten in Syrien, Irak, Libyen und nun auch in Karabach einmischte.

Vielfach nutzte die Türkei hierfür die Dienste verschiedener Söldnergruppierungen. Insbesondere in der syrischen Provinz Idlib werden nicht selten Islamisten angeworben und an die Front in türkischen Interessen gebracht.

Im Kaukasus hat Ankara nun eines seiner wichtigsten außenpolitischen Ziele erreicht – den Landzugang zum Kaspischen Meer. Die Waffenruhevereinbarung sieht nämlich auch die Errichtung eines Verkehrskorridors zwischen der Autonomen Republik Nachitschewan (einer aserbaidschanischen Exklave), die an die Türkei grenzt, und dem Rest-Aserbaidschan vor.

Ankara bekommt dadurch nicht nur einen direkten Verkehrsweg zu seinem Verbündeten Aserbaidschan, sondern auch ans Kaspische Meer. Dieses Ziel dürfte Ankara schon lange im Auge gehabt haben. Mit dem Zugang zum Kaspischen Meer kann die Türkei ihren Einfluss in Zentralasien am anderen Ufer des Meeres massiv ausweiten. Die Soft Power dazu hat die Türkei in der Region bereits, denn es hat sowohl den ethnischen als auch den religiösen Faktor auf ihrer Seite. Die Staaten Zentralasiens sind allesamt muslimische Turkvölker, die schon seit Längerem auf den „Großen Bruder Türkei“ schielen. Gerade in Russland gilt Zentralasien aber auch als „natürliches Einflussgebiet“.

In anderen Worten: russische und türkische Interessen könnten mittelfristig in Zentralasien gefährlich kollidieren. Möglicherweise so ähnlich, wie sie derzeit im syrischen Idlib kollidieren.

Wie es zwischen Moskau und Ankara weitergeht

Es ist kaum noch zu übersehen, dass die russisch-türkischen Beziehungen in der internationalen Politik zunehmend wichtiger werden.

In Syrien, Libyen und nun im Kaukasus waren es vor allem Moskau und Ankara, die auf dem Boden Fakten geschaffen und Einflussgrenzen gezogen haben. Der Westen konnte in den Konflikten nur zuschauen.

Zugleich sind die russisch-türkischen Beziehungen äußerst ambivalent.

Auf der einen Seite führen die Staaten zahlreiche gemeinsame Projekte, sei es die Pipeline Turkish Stream, die Lieferung der S-400 Abwehrsysteme, der Bau des türkischen Kernkraftwerks Akkuyu durch russische Spezialisten usw.

Auf der anderen Seite aber kollidieren ihre Interessen in Syrien, Libyen, Kaukasus und zukünftig vermutlich in Zentralasien. Auch wird in Moskau mit Sorge gesehen, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sich immer öfter als Vertreter und Beschützer aller Muslime in Europa inszeniert und die „muslimische Karte“ in seinen Interessen ausspielt, wie es im Falle der Mohammed-Karikaturen und der darauf folgenden türkisch-französischen Spannungen zu sehen war. Auf solche religiösen Machtspiele blickt Russland auch deshalb so genau, weil immerhin 20 Millionen russischer Staatsbürger (also rund 1/7 der Gesamtbevölkerung) Muslime sind. Interreligiöse und interethnische Spannungen braucht in diesem Vielvölkerstaat niemand. Dementsprechend gereizt reagiert Moskau, wenn sich Erdogan in der Rolle vom Vertreter aller europäischen Muslime darstellt.

Dies alles macht die Beziehungen zwischen Moskau und Ankara schwer voraussehbar. Ob der russisch-türkische Balanceakt zwischen Kooperation und kompromissbereiter Konkurrenz auch in der Zukunft gelingt, ist keineswegs sicher. Ein Unsicherheitsfaktor, der auch für den Westen zur Sorge werden könnte, wenn man bedenkt, dass die Türkei ein NATO-Staat ist – und zwar einer, der immer wieder aus der gemeinsamen NATO-Linie ausbricht.

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