Was SOS-Kinderdörfer mit der Katholischen Kirche, der Odenwaldschule, dem Canisius Kolleg Berlin, der Kinderpornographie, dem Missbrauchskomplex Münster und #meetoo gemein haben!

„Neben Kindesmissbrauch enthielt die Überprüfung auch Beweise für schwerwiegenden Missbrauch von Whistleblowern und SOS-Hauptpflegepersonen, die Missbrauch gemeldet hatten.“ („As well as child abuse, the review was provided with evidence of serious abuse of whistleblowers and SOS primary caregivers who reported abuse.)

Dies ist das zentrale Ergebnis in dem aktuell von der Kinderschutzorganisation Keeping Children Safe veröffentlichten Bericht „Independent Child Safeguarding Review Global Report“. Die mehrjährige Untersuchung wurde von SOS-Kinderdörfer selbst in Auftrag gegeben, nachdem weltweit Vorfälle körperlichen, sexuellen und emotionalen Missbrauchs in Einrichtungen der Organisation offenkundig wurden, nicht zuletzt 2014 durch ein Buch des Tiroler Historikers Horst Schreiber mit dem Titel „Dem Schweigen verpflichtet“.

Die festgestellten Zustände in den Kinderdörfern passen so gar nicht zu deren Leitbild: „Wir geben in Not geratenen Kindern eine Familie. Wir helfen ihnen, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Wir tragen zur Entwicklung ihrer Gemeinden bei.“ Vielmehr reihen sie sich ein in eine lange und langjährige Liste gewalttätiger und sexuell motivierter Straftaten in Institutionen, die sich in besonderer Weise dem Wohlergehen und der Zuwendung zu Menschen, insbesondere junger Menschen, verpflichtet fühlen und diese Ziele heroisch auf ihre Fahnen geschrieben haben. Institutionen, die scheinbar über jeden Zweifel erhaben scheinen und von einflussreichen Personen angeführt und geleitet werden.

Aktuell hat Kanadas Premierminister Justin Trudeau nach der Entdeckung von 751 Gräbern bei einem früheren Internat für indigene Kinder, das lange von der katholischen Kirche betrieben worden war, von dem Oberhaupt der Kirche, Papst Franziskus, zumindest eine angemessene Entschuldigung verlangt: „Gewalt und sexueller Missbrauch gehörten in den Schulen zur Tagesordnung.“

Es scheint so, dass gerade in ausgeprägt hierarchisierten und ideologisierten Institutionen sexuell motivierte kriminelle Energien und Gewalt gegen Schutzbefohlene unter dem Deckmantel gemeinnütziger Leitlinien und dem Schutz gutgläubiger gesellschaftlicher Anerkennung wohlfeil gedeihen. So sehen auch einige Experten beispielsweise die Struktur der SOS-Kinderdörfer als eigentliches Problem, wie der SPIEGEL aktuell berichtet: „Sie geben sich als Dorf aus, aber eigentlich sind es keine Dörfer. Es sind Institutionen. Und wir wissen, dass das Missbrauchsrisiko in Institutionen deutlich größer ist“, wird dort Kristen Cheney, Professorin am Institute for Social Studies in Den Haag, zitiert.

Verschärft wird die Lage „sexuell motivierter Kriminalität“ aufgrund steigender Fallzahlen im Bereich der Kinderpornographie, des Kindesmissbrauchs und des Cybergroomings, der gezielten Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht, indem nach und nach deren Vertrauen erschlichen wird. In diesem Deliktsfeld bestätigt sich die Erfahrung, dass in vielen Fällen die Täter im Umfeld der Opfer leben, oder sogar in der eigenen Familie: So hat der Wiesbadener Kurier schon 1998 in dem Beitrag „Der Kinderschänder wohnt oft nebenan“ über entsprechende Forschungen berichtet.

Es wird immer offensichtlicher, Gewalt und Sexualverbrechen sind dunkle Geschwister einer fehlgeleiteten Entwicklung der menschlichen Psyche, also der „Vermittlungsinstanz zwischen Umwelt und Individuum“. Denn auch wenn der Genuss der Handlungshoheit, also der Ausübung von Macht, sowie Planung und Verschleierung der Tathandlungen scheinbar im Vordergrund stehen, wird der Zusammenhang zwischen Aggression, Dominanz und Sexualverhalten mehrheitlich nicht mehr in Frage gestellt.

Dramatisch ist in diesem Kriminalitätsfeld die Situation der hilf- und wehrlosen Opfer. Sie sind fast durchgängig durch Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit, häusliche Gewalt und Zwangsprostitution, einem sich „chronisch-steigernden Trauma“ ausgeliefert. Gerade dieser Typus ist geeignet, dass Menschen eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln. Und eine Vergewaltigung birgt das größte Risiko eine PTBS zu entwickeln: In einer Reportage des Bayerischen Rundfunks über ehemalige Heimkinder aus Oberbayern berichten diese von demütigenden Sex-Ritualen, aber auch darüber, dass sie in den 60er und 70er Jahren an Externe - überwiegend Geistliche - zu sexuellen Diensten weiter gereicht worden seien. Es waren jahrelange Vergewaltigungen, klagt eines der Opfer an und ergänzt, dass der Begriff "Missbrauch" die Schwere der Taten geradezu verharmlost.

Die Auswirkungen der Traumata bei den Opfern sexueller Gewalt zeigt übereinstimmende Verhaltensstörungen. Die ehrenamtliche Notfallseelsorgerin und Fallmanagerin für Einsatzveteranen Anett Gothe berichtet über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse aus ihrer Praxis: Menschen mit einem komplexen Trauma haben Schwierigkeiten ihre Gefühle und Impulse zu regulieren. Sie tendieren bei Stress zur Überreaktion. Sie haben Probleme sich selbst zu beruhigen und handeln oft selbst-zerstörerisch, bis hin zum Suizid.

Häufig treten auch „dissoziative“ Symptome auf. Die Opfer können nicht darüber sprechen, was mit ihnen geschehen ist. Das Gedächtnis hat das Unfassbare nicht integriert. Es wird zwar ihr Leben weiterhin beeinflussen, aber es kann nicht in Worte gefasst werden. Ihr Gedächtnis ist im wahrsten Sinne zersplittert. Da diese Menschen nie gelernt haben sich zu schützen und zu wehren, werden sie immer wieder zu Opfern.

Tragisch ist ihre Selbstwahrnehmung: Sie denken, dass sie nicht liebenswert sind, dass sie unfähig und unerwünscht sind. Die Opfer machen sich selbst Vorwürfe, geben sich die Schuld. Sie glauben, dass niemand sie verstehen wird. Sie tragen ein großes Schamgefühl in sich. Nicht nur wegen dem, was ihnen angetan wurde, sondern weil sie denken, dass es ihnen angetan wurde, weil sie sind, wer sie sind. Andauernde Traumata beeinträchtigen nicht zuletzt auch den Körper. Häufig leiden diese Menschen an Somatisierung. Zudem verursacht die häufig beim öffentlich-werden von Übergriffen vorkommende Täter-Opfer-Umkehr (Schuldzuweisungen) einen weiteren schwerwiegenden Verlust des Vertrauens in die Umwelt.

Die Entmenschlichung durch die Täter:innen ist eine immer wieder berichtete Wahrnehmung der Opfer, wenn sie den Mut finden, ihren unsagbaren Leidensgeschichten entgegenzutreten und diese öffentlich zu machen. Exemplarisch sind hierfür die bereits genannten Aussagen über Vergewaltigungen von ehemaligen Heimkindern aus Oberbayern.

Einen nicht unerheblichen Beitrag dazu, dass gepeinigte Menschen zunehmend um ihre Anerkennung und Würde kämpfen, kann auch der #metoo-Bewegung zugeschrieben werden, trotz der auch kritischen Aspekte, die in diesem Zusammenhang zu beobachten sind.

Was haben alle diese schrecklichen Ereignisse gemeinsam? Es ist der Schrei der Opfer nach Anerkennung ihres Leids, sowie nach Hilfe und Rettung ihrer schwer verwundeten Seelen!

Eine Gesellschaft, die sich der offenkundigen Entwicklung sexualisierter Gewalt nicht mit allen Mitteln entgegenstemmt und der Bekämpfung dieses Kriminalitätsphänomen nicht die entsprechende Bedeutung zukommen lässt, läuft Gefahr ihre ethischen Grundsätze, sowie grundlegend geltenden Menschenrechte aufs Spiel zu setzen und für die Gemeinschaft lebensabträgliche Rückschritte hinnehmen zu müssen.

Schritt für Schritt wird diese Einsicht an wichtigen Schaltstellen der Gemeinschaft wahrgenommen: So wurde jetzt der 28-jährige Hauptangeklagte in Münster wegen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kinder in 29 Fällen zu einer vierzehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Für die Zeit danach wurde Sicherungsverwahrung wegen Wiederholungsgefahr angeordnet. Die anderen Täter wurden ebenfalls zu langjährigen Haftstrafen mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.