Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Was erlauben Sie sich eigentlich, Herr Kubicki?

In einem einstündigen Interview für Bild TV wetterte Kubicki vor wenigen Tagen allerdings gegen alles Mögliche. Er beleidigte Karl Lauterbach mit Worten, die man hier besser erst gar nicht wiederholt. Und prahlte damit, er habe die Corona-Regeln gebrochen, um in eine Kneipe zu gehen. Das erste ist eine Frage des Anstands und betrübt mich deshalb. Das zweite macht mich wirklich wütend. [...] Täglich fühlten wir Frustration, Verzweiflung und Einsamkeit. Ich überwinterte in einem 14 Quadratmeter kleinen Zimmer mit Nordfenster in einer Stadt, in der ich niemanden kannte. Und trotzdem will ich überhaupt nicht klagen. Es ging mir besser als vielen anderen. Etwa Menschen mit Depressionen. Oder Frauen, die zu Hause gewalttätige Partner fürchten mussten. Aber Wolfgang Kubicki saß frohgemut in seiner Stammkneipe. Und ist auch noch stolz darauf. Hätte man ihn erwischt, hätte er einfach die "Was weiß ich? 250 Euro Bußgeld?" gezahlt, erzählte er. Der Regelbruch sei ja nur sein "Recht auf autonomes Handeln" gewesen. Ein Politiker, der eigentlich Vorbild sein soll, entschied also im Alleingang: Die Maßnahmen finde ich unsinnig, also muss ich sie nicht befolgen. [...] Aber ich will dann doch erwähnen, dass ich nach 250 Euro Bußgeld für einen Barbesuch meine Miete nicht hätte zahlen können. [...] Im Verhalten von Millionen anderen Menschen und mir sieht Wolfgang Kubicki aber offenbar keinen Akt der Solidarität. Es waren für ihn wohl nur Handlungen von Menschen, die nicht "autonom" genug waren, um die Regeln zu brechen. So wie er es getan hat. Daraus spricht, ich muss das so deutlich formulieren, eine Verachtung gegenüber seinen Mitmenschen. [...] Es würde ihm wahrscheinlich guttun, sich eine ganz banale Sache zu merken. Eine demokratische Gesellschaft funktioniert nur, wenn es Regeln gibt. Und zwar Regeln, die für alle in gleichem Umfang gelten. (Titus Blome, T-Online)

Zugegebenermaßen ist dieser Sturm im Wasserglas schon eine Weile vorbei, aber ich kam aus verschiedenen Gründen länger nicht dazu, ein Vermischtes zu schreiben. Diese Episode verkörpert für mich das, was am Liberalismus der FDP schlecht ist: es ist eine Vulgärfreiheit, die sich durch ein reines "Ich will" abzeichnet, in der Regeln nur für andere gelten, aber nich für die eigene Person. Es ist Egoismus, getarnt als Liberalismus. Als kleines Nebendetail zu der Affäre noch: die Beleidigung Lauterbachs als "Spacken" kann man getrost als Fake News abhandeln. Das alte Problem mit Verkürzungen in Überschriften.

Ich halte mal die Augen offen nach Praxisbeispielen für das, was ich das Beste am Liberalismus finde, und beiden Gegenstücken für das progressive Lager. Wenn jemand über eines stolpert, gerne her damit. Schreibt mir ne Mail oder mentioned mich auf Twitter.

2) FDR Needed Two Global Crises to Reshape the Economy. Will Biden?

Like the pushback against FDR in his second term, the current centrist-Democrat revolt comes partly in response to the shifting winds of public opinion. Despite the near-universality of the child tax credit — one of its major selling points — a poll this summer showed that a majority don’t want to make it permanent. And though voters are generally favorable toward Biden’s plan overall, there is also support for Manchin’s heel-dragging. Similarly, voters worried that FDR’s New Deal was doing too much. But there’s one major difference between this Democratic revolt and the one against FDR. The latter came in the President’s second term, when the New Deal had already unleashed major transformations on the American economy, including Social Security, unemployment insurance, financial regulation, labor law and rural electrification. If Biden’s agenda is halted, it will be in his first term. A Covid relief bill and a bipartisan infrastructure package, while very welcome, will not yet add up to a major transformation of the economy. [...] Of course, there’s another important historical factor that made FDR’s policies so transformative — World War 2. Without the further economic transformation that FDR carried out in order to fight the war, his legacy would likely be more modest. Ultimately it took not one, but two world-shattering crises to force a conservative and cautious American populace to accept needed changes. Let’s hope it doesn’t take a war this time around. (Noah Smith, Bloomberg)

Es ist völlig korrekt darauf hinzuweisen, dass der New Deal eine Menge Zeit brauchte, um zu wirken - und einen Weltkrieg. Gerne unterschlagen wird übrigens auch Trumans Amtzeit, die essenziell in der Weiterentwicklung und Festigung der Ergebnisse war. Biden aber wird diese Zeit nicht haben. Er hat eine hauchdünne Mehrheit im Kongress, die beinahe sicher 2024 passè sein wird, und eine Opposition, die nicht einmal vor dem Staatsstreich zurückschreckt, um wieder an die Macht zu kommen.

3) Entspannt mit den Rechten plauschen

Nicht mal eine Stunde nach der Veröffentlichung des Wahlkampfspots wurde bekannt, dass am Wochenende in Idar-Oberstein ein 20-jähriger Student von einem Coronaleugner erschossen wurde, nachdem er diesen bei seinem Job an einer Tankstelle auf die Maskenpflicht hingewiesen hatte. Das konnte Laschet noch nicht wissen, als die Wahlwerbung online ging. Wohl aber musste er wissen, wer Thomas Brauner ist. [...] Über die Rolle Brauners ist mehrfach berichtet worden, nachdem sich Laschet bei der CDU-Wahlkampfkundgebung in Erfurt zum freundlichen Plausch mit Brauner bereit fand. Der Kanzlerkandidat wollte sich als souverän inszenieren, wohl auch in diesem Sinne hat die Szene Eingang in den Wahlkampfspot gefunden. Ex­per­t:in­nen wie die Buchautorin Heike Kleffner warnen schon seit langem vor „Hetze, die zum,Abschuss' freigibt“. Im Buch „Fehlender Mindestabstand“, das der Autor dieses Textes mitherausgegeben hat, beschrieb Kleffner im Frühjahr, dass die rechtsterroristischen Anschläge in Hanau, Halle und Istha bei Kassel, die Tätertypen und Beweggründe, exemplarisch sein könnten für zukünftige politisch motivierte Gewalttaten, legitimiert durch die Hetzkampagnen der Coronaleugner-Bewegung. Dass die Coronaprotestler vielerorts den Schulterschluss mit der rechtsextremen Szene suchen, ist dokumentiert. (Matthias Meisner, taz)

Merz stieß natürlich in dasselbe Horn. Mittlerweile ist die Wahl vorbei. Nach wie vor ist es schwierig zu sagen, welchen Effekt solche Eskapaden hatten (oder überhaupt einen). Gewann das Anbiedern an das rechtsradikale und querdenkende Milieu der CDU Stimmen? Verlor es ihr welche? Meine These wäre, dass das Ereignis an sich unbedeutend ist; es ist die Masse der Kommunikation, die einen Eindruck erschafft. Und mein Eindruck der letzten Jahre ist, dass die CDU ein Problem mit ihrer rechten Flanke hat. Von der verhaltenen Reaktion auf den Mord an Lübcke über die Relativierungen von rechtsextremer Gewalt im Osten zum weitgehenden Schweigen bezüglich dieses Mordes hilft die CDU eine Atmosphäre schaffen, in der Gewalt schleichend legitimiert wird - ähnlich wie in den 1970er Jahren, als die Linke in ihrem kollektiven Hirnfurz gegenüber den RAF-Vulgärrevolutionären ständig Gründe fand, warum die Gewalt zwar schon irgendwie schlecht, aber doch gegenüber den Schandtaten der anderen Seite auch irgendwie verständlich sei. Das ist fatal. Meine Hoffnung ist, dass größere Teile des Bürgertums das auch so sehen und angewidert ihr Kreuz woanders machten.

4) „Mangelnde Kompromiss­bereitschaft“ (Interview mit René Wilke)

Was sehen Sie in Ihrer Partei, die an einer Regierung teilhaben möchte?

Ganz ehrlich? Ich könnte es keiner anderen Partei empfehlen, mit meiner Partei nach der Bundestagswahl zu koalieren. Es gibt viel zu viele innere Gräben in der Partei – man ist sich für die konkrete Verantwortungsübernahme viel zu uneins – selbst in der einfacheren Rolle als Opposition. Das ist keine gute Basis für notwendige Verlässlichkeit.

Welche wäre denn eine?

Und da sind wir beim eigentlichen Punkt. Und der ist eine demokratische Haltungsfrage: Ich sehe mangelnde Kompromissbereitschaft. In einer Demokratie hat man natürlich eine politische Position. Aber man muss sich immer klarmachen, dass die eigene Sicht nur eine von vielen ist. Die andere Seite könnte auch recht haben.

Wirklich?

Man darf sich nicht so überhöhen. Niemand hat allein die Weisheit mit Löffeln gefressen. Man muss immer den Mut haben, die eigene Position in den kritischen, insbesondere auch selbstkritischen Diskurs zu geben. Bei uns gibt es noch viele, die sich im Besitz der reinen Lehre wähnen. Und das ist auch ein gesellschaftliches Problem. Es gibt ein zunehmendes Schwarz-Weiß-Denken. Wer eine andere Auffassung hat, ist heute sehr schnell ein Gegner oder Feind anstatt jemand mit einer anderen Auffassung, der ich womöglich sogar mit Neugierde begegnen könnte. (Jan Feddersen, taz)

Genau deswegen war ich mir von Anfang an sicher: es wird es kein R2G geben. Es gibt diese Vertrauensbasis zwischen SPD und Grünen, aber es gibt sie nicht zwischen der LINKEn und SPD oder Grünen. Die Reaktionen der LINKEn auf ihre Wahlniederlage, die ich gestern analysierte, zeigen auch deutlich, dass diese Skepsis gerechtfertigt war. Das Nicht-Ausschließen von R2G war von Anfang an eine Strategie Scholz' und Baerbocks, um ihre Verhandlungsmacht in dem Fall zu erhöhen, dass das Bündnis rechnerisch möglich sein könnte. Wie irgendjemand angesichts der offensichtlichen Präferenzen für Ampel und Jamaika in der Partei anderer Meinung sein konnte, bleibt mir völlig schleierhaft.

5) Vorsicht mit den Vorwürfen

Dass Sexismus und Misogynie in Politik und Öffentlichkeit nach wie vor existieren, ist im Wahlkampf mehr als deutlich geworden. Annalena Baerbock wurde zum Hassobjekt einer anonymen Internetmeute. Die Angriffe auf sie hatten – wie so oft bei Frauen in der Öffentlichkeit – häufig eine sexualisierte Komponente. Ihr Aussehen wurde herabgewürdigt, montierte Fotos mit ihrem Kopf auf einem nackten Körper als vermeintliche »Jugendsünde« verbreitet. [...] Dass Frauen von der Öffentlichkeit anders behandelt, anders wahrgenommen werden, wurde dann spätestens bei den TV-Triellen deutlich. Nach den Debatten wurde Baerbock stets als die »Sympathische« bewertet, aber nicht als die »Kompetente«. Und das, obwohl sie laut verschiedenen Faktenchecks inhaltlich eigentlich die wenigsten Fehler bei den Triellen machte. Auch das ist wohl kein Zufall. Studien zeigen, dass Frauen als weniger kompetent wahrgenommen werden, wenn sie energisch auftreten. Und dass Männer allein aufgrund ihres Aussehens häufig als fähiger eingeschätzt werden. [...] Aber es muss auch möglich sein, Politikerinnen für Fehler zu kritisieren, ohne dafür als sexistisch oder gar misogyn betitelt zu werden. [...] Wenn aber vornehmlich grüne Anhängerinnen und Anhänger Sexismusvorwürfe wie einen Rammbock vor sich hertragen, um jegliche Kritik aus dem Weg zu hauen, verhindert das nicht nur eine offene Debatte über Fehler in der Politik. Jene, die dann Sexismus so bereitwillig verurteilen, erschweren das Gespräch darüber – weil Ungleichbehandlung plötzlich nur noch wie ein Vorwand wirkt, um die eigenen Fehler zu kaschieren. Eine differenzierte Betrachtung, wo Kritik aufhört und Sexismus anfängt, fällt so persönlichen Betroffenheitsgefühlen zum Opfer. (Sophie Garbe, SpiegelOnline)

Wie bereits geschrieben: Man muss zwei Dinge grundlegend unterscheiden. Erstens: Ist Anna-Lena Baerbock Opfer von Sexismus? Selbstverständlich. Zweitens: Sind ihre Umfragewerte und die ihrer Partei maßgeblich darauf zurückzuführen? Nein. Die gleiche Dynamik hatten wir bei Hillary Clinton 2016. Auch sie war klar Opfer massiver Frauenfeindlichkeit, aber das war nicht der Grund, dass sie verloren hat. Das macht es aber nicht weniger real.

Und natürlich ist es wichtig, dass man den Vorwurf nicht unreflektiert durch die Gegend wirft, um Angriffe abzublocken. Das ist ein schwierig zu bewandernder Grat: auf den Sexismus aufmerksam zu machen, dem die eigene Kandidatin ausgesetzt ist, ohne zu sagen, dass man deswegen verliert. Letzteres muss für die Grünen eine große Versuchung darstellen. Aber das macht es nicht richtiger.

6) Democrats are governing like Republicans

Democrats find themselves in a position similar to Republicans in recent years: Their majorities are small by historical standards, but more ideologically homogeneous than before. They have a faction that is so intent on ensuring purity that they are willing to sink legislation, assuming the Congressional Progressive Caucus is truly willing to use its leverage in a Freedom Caucus-like manner. And because majorities are so small, the moderates remain a faction that can disrupt all the carefully laid plans (even if they normally cave). The political conditions facing Nancy Pelosi are not all that dissimilar from those of John Boehner, the man who tearfully handed her the gavel the first time she became speaker. Time will tell whether Democrats have more to show for their majorities in the end. (W. James Antle III., The Week)

Ich halte den Vergleich für überzogen. Ja, die Parteilinke ist wesentlich stärker als zuvor - the Freedom Caucus, it is not. Aber die grundsätzliche Dynamik, die Antle hier beschreibt, ist natürlich korrekt. Wegen der hauchdünnen Mehrheiten Bidens (siehe Fundstück 2) besitzt JEDE Parteigruppierung eine große Blockademacht. Der Vergleich mit dem Freedom Caucus wäre aber wenn eher für die Zentristen in der Partei zutreffend: diese drohen aus ein ideologischen Gründen, alles platzen zu lassen und gefährden die Stabilität. Allerdings ist auch hier anzunehmen, dass sich das einvernehmlich regeln wird und nicht zu Boehner-kompatiblen Desastern führen wird.

7) Democrats are committing political suicide

Still, it is morbidly fascinating to watch a political party implode in real time. In the summer of 2017, congressional Republicans tried repeatedly to overturn the Affordable Care Act even as their poll numbers tanked. At the time, 55 percent of Americans supported the ACA, which gained support as President Trump, already deeply unpopular, vowed to destroy it. When a handful of Senate moderates, including Susan Collins (R-Maine), John McCain (R-Ariz.), and Lisa Murkowski (R-Ark.) put the kibosh on the ill-considered push to take health care away from millions of people, they were preventing their comrades from making a colossal misstep that would have all but ensured midterm losses in both the House and Senate. There is no such silver lining here for Democrats. The party's dueling left and right flanks are standing in the way of good legislation, which is supported by public supermajorities. [...] Manchin wants to hit the "strategic pause" button on his party's agenda, but it is not clear what he would want to focus on instead, or what anyone on Team Blue could possibly do or say to spur him to action on anything at all. [...] Manchin and Sinema bear a disproportionate share of the blame for how Democrats got here in the first place. Their delusional fealty to the Senate's filibuster rule, which requires 60 votes to pass legislation outside of the reconciliation process, is why Biden hasn't already racked up a long series of what his predecessor liked to call "wins." [...] Time is running out to change public perception of this do-nothing Congress, and Democrats will have no one to blame but themselves if they fail. (David Faris, The Week)

Inzwischen sieht die Lage wieder wesentlich besser aus - Nancy Pelosi zeigte einmal mehr ihre Qualitäten als Parlamentarierin und schmiedete einen Kompromiss - aber so kurz vor einem legisaltiven Desaster war die Partei schon lange nicht mehr. Das passt auch generell ins Bild des Endes der Flitterwochen für die Democrats: Die miese Entwicklung von Bidens approval rating ist da ebenfalls ein guter Indikator. Die Partei muss schwer aufpassen, dass sie nicht komplett kentert; bedenkliche Schlagseite hat sie bereits.

8) Wie weit darf Wut gehen?

Die Emissionen der Autoindustrie gefährdeten Eigentum, Leib und Leben in Deutschland. Der Staat als Polizist versage in seiner Aufgabe. Also dürfe man sich wehren. "Es ist nicht die symbolische Zerstörung einiger Autos, die die enthemmte Gewalt darstellt. Die enthemmte Gewalt ist es, dass wir das Klima zum Kippen bringen. Die Deutschen verhalten sich wie Ökovandalen, die weltweit verbrannte Erde hinterlassen." Seine Inhalte, sein Ton, sein Auftreten – im sonst wohltemperierten München stehend, wirkt Müller wie ein wild loderndes Feuer, und ich merke, wie verführerisch seine Argumente auch klingen, wie da ein Funken überspringen könnte.  [...] Der Humanökologe Andreas Malm von der Universität Lund hat damit der Wut kürzlich ein Manifest geschrieben, das einige Aufmerksamkeit bekommen hat. Seine These: Martin Luther King, Mahatma Gandhi und andere – sie alle seien auch deshalb erfolgreich gewesen, weil es gewaltbereite Akteure an ihrer Seite gab. "Theorie der radikalen Flanke" nennt er das.  [...] Wo doch so verdammt viel in Gefahr ist: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen aufgrund der Klimakrise nicht nur das Aussterben von 95 Prozent aller anderen Arten voraus, sondern auch Hungersnöte, Kriege und letztlich den Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation. Malms Argumente arbeiten in mir: Man müsse auch mal Dinge kaputtmachen, um etwas zu bewahren – ich spüre ein inneres Kopfnicken.  [...] Die Klimakrise eskaliert. Schon jetzt. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie weiter eskalieren wird, dass die Entscheiderinnen und Entscheider aus Politik und Wirtschaft sie weiter eskalieren lassen. Und deshalb ist es nicht meine Wut, die falsch ist, im Gegenteil: Um den Wandel einzuleiten, wird es noch viel mehr davon brauchen. Doch wenn wir in zehn, zwanzig, dreißig Jahren auf diese Tage zurückblicken werden und die Sache gut ausgegangen ist, dann werden die zentralen Akteure wohl keinen Baseballschläger in der Hand gehalten haben, sondern eher – metaphorisch oder tatsächlich – die Hand einer anderen Person, die ebenfalls die Erde bewahren will. (Raphael Thelen, ZEIT)

Ich kann die von Thelen ausgedrückten Gefühle völlig nachvollziehen. Eine ähnliche Wut verspüre ich auch. Nur lande ich bei der gleichen Schlussfolgerung: Gewalt kann keinesfalls legitim sein. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber (siehe Fundstück 3) das ist es leider nicht. Man muss nur zu den Vollidioten von Extinction Rebellion und wie sie alle heißen schauen, um das zu sehen. Die Thematik des Artikels erinnert mich an Kim Stanley Robinsons "Ministry of the Future" (Besprechung hier), der hier reichlich ambivalent blieb. Ich befürchte, dass Ökoterrorismus etwas ist, das uns in Zukunft noch mehr beschäftigen wird.

9) The unimportance of Trump's incompetence

The most talked-about essay of the past week is undoubtedly Robert Kagan's "Our constitutional crisis is already here" in The Washington Post, a long, gripping examination of the very serious danger that Donald Trump poses to American democracy as the country approaches the 2024 presidential election. But that doesn't mean everyone is convinced. Ross Douthat of The New York Times finds the argument unpersuasive because Kagan (like, Douthat thinks, most liberal Trump worriers) fails to take into account Trump's incompetence. What we learned from Trump's time in the White House, according to Douthat, is that he had barely any idea how government functions or how to get it to do his bidding even on ordinary issues of policy, let alone in launching a successful coup. Hence Douthat concludes that anyone who insists that "Trump is personally going to organize his way to a constitutional crisis without any of the powers he enjoyed in 2020 needs to deal with the reality of how incompetently he used all those powers from '16 to '20." [...] The outcome won't be worse because Trump is some kind of genius at controlling the institutions of American democracy, which would of course be much more difficult for him to do from the outside looking in than it was with him fuming in the Oval Office last winter. The outcome will be worse because of the one political talent Trump does possess, which is the demagogic manipulation of public opinion — precisely the same skill he wielded in 2016, first to take over the GOP and then to win his narrow victory over Hillary Clinton. It is this skill that has persuaded two thirds of Republicans that the 2020 election was stolen. It's this skill that has inspired a series of Republican-dominated states to replace election officials with Trump loyalists. And it's this skill that keeps most Republicans in Congress from speaking out against Trump's civically corrosive lies. (Damon Linker, The Week)

Ich bin völlig bei Linker. Es ist nicht eben beruhigend, dass der Staatsstreich und/oder die außenpolitische Katastrophe vor allem deswegen ausblieben, weil Trump zu blöd war - oder zu feige - den Abzug zu ziehen. Die eigentliche Gefahr ist nicht eine einzelne Person. Die Konzentration auf Trump ist geradezu obsessiv. Er ist nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem ist eine Partei, die bereit ist, die Demokratie aufzugeben - ob für einen Hobbyautokraten wie Trump oder für eine*n seiner Nachfolger*innen ist dabei sehr sekundär.

10) Why Denmark beat COVID and the U.S. didn't

Denmark is beating COVID. The Danish government recently announced the virus is no longer a "critical threat" there, and lifted its vaccination and mask requirements for indoor activities. Denmark's death toll per million citizens over the course of the pandemic is just 22 percent of the U.S.'s, and daily deaths there have fallen to under 10. Our deaths are again running at more than 2,000 a day. Why the huge difference? Trust. A survey by researchers Michael Bang Petersen and Alexander Bor found that more than 90 percent of Danes trust their national health authorities and public decision makers, The Washington Post reported this week. As a result, 86 percent of eligible Danes have been vaccinated. In the U.S., trust in expertise, government, the media, and institutions has collapsed. Vaccinations are lagging below 50 percent in many states, and we may add another 100,000 deaths this fall and winter to our grim total of 675,000. The pandemic still casts a deep shadow over our lives. A society cannot function without a basic level of trust. [...] Meanwhile, in Denmark, crowds are flocking to concerts and bars to celebrate their freedom. Divided, we fall. (William Falk, The Week)

Den Artikel könnte man so auch über Deutschland schreiben. Das Vertrauen in die Wissenschaft einerseits und die staatlichen Maßnahmen andererseits korreliert viel zu auffällig mit den Infektionsraten, als dass man das beiseitewischen könnte. Gleiches gilt übrigens auch für Asien, wo die Raten von Maskenverweigernden, Coronaleugnenden und Impfgegner*innen wesentlich geringer sind als hierzulande.

Das soll im Übrigen nicht heißen, dass Deutschland eine Vollkatastrophe wäre; wir sind insgesamt vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Es ist nur Luft nach oben.

11) The Experts Somehow Overlooked Authoritarians on the Left

An ambitious new study on the subject by the Emory University researcher Thomas H. Costello and five colleagues should settle the question. It proposes a rigorous new measure of antidemocratic attitudes on the left. And, by drawing on a survey of 7,258 adults, Costello’s team firmly establishes that such attitudes exist on both sides of the American electorate. (One co-author on the paper, I should note, was Costello’s adviser, the late Scott Lilienfeld—with whom I wrote a 2013 book and numerous articles.) Intriguingly, the researchers found some common traits between left-wing and right-wing authoritarians, including a “preference for social uniformity, prejudice towards different others, willingness to wield group authority to coerce behavior, cognitive rigidity, aggression and punitiveness towards perceived enemies, outsized concern for hierarchy, and moral absolutism.” [...] But one reason left-wing authoritarianism barely shows up in social-psychology research is that most academic experts in the field are based at institutions where prevailing attitudes are far to the left of society as a whole. Scholars who personally support the left’s social vision—such as redistributing income, countering racism, and more—may simply be slow to identify authoritarianism among people with similar goals. (Sally Satel, The Atlantic)

Sicherlich spielt der Aspekt des langsamen Identifizierens eigener Übeltäter*innen eine große Rolle, aber der zentrale Punkt ist meines Erachtens nach ein anderer: Das Verhalten der Parteien selbst. Solange seitens der Parteien oberhalb des Ortsvereins unmissverständlich klar ist, dass es keine Toleranz gegenüber diesen ideologischen Ausreißern gibt, ist es weitgehend irrelevant, ob Autokratie-Fans in der eigenen Partei sind, ob links oder rechts. Ich mache mir zum Beispiel wenig Sorgen über einzelne autokratie-affine Mitglieder der CDU, solange die Partei deutlich macht, dass sie das nicht duldet (und genau das hat mir bei Maaßen gefehlt). Aber insgesamt ist ziemlich klar, dass Autoritäre in der CDU keine echte Chance haben - eine Gewissheit, die man bei der ÖVP beileibe nicht haben kann.

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